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Vom Krieg in die Krise

Die geografische Verlagerung der Produktion nach Nordamerika und Australien durch die Übernahme zahlreicher Milchunternehmen sowie die grossen Waren- und Rohstoffvorräte sicherten der Nestlé & Anglo-Swiss während des Ersten Weltkriegs genügend grosse Kondensmilchmengen, um ihre Vormachtstellung in Europa und den Kolonien in Afrika und Asien zu behaupten. Zwischen 1916 und 1920 konnte Nestlé die Produktionskapazitäten fast verdoppeln.231

Auch in der unmittelbaren Nachkriegszeit nahm die Nachfrage nach Kondensmilch weiter zu, obschon mit dem Waffenstillstand von 1918 die Armeeaufträge ausblieben. Dies liess bei Nestlé die Hoffnung auf eine langfristige Zunahme des Kondensmilchkonsums keimen. 1919 wurde daher eine neue Verkaufszentrale in Paris gegründet, die als Pendant zur Londoner Exportzentrale nach Übersee die Überwachung aller kontinentalen Märkte zum Ziel hatte. Zudem wurde die auf Expansion ausgelegte Geschäftspolitik in Europa und Nordamerika weitergeführt. Die Unternehmensführung war sich dabei der Risiken einer temporären Überproduktion zwar bewusst, der Wachstumskurs blieb jedoch unbestritten, denn nur so glaubte das Unternehmen seine hegemoniale Stellung gegenüber der Konkurrenz verteidigen zu können.232 Den enormen Kapitalbedarf von über 150 Millionen Schweizer Franken für die Firmenübernahmen in den Vereinigten Staaten und Australien beschaffte sich das Unternehmen durch eine Aufstockung des Aktienkapitals von 60 Millionen Schweizer Franken auf 205 Millionen Schweizer Franken und zusätzlichen Obligationenanleihen von 45 Millionen Schweizer Franken.

Gleichzeitig erholte sich die Milchwirtschaft in weiten Teilen Europas jedoch von der kriegsbedingten Krise und begann nun gewaltige Milchmengen zu erzeugen. Dies traf insbesondere in den Niederlanden zu, wo während des Ersten Weltkriegs grosse Flächen Ackerland in Weideland umgewandelt worden waren. Die Abnahmeverträge mit den Bauern zwangen die Nestlé & Anglo-Swiss nun, weiterhin deren gesamte Milchproduktion zu kaufen, wodurch die Waren- und Rohstofflager überproportional zum Umsatz wuchsen. Nestlé sah sich dadurch plötzlich mit einer Überproduktion konfrontiert.

Die gewaltige Ausweitung der Produktionskapazitäten und die steigenden Waren- und Rohstofflager, die während des Kriegs die Versorgungssicherheit garantiert hatten, führten 1920 zu einem äusserst labilen Finanzgleichgewicht. Den Guthaben und Besitzbeständen, die zu einem grossen Teil in Beteiligungen an US-Fabriken (110 Millionen Schweizer Franken) und Warenvorräten (220 Millionen Schweizer Franken) fixiert waren, standen Schulden und Obligationsanleihen in Wert von 377 Millionen Schweizer Franken gegenüber.

Währenddessen mehrten sich die Anzeichen, dass die Nachfrage nach Dauermilch empfindlich abnehmen würde: Zum einen begann der Grossteil der Bevölkerung, der während des Kriegs Kondensmilch oder Milchpulver konsumiert hatte, wieder Frischmilch zu trinken. Einzig in den europäischen Grossstädten und Industriegebieten, wo die Frischmilch von schlechter Qualität war, blieb die hohe Nachfrage nach Kondensmilch aufrecht. Zum andern wies die aus Amerika importierte Kondensmilch teilweise qualitative Mängel auf, was das Industrieprodukt in Europa bald in einem schlechten Licht erscheinen liess. Weitere Kunden verlor Nestlé 1921, als die steigende Inflation in Europa zu einer Aufwertung des US-Dollars führte und die in Amerika hergestellte Kondensmilch des Unternehmens gegenüber der europäischen Konkurrenz eine zusätzliche Verteuerung erfuhr.233

Angesichts der zunehmenden Arbeitslosigkeit und der sinkenden Kaufkraft der Bevölkerung begannen zahlreiche Konkurrenten in Grossbritannien gleichzeitig ihre Dauermilchprodukte in grossen Mengen abzustossen und verschärften dadurch das Überangebot auf dem Markt.234 Innerhalb von zwei Jahren halbierte sich dadurch der Umsatz von Nestlé auf den Britischen Inseln.235 Das Unternehmen blieb auf seiner amerikanischen Kondensmilch und den Vorräten an Rohmaterialien sitzen, die es 1920 teuer eingekauft hatte und die nun aufgrund der sinkenden Rohstoffpreise einen starken Wertverlust erfuhren. Diese Ereignisse hatten für Nestlé schliesslich verheerende Folgen und führten 1921 zu einem Verlust in der Grössenordnung von 100 Millionen Schweizer Franken.

Als der Verwaltungsrat im November 1921 die Öffentlichkeit erstmals über die beträchtlichen Verluste des Unternehmens unterrichtete, kam es an der Börse zu panikartigen Verkäufen der Nestlé-Aktien. Während diese im Januar 1920 noch für 1020 Schweizer Franken gehandelt worden war, betrug ihr Wert zwei Jahre später nur noch 145 Schweizer Franken. Dadurch rutschte das Unternehmen endgültig in die Krise: Da die finanziellen Ressourcen der Nestlé & Anglo-Swiss zu einem grossen Teil durch die Firmenübernahmen und die gewaltigen Rohstoffvorräte gebunden waren, geriet die Liquidität des Unternehmens in Gefahr, zumal während des Kriegs bereits alle Möglichkeiten zur Aufnahme von Krediten ausgeschöpft worden waren. Hatte das Schweizer Unternehmen zwischen 1916 und 1921 die Produktion ungeachtet der Kosten bis an die äussersten Grenzen forciert, galt es nun, die enormen Überkapazitäten an Kondensmilch und die erdrückende Schuldenlast so rasch als möglich abzubauen.

Um operative Verluste durch Überproduktion zu vermeiden, hatte Nestlé bereits frühzeitig die Fabrikation gedrosselt und 1921 mehrere Produktionsanlagen in Australien, Norwegen, Grossbritannien, der Schweiz und den Vereinigten Staaten als vorübergehende Sofortmassnahme geschlossen.236 In den Vereinigten Staaten verfügte die Nestlé & Anglo-Swiss über Produktionskapazitäten von mehr als zehn Millionen Kisten, von denen 1922 aber nur etwa ein Drittel ausgelastet werden konnten. 20 der 48 neu gekauften Fabriken standen still oder verkauften die angelieferte Frischmilch direkt weiter und waren dadurch praktisch wertlos.

Im Hinblick auf die Zukunft war die Unternehmensleitung damals allerdings nicht bereit, die Fabriken in Nordamerika zu verkaufen und damit ihre Milcheinzugsgebiete preiszugeben. In Amerika fielen dadurch bei Nestlé wesentlich höhere Kosten an als bei der US-Konkurrenz, was die Buchhaltung des Unternehmens schwer belastete.237

Des Weiteren war nicht nur die Milchindustrie, sondern ebenso die Schokolade- und Instantkaffeeindustrie von der Nachkriegskrise schwer getroffen worden: Die Schokolade von Peter-Cailler-Kohler konnte Nestlé nur mit Verlusten verkaufen, und die Absatzzahlen von Milkmaid Café au lait erreichten mit 6500 Kisten nicht einmal mehr das Vorkriegsniveau.238Auch andere Schweizer Schokoladehersteller wie Suchard und Tobler kämpften in der Nachkriegszeit mit Überkapazitäten oder mussten Verluste ausweisen,239 während der abrupte Markteinbruch viele Hersteller von löslichem Kaffee in den Bankrott trieb. Einzig im angelsächsischen Raum scheinen Instantkaffee und Kaffee-Extrakte noch eine gewisse Nachfrage gefunden zu haben. Selbst dort verloren aber Marken wie G. Washington’s Coffee den grössten Teil ihrer Anhängerschaft nach dem Krieg wieder.240

Um den finanziellen Kollaps zu verhindern, musste die Nestlé & Anglo-Swiss Ende 1921 in London zusätzliches Kapital in Form von Prioritätsaktien aufnehmen und ein Jahr später das Aktienkapital der Stammaktien von 160 Millionen Schweizer Franken auf 80 Millionen Schweizer Franken halbieren, was zwischen den Aktionären und der Unternehmensspitze zu einem tiefen Misstrauen führte.241 Besonders in der Kritik standen der überdimensionierte Produktionsapparat und das bisherige Unternehmensprinzip, auf den Kondensmilchmärkten mit grossen Umsatzmengen und kleinen Gewinnmargen gute Ergebnisse erwirtschaften zu wollen. Dieses neige notwendigerweise zu konstanter Überproduktion. Insbesondere die Tatsache, dass die Nestlé-Führung das verlustreiche Geschäft in den Vereinigten Staaten und Australien nur reorganisierte und nicht abstiess, sorgte bei den Aktionären für Unverständnis:242 «Der fehlerhafte Riesenaufbau des Organismus [Nestlé-Konzern] muss mit innerer Notwendigkeit wieder zur krankhaften Erweiterung der Kapitalbasis führen – darüber hilft kein Moralisieren hinweg. Unsere Forderung für Abbau der wirtschaftlich durch nichts gerechtfertigten Weltorganisation, deren Existenzberechtigung einzig im Machtdünkel einzelner Persönlichkeiten gesucht werden darf, ist aus diesem Grunde berechtigt. Dulden die Aktionäre jetzt, solange sie noch das Heft in den Händen haben, dass die Reorganisation des Unternehmens verschleppt und verhindert wird, so müssen sie damit rechnen, dass nach einer neuen lügnerischen Scheinblüte mit raffinierter Ausnützung derselben zwecks Aktienkapitalerhöhung auch die jetzt belassenen zweihundert Franken per Aktie völlig verloren sein werden. Krankhafte Konstruktionen haben ihre innere Logik der Fäulnis»,243 lautete beispielsweise der Zeitungskommentar in der «Finanz Revue».

Die Situation der Nestlé & Anglo-Swiss im Dezember 1922 zeigte die Grenzen der bisherigen Strategie, mit Skalenerträgen die weltweiten Milchmärkte zu beherrschen, deutlich auf: Einerseits gelang es der Nestlé & Anglo-Swiss zwar, ein feinmaschiges Distributionsnetzwerk in Europa und seinen Kolonien aufzubauen. Andererseits krankte das Unternehmen – wie schon die Anglo-Swiss um 1900 – wiederum an den zu hohen Produktionskapazitäten in den Vereinigten Staaten, welche nach dem Zusammenbruch des kriegsbedingten Kondensmilch-Booms die Rentabilität des Unternehmens arg schmälerten. Die Grösse des Unternehmens erwies sich dabei nicht als Wettbewerbsvorteil, sondern als Hypothek für die Nestlé & Anglo-Swiss.

Dapples’ Strategie – Nestlé findet mit neuen Konzepten aus der Krise
Die Neuorientierung des Unternehmens unter Louis Dapples

In Anbetracht der drückenden finanziellen Probleme sah sich der Verwaltungsrat der Nestlé & Anglo-Swiss im Mai 1922 gezwungen, den Finanz- und Wirtschaftsexperten Louis Dapples als Krisenmanager beizuziehen. Dapples war in einer Schweizer Bankiersfamilie in Genua aufgewachsen und lange Zeit im internationalen Bankgeschäft tätig gewesen. Unter seiner Leitung wurde der angeschlagene Grosskonzern in den 1920er-Jahren reorganisiert und damit auf ein neues Fundament gesetzt.

Erstens wurde die bisher unvollständige Verschmelzung zwischen der Nestlé und der Anglo-Swiss mit der Zentralisierung der Unternehmensführung 1922 in London endgültig vollzogen. Die Bündelung der drei Hauptsitze in Cham, Vevey und London an einem Ort führte nicht nur zu einem schlankeren Verwaltungsapparat, sondern ermöglichte dem Unternehmen auch, wesentlich schneller Entscheidungen zu treffen. 1924 wurde die Leitung schliesslich von London nach Vevey verlegt. 1925 vollzog Nestlé den Schritt vom Familien- zum modernen Managerunternehmen, indem die Unternehmensführung erstmals Berufsmanagern anvertraut wurde. Zu den Persönlichkeiten, welche in die neue Direktion berufen wurden, gehörte unter anderem auch Eduard Müller, der 1937 zum Nachfolger von Louis Dapples ernannt werden sollte.244

Zweitens schreckte Dapples, dem nachgesagt wurde, er verfüge über eine eiserne Hand und eine stählerne Faust, auch vor harten Massnahmen nicht zurück, die bisher im Verwaltungsrat keine Mehrheit gefunden hatten: Das defizitäre Amerikageschäft245 wurde 1925 dem US-Unternehmen Borden zum Kauf angeboten. Borden war allerdings nicht bereit, den von Nestlé gewünschten Preis zu bezahlen, worauf Dapples die gesamte Produktion in Amerika reorganisierte, um die Verluste auf ein Minimum zu reduzieren.246 Zahlreiche Milchfabriken in den Vereinigten Staaten wurden daraufhin verkauft und Milchbetriebe in Australien, Grossbritannien und der Schweiz geschlossen. Zusammen mit erheblichen finanziellen Opfern der Aktionäre konnten dadurch bis im November 1925 alle ausstehenden Schulden des Unternehmens bei den Banken getilgt werden.247

Mit diesen Massnahmen brachte Dapples nicht nur kurzfristig die Finanzen wieder ins Lot, sondern beendete auch die bisherige Strategie der Nestlé & Anglo-Swiss, sich mit Grössenvorteilen eine Vormachtstellung auf den weltweiten Kondensmilchmärkten zu verschaffen. Stattdessen formulierte er 1923 neue strategische Ziele, welche das Schweizer Unternehmen bis heute prägen.

Wie im Folgenden gezeigt wird, umfassten diese neben einer Rationalisierung der Verwaltung und Produktion auch eine Rückkehr von einer Massen- zu einer Markenpolitik, eine Reorganisation der geografischen Unternehmensstruktur sowie die Entwicklung neuer Produkte.248 Ausserdem stellte die Krise von 1921 den Beginn einer äusserst vorsichtigen Finanzpolitik des Unternehmens dar, welche auch nach der finanziellen Genesung beibehalten und bis in die 1980er-Jahre fortgeführt wurde: Mit Gewinnausschüttungen an die Aktionäre wurde sehr vorsichtig umgegangen und die weitere Expansion des Unternehmens sowie Akquisitionen von anderen Unternehmen zu 100 Prozent aus eigenen Mitteln finanziert.249

Die Rückkehr zu starken Marken

In den 1920er-Jahren blieb die Situation auf den Kondensmilchmärkten angespannt. Zahlreiche Unternehmen kämpften mit Überkapazitäten und stiessen diese zu günstigen Konditionen ab. In diesem wettbewerbsintensiven Umfeld gewann die Vermarktung zunehmend an Bedeutung.250

Um die Profitabilität des Unternehmens auf dem Gebiet der Kondensmilch wieder herzustellen, zog Nestlé 1922 alle Kampfmarken aus dem englischen Markt zurück und konzentrierte seine gesamten Mittel auf die beiden Qualitätsmarken Milkmaid für gezuckerte und Ideal für ungezuckerte Kondensmilch.251 Dabei wurden die Preise von Nestlés Marken bewusst über denjenigen der Konkurrenz gehalten, um die erstklassige Qualität der Produkte herauszuheben.252 Im Gegensatz zur bisherigen Geschäftspolitik, deren Erfolg auf der Massenproduktion von Kondensmilch bei geringen Margen lag, baute Nestlé in Grossbritannien nun wieder bewusst die Qualitätsmarken Milkmaid und Ideal auf. Zudem wurde eine erste rudimentäre Marktforschung aufgezogen und der Vertrieb über firmeneigene Verkaufsgesellschaften, der sich in den europäischen Kolonien sehr bewährt hatte, auch in Europa vorangetrieben.253 Diese erlaubte es der Verkaufszentrale in Paris, erstmals erfolgreiche Werbekampagnen in andere europäische Länder zu übertragen, wobei Nestlé ihre Werbung stets den besonderen Verhältnissen in den jeweiligen Ländern anpasste.254 Die Reorganisation in den 1920er-Jahren kann daher als eine entscheidende Weichenstellung von einer quantitativen Mengen- zu einer qualitativen Markenorientierung gesehen werden. Ähnliche Tendenzen lassen sich auch bei anderen Schweizer Lebensmittelunternehmen wie Chocolat Tobler beobachten, wo die Werbeanstrengungen in den 1920er-Jahren auf einige Hauptmarken wie die Toblerone fokussiert wurden.255

Die neue Vermarktungsstrategie konnte allerdings nicht verhindern, dass Milkmaid und Ideal ab Mitte der 1920er-Jahre durch Billigmarken immer stärker unter Druck gerieten.256 Die Schweizer Dauermilch war von der Qualität her der Konkurrenz zwar überlegen. Bei der Kondensmilch-Herstellung liessen sich allerdings nicht grosse Qualitätsunterschiede erzielen,257 welche die Abwanderung einer wirtschaftlich gebeutelten Bevölkerung zu billigeren Marken verhindert hätten. Durch die Wirtschaftskrise in der Weimarer Republik und die Kohlearbeiterstreiks in Grossbritannien war die Kaufkraft der Arbeiterschaft in jenen Ländern dermassen gesunken, dass sie sich teure Markenprodukte wie Milkmaid nicht mehr leisten konnte.258 Schliesslich verlor Nestlé durch den Markteintritt von US-Unternehmen während der Weltwirtschaftskrise ihre bisherige Vormachtstellung im britischen Kondensmilchgeschäft. Die Marge der evaporierten Ideal-Milch sank dadurch so stark, dass sich in diesem Markt keine Gewinne mehr erzielen liessen. In Europa stellte sich mit Verzögerung also dieselbe Marktsituation wie in Nordamerika ein.259

Einzig in den europäischen Kolonien blieb Nestlés Kondensmilch profitabel.260 1925 war es Nestlé gelungen, mit Borden ein «Foreign Markets Agreement» abzuschliessen, welches dem US-Unternehmen verbot, ausserhalb der nordamerikanischen und europäischen Märkte Kondensmilch zu produzieren oder zu verkaufen. Eine spezielle Regelung galt für die sogenannten «Inselmärkte» Kuba, Panama, Philippinen, Hawaii, Guam und Puerto Rico, wo Nestlé das Recht hatte, sich für eine festgelegte Summe von minimal 150 000 US-Dollar das exklusive Verkaufsrecht bei Borden für ein Jahr zu erkaufen.261

Mit den Verträgen von 1925 konnte sich Nestlé weiterhin die Vorherrschaft auf den Kondensmilchmärkten in Afrika, Asien und Lateinamerika sichern. 1928 wurde aus der Schweiz fast ebenso viel Dosenmilch exportiert wie vor dem Ersten Weltkrieg, wobei über die Hälfte davon nach Südostasien (insbesondere Malaysia, Holländisch Indien und Indochina) geliefert wurde.262 In diesen Märkten hatte die Schweizer Dosenmilch dank ihrer Qualität grosses Ansehen erlangt und wurde vor allem von den dort ansässigen Europäern getrunken, während sich die ärmere Bevölkerung mit zweitklassiger australischer Milch begnügen musste. Da Nestlé ihre Milch von Australien her wesentlich günstiger anbieten konnte als andere Schweizer Unternehmen, gelang es ihr, diese in den südostasiatischen Märkten zurückzudrängen.263 Dadurch zählten die Exportmärkte in den Tropen Ende der 1920er-Jahre wieder zu den wichtigsten Absatzgebieten von Nestlés Kondensmilch.264

Nestlés geografische Reorganisation und Produktdiversifikation

In den 1920er-Jahren führten viele Länder, die vor dem Ersten Weltkrieg eng in den internationalen Handel einbezogen gewesen waren, Handelsbeschränkungen wie Schutzzölle, Importquoten und Einfuhrverbote ein.265 Durch den wachsenden Protektionismus sah sich die Nestlé & Anglo-Swiss gezwungen, ihre Produktionsstandorte zu dezentralisieren und weitere nationale Tochtergesellschaften zu gründen. Bis Ende der 1920er-Jahre baute oder erwarb Nestlé unter anderem in Abbiategrasso (Italien), Boué (Frankreich) und Kappeln (Deutschland) neue Fabriken und gründete in Frankreich, Belgien, Italien und Südafrika nationale Tochtergesellschaften, um die steigenden Zollschranken zu umgehen.266 Im Zuge der Weltwirtschaftskrise verstärkte sich die geografische Reorganisation ab 1929 zusätzlich. In zahlreichen Gebieten, die bisher nicht als Milchregionen galten, begann das Unternehmen neue Fabriken und Tochtergesellschaften zu errichten: 1930 in Argentinien und auf Kuba, 1933 in Chile und Japan und 1935 in Mexiko. Ende der 1930er-Jahre lag über ein Drittel von Nestlés Fabriken in den Ländern des Südens,267 während in Grossbritannien und der Schweiz – die bis zum Ersten Weltkrieg zu den bedeutendsten Produktionsstandorten des Unternehmens gezählt hatten – zahlreiche Milchsiedereien geschlossen wurden.268 Die Nestlé & Anglo-Swiss erhielt dadurch eine dezentrale Unternehmensstruktur mit über 20 Tochtergesellschaften,269 die quasi autonom funktionierten. Dieser Umstrukturierung wurde 1936 auch juristisch Rechnung getragen, indem das Unternehmen in eine Holding umgewandelt wurde.270


Darstellung 2: Die Dezentralisierung der Nestlé & Anglo-Swiss in der Zwischenkriegszeit. Während sich vor dem Ersten Weltkrieg die meisten Fabriken des Unternehmens in Europa befanden und die dort produzierte Kondensmilch über das weltweite Vertriebsnetz mit zahlreichen Vertretungen in Afrika, Asien und Lateinamerika an den Kunden gebracht wurde, nahm in der Zwischenkriegszeit die lokale Fabrikation der Nestlé-Produkte in den Entwicklungsländern zu, derweil die Zahl der Vertretungen in Europa durch die Gründung neuer Tochtergesellschaften stieg. Der internationale Warenaustausch nahm also durch die protektionistischen Tendenzen ab, die Internationalisierung der Nestlé & Anglo-Swiss dagegen weiter zu, indem national orientierte, weitgehend autonome Tochtergesellschaften gegründet wurden.

«Die Nestlé hat ihre grösste Expansion in einer Zeit des internationalen Protektionismus erlebt, der sie zur Errichtung neuer Fabriken in den abgeschirmten Ländern selbst zwang. In einem liberalen Handelssystem […] müssten viele gewählte Standorte der Milchkonservenfabriken als unzweckmässig gelten»,271 analysierte die Zeitung «Finanz und Wirtschaft» später die Entwicklung des Schweizer Unternehmens in der Zwischenkriegszeit. Weil zugleich die Nachfrage nach Kondensmilch stagnierte, sanken durch die politisch bedingte Reorganisation der Produktionsstandorte die Skalenerträge.272 Um die Produktion und Distribution trotzdem weiter zu rationalisieren,273 weitete Nestlé ihren Tätigkeitsbereich neben der Dosenmilch auf weitere Lebensmittel aus, um die Fixkosten auf mehrere Produkte verteilen zu können und auf diese Weise «Economies of Scope» zu erzielen.274

Ab 1927 erweiterte Nestlé ihre Produktpalette mit dem Vertrieb von Streichkäse der Gerber AG in Thun. Gegen Lizenzgebühren erhielt die Nestlé & Anglo-Swiss vom Berner Unternehmen das Recht, ihren Gerber-Schmelzkäse ausserhalb der Schweiz und der Vereinigten Staaten zu produzieren und zu vertreiben. Diese Zusammenarbeit bot sich an, da der Gerber AG das internationale Vertriebsnetz fehlte, um der steigenden Nachfrage nach Schmelzkäse im Ausland nachzukommen und sich gegen die stärker werdende Konkurrenz aus der Schweiz zu behaupten.275

Ein ähnliches Abkommen schloss Nestlé im gleichen Jahr ebenfalls mit der Schweizerischen Milchgesellschaft in Hochdorf, die aufgrund der steigenden Handelsschranken ihre Kondensmilch nicht mehr ins Ausland exportieren konnte.276 Ausserdem beteiligte sich Nestlé 1928 am Schokoladegeschäft der Sarotti AG in Berlin und begann ab 1929 mit der Hollandia Anglo-Dutch Milk and Food Company im niederländischen Vlaardingen zusammenzuarbeiten.277

Die verschiedenen Kooperationen ermöglichten der Nestlé & Anglo-Swiss eine Restrukturierung der Produktion und Distribution durch Wachstum ohne grosse finanzielle Risiken, bargen allerdings auch erhebliche Konfliktpotenziale: Die von der Hollandia hergestellte Kondensmilch entsprach nicht immer den Qualitätskriterien der Nestlé & Anglo-Swiss und konnte aufgrund ihrer Eigenständigkeit nur ungenügend von Nestlés Kontroll-Laboratorien untersucht werden.278 Ebenso gestaltete sich die Zusammenarbeit mit dem Schokoladeunternehmen Peter-Cailler-Kohler (PCK) immer schwieriger: Bereits während des Ersten Weltkriegs erwarb sich Nestlé vom Schweizer Schokoladeunternehmen das Exklusivrecht, seine Nestlé-Schokolade mit Ausnahme der Schweiz, Österreichs, Deutschlands und Nordamerikas in sämtlichen Ländern selber herstellen zu dürfen, weil PCK damals die von Nestlé benötigten Schokolademengen zur Sättigung der Marktnachfrage nicht bereitstellen konnte. In Ländern wie Australien begann Nestlé daraufhin eigene Schokoladefabriken aufzubauen.279 Ausserdem vertrieb die Lamont, Corliss & Co. ab 1925 ebenfalls die Nestlé-Milchschokolade, die sich in Nordamerika sofort grosser Beliebtheit erfreute.280 Ende der 1930er-Jahre stellten die Vereinigten Staaten klar den wichtigsten Absatzmarkt von Nestlés Schokolade dar.281

Durch Nestlés wachsenden Aktivismus im Schokoladegeschäft verschoben sich die Kräfteverhältnisse mit Peter-Cailler-Kohler: Verkauften Nestlé und PCK vor dem Ersten Weltkrieg noch etwa gleich viel Schokolade, vertrieb Nestlé 1928 bereits drei Viertel der gemeinsam bewirtschafteten Schokolade,282 wobei die Nestlé-Milchschokolade in den 1920er-Jahren zur beliebtesten der vier Marken aufstieg.283 Um weiter auf dem Schokolademarkt expandieren zu können und damit verbundene Unstimmigkeiten zwischen den beiden Parteien zu verhindern, war 1928 eine Klärung der Verhältnisse in Form einer Fusion unumgänglich geworden.284 Zudem führte die Verschmelzung 1929 zu einer wesentlichen Vereinfachung der ganzen Administration im Schokoladegeschäft.285 Die Übernahme von Peter-Cailler-Kohler im Jahr 1929 ist daher als Folge des inneren Wachstums von Nestlé zu sehen und reduzierte die Transaktionskosten durch Internalisierung. Beispielsweise verlagerte Nestlé zur Kostenoptimierung die Schokoladeproduktion für den britischen Markt 1931 von der Schweiz nach England, was unter den alten Strukturen mit relativ starren Verträgen kaum möglich gewesen wäre.286

Durch die Integration und den Ausbau von Produktsparten wie Schokolade und Schmelzkäse wuchs die Nestlé & Anglo-Swiss auch nach 1921 weiter. Gleichzeitig wurden aber auch in den eigenen Forschungslaboren neue Erzeugnisse entwickelt, mit welchen die horizontale Expansionspolitik weiter vorangetrieben wurde.287


Darstellung 3: Nestlés Kondensmilch- und Schokoladeumsatz zwischen 1905 und 1938 war von starken Konjunkturschwankungen geprägt. Nachdem die Nachfrage nach Kondensmilch und Schokolade im Ersten Weltkrieg stark zugenommen hatte, brach der Absatz der beiden Produkte zwischen 1921 und 1923 stark ein, erholte sich in der zweiten Hälfte der 1920er-Jahre aber wieder, bevor er sich mit der Weltwirtschaftskrise abermals verschlechterte. Gut zu erkennen ist dabei, dass die Nestlé & Anglo-Swiss bis 1913 fast nur gezuckerte Kondensmilch verkaufte, die ungezuckerte Kondensmilch aber seit Kriegsbeginn immer bedeutender wurde und Ende der 1930er-Jahre die Hälfte des Kondensmilchumsatzes ausmachte. Ebenso wurde in der Zwischenkriegszeit ein immer grösserer Teil des Schokoladeabsatzes durch assoziierte Gesellschaften (Lamont, Corliss & Co. und Sarotti) erzielt. Insgesamt stieg der Umsatz der Nestlé & Anglo-Swiss in der Zwischenkriegszeit, aber vor allem auf den Gebieten der Schokolade und der ungezuckerten Kondensmilch, auf denen sich keine grossen Gewinne erzielen liessen.

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