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Seitz erweitert den Fokus auf Verhaltensstörungen und definiert sie als
„eine Auffälligkeit […], die in einer Störung des Funktionsgleichgewichts des Person-Umwelt-Bezugs liegt, sei es, dass für eine bestimmte Funktion […] unangemessene, nicht regelgerechte Mittel […] eingesetzt werden oder dass eine bestimmte Teilfunktion des Gesamtsystems […] zu sehr in den Vordergrund tritt“ (Seitz 1991, 7).
Er definiert Verhaltensstörungen demnach als Abweichung des Erlebens und Verhaltens einer Person von einer Norm, verbunden mit einer gewissen negativen Qualität. Im Vordergrund steht dabei nicht die Auffälligkeit selbst, sondern die Differenz des Zusammenspiels zwischen Person und Umwelt. Zudem zeigt sich die Verhaltensstörung in Form von Auffälligkeiten, was diese zum Signal für eine solche Problematik machen. Seitz lenkt den Blick weg von der Person selbst auf die Wechselbeziehung zwischen ihr und ihrem Umfeld, was als interaktionistische Sicht bezeichnet werden kann. Verhaltensstörungen werden dabei als Störungen im Person-Umfeld-Bezug betrachtet (Stein 2019, 11): Etwas in der Interaktion zwischen einem Kind und den situativen Bedingungen, in denen es sich befindet, läuft nicht regelgerecht. Dabei wird der Tatsache Rechnung getragen, dass sowohl die beteiligten Personen, wie beispielsweise Lehrkräfte, als auch die Bedingungen und Anforderungen einer Situation eine Rolle spielen können – und dies zumeist in einem komplexen, wechselseitigen Verhältnis. Solche Störungen werden im Ergebnis an den Schülerinnen und Schülern als Auffälligkeiten des Verhaltens und Erlebens offensichtlich. Verhaltensauffälligkeiten sind damit Hinweise auf eine hinter ihnen sich verbergende Störung, welche aber nicht zwingend am auffälligen Kind oder Jugendlichen festgemacht werden kann und muss.
Eine interaktionistische Sicht ist auch für die inklusive Beschulung auffälliger Kinder und Jugendlicher bedeutsam, weil Schwierigkeiten nicht erst identifiziert werden, wenn sie verfestigt sind, sondern bereits dann, wenn sie sich in Form von Verhaltensauffälligkeiten bei Schülerinnen oder Schülern anbahnen. Damit wird dann nicht alleine auf das Kind oder den Jugendlichen geblickt, sondern stets auch auf dessen Lebenssituation und die Anforderungen, die an es oder ihn gestellt werden. Stein (2019) verbindet die Auffassungen von Myschker und Stein, Bach und Seitz zu einer eigenen Definition, die auch diesem Buch zugrunde liegt:
„Verhaltensstörungen sind Störungen im Person-Umwelt-Bezug. Sie treten in sozialen Systemen auf und äußern sich bei Kindern und Jugendlichen in Form von Verhaltensauffälligkeiten als Beeinträchtigungen des Verhaltens und Erlebens, welche problematische Folgen für die betroffene Person selbst und / oder ihr Umfeld nach sich ziehen. Dabei bedürfen überdauernde, verfestigte Verhaltensauffälligkeiten besonderer pädagogischer und gegebenenfalls auch therapeutischer Unterstützungsmaßnahmen“ (Stein 2019, 12).
Es geht demnach nicht nur um Kinder und Jugendliche, sondern auch um deren soziales Umfeld und die gegenwärtigen Situationen, mit denen sich die Betroffenen auseinanderzusetzen haben. So wird eine Auffälligkeit im Verhalten und Erleben zwar beim Individuum selbst gesehen, die Störung jedoch wird in der dahinterstehenden Interaktion verankert. Dies wiederum macht die Verhaltensauffälligkeit (wie bei Seitz) zum Signal der eigentlichen Verhaltensstörung. Auch lassen sich die Folgen einer solchen Störung sowohl bei der Person selbst als auch im Umfeld des Individuums festmachen. Dies führt zu einem weiteren und kritischeren Blick auf das, was vordergründig auffällt. Zudem wirft die Definition die Frage auf, ob Auffälligkeiten anhaltend oder nur vorübergehend auftreten. Verstärkt werden könnten evtl. Aspekte des Erlebens und der in diesem enthaltenen Sinnhaftigkeit jeglichen Verhaltens als Lösungs- oder Anpassungsversuch.
In „Konkurrenz“ zu Definitionen von Verhaltensstörungen stehen Erziehungsschwierigkeiten und Unterrichtsstörungen. „Unter einer Erziehungsschwierigkeit versteht man eine Regelübertretung eines Schülers, die von einem schulischen Erzieher wahrgenommen und als störend und unangemessen beurteilt wird“ (Havers 1978, 21).
Allerdings bleibt unberücksichtigt, dass sich diese Erziehungsschwierigkeiten auch in der Familie zeigen könnten oder nur dort, nicht aber in der Schule. Dennoch, in Havers Sinne könnte dann „jede Erziehungsschwierigkeit […] auch ‚Verhaltensstörung‘ genannt werden, aber nicht umgekehrt jede Verhaltensstörung ‚Erziehungsschwierigkeit‘“ (Havers 1978, 24). Es bleibt aber offen, wer diese Schwierigkeit hat, der zu Erziehende oder auch der Erziehende. Ähnliche Fragen wirft der Begriff der Schwererziehbarkeit auf, der die Möglichkeiten erzieherischen Einflusses drastisch einschränkt.
Wendet man den Begriff der Unterrichtsstörungen an, so ist von „Verhaltensstörungen in didaktischer Perspektive“ (Hillenbrand 2011, 26) die Rede. D. h., dass nicht Schülerinnen und Schülern alleine Verantwortung für die Störung zugewiesen wird, sondern diese „niemals vom sozialen Rahmen, also dem Unterrichtsprozess und der Unterrichtssituation“ (Hillenbrand 2011, 27) getrennt werden können. Zwar ist mit Unterrichtsstörungen ein wichtiges Segment, lange aber nicht das gesamte Spektrum beschrieben, mit dem es die Pädagogik bei Verhaltensstörungen zu tun hat (s. thematische Skizze 6).
Thematische Skizze 6: Definitionen
An den Begrifflichkeiten „Störung“ und „Verhaltensstörung“ gibt es jedoch unabhängig von der zugrundeliegenden Definition Kritik. Schlee (1989) wendet ein, dass dieser Begriff eine heimliche Wertigkeit enthalte, da in ihm beschreibende und bewertende Anteile vermischt würden. Auf eine Verhaltensstörung könne nicht direkt aus der Beobachtung oder Wahrnehmung von spezifischen Verhaltensweisen geschlossen werden. Vielmehr benötige es den Vergleich des Verhaltens mit geltenden Normen und Wertvorstellungen, welchen die Idee eines nichtgestörten oder normalen Verhaltens implizit sei. Wertvorstellungen sind jedoch, selbst bei größerem Konsens, immer subjektiv, was in der Folge auch den Begriff der Verhaltensstörung zu einer wertenden (subjektiven) Positionierung macht. Des Weiteren verweist Schlee auf die Unklarheit des Begriffs, da dessen Objektbereich nicht eindeutig zu bestimmen sei. Da Menschen sich immer und überall verhalten, sei dieser Begriff so komplex und umfassend, dass keinerlei Differenzierung möglich sei, was zumindest aus pädagogischer Perspektive problematisch erscheine. Verhaltensweisen geraten damit schnell in die Gefahr, völlig unterschiedlich verstanden und bewertet zu werden, sodass keine begriffliche Konstanz entstehen kann und diese zu einer Leerformel verkommen.
Hinzu kommt, dass die Bezeichnung Verhaltensstörungen Ausdruck einer Machtposition ist, denn der Terminus wird in der Regel von Erwachsenen gegenüber schwächeren und abhängigen, sich darüber ggf. ohnmächtig erlebenden Kindern und Jugendlichen eingesetzt, was zu einer Definitionsmacht auf Seiten der Erwachsenen führt. Wird diese Macht unreflektiert akzeptiert, werden die Betroffenen in der Folge zu inaktiven und machtlosen Empfängern dieser Mächtigkeit. Neben Schlee kritisiert u. a. auch Bach (1989, 4) den Begriff der Verhaltensstörung, indem er auf dessen negative Attribuierung hinweist. Der Terminus werde im Alltag kaum positiv oder neutral aufgefasst, sondern reduziere die (diagnostische) Aufmerksamkeit auf die Person selbst, was zusätzliche negative Folgen nach sich ziehen könne.
Es stellt sich daher die Frage, ob man aufgrund der bestehenden Probleme und kritischen Einwände versuchen sollte, ohne Begrifflichkeit auszukommen. Möglicherweise wäre damit eine Stigmatisierungsgefahr gebannt, wie aber steht es um notwendige Hilfen? Bach konstatiert, dass sich „ohne Benennung dieser Probleme […] schwerlich zielorientierte Aktivitäten im Interesse von Menschen mit besonderen Problemen und im Interesse von Gruppen, die beeinträchtig werden oder beeinträchtigen, in Gang setzen und durchhalten lassen“ (Bach 1989, 4). Stein teilt diese Meinung und fügt hinzu:
„Es wird kaum möglich sein, ohne Begriffe auszukommen, wenn bestimmte Phänomene und Probleme beschrieben und angegangen werden sollen. So lange keine besseren Alternativen in Sicht sind, scheinen daher Begriffe wie ‚Verhaltensstörungen‘ oder ‚Verhaltensauffälligkeiten‘ notwendig und hilfreich. Zudem muss darauf hingewiesen werden, dass sich das Verständnis des Phänomens ‚Verhaltensstörungen‘ in einem Wandel befindet“ (Stein 2019, 15).
Fragen zum Verständnis:
Welche Kriterien, Entstehungsgründe und Auswirkungen von Verhaltensstörungen beschreiben Myschker / Stein in ihrer Definition und welche Ziele verfolgen sie damit?
Welche vier Aspekte beschreibt Schlee in seiner Kritik am Begriff „Verhaltensstörung“ und wie begründet er diese?
Was unterscheidet Erziehungsschwierigkeiten von Unterrichtsstörungen?
Fragen zum erweiterten Verständnis und zur Vertiefung:
Inwieweit können durch einen Verzicht auf Benennungen Prozesse der Stigmatisierung aufgehoben werden?
Weshalb ist die Bezeichnung „verhaltensoriginell“ abzulehnen?
Antworthorizonte als Online-Material verfügbar.
Grundlagenliteratur:
Seitz, W. (1991): Erscheinungsweise und Prozesse der Entwicklung von Verhaltensstörungen. In: Hansen, G., Seitz, W. (Hrsg.): Entstehung und Behandlung von Verhaltensstörungen im Kindes- und Jugendalter. Centaurus, Pfaffenweiler, S. 7–46
3.3 Perspektiven
3.3.1 Resilienz und Vulnerabilität
Mit Resilienz wird die „psychische Widerstandsfähigkeit von Personen [bezeichnet], die trotz biologischer, psychischer oder sozialer Entwicklungsrisiken eine gesunde und funktionale Anpassungsleistung an widrige und oftmals traumatische Lebensumstände aufweisen“ (Noeker / Petermann 2008, 255). Resilienz meint demnach, Krisen, verschiedener beeinflussender Art auf den Lebensvollzug, mithilfe persönlicher und sozial vermittelter Ressourcen zu meistern und entwicklungsfördernd zu nutzen (s. thematische Skizze 7). Schumacher et al. sehen „Resilienz als eine relative Widerstandsfähigkeit gegenüber pathogenen Umständen und Ereignissen“ (Schumacher et al. 2005). Diese Definition beinhaltet, dass der Begriff nicht zwingend einen grundsätzlich zu erreichenden Zustand beschreibt, sondern es sich vielmehr um einen dynamischen oder kompensatorischen Prozess der Anpassung an sich verändernde Bedingungen der Lebensumwelt handelt und dabei hilft, Belastungen auszuhalten (Lenz / Kuhn 2011). Resilienz stellt damit keine grundsätzlich zeitlich stabile oder situationsübergreifende Eigenschaft dar, sondern eine Fähigkeit, akuten Belastungserfahrungen entgegenzustehen. Dabei kann eine Person bestimmten Belastungen gegenüber resilient sein und zu einem anderen Zeitpunkt vulnerabel erscheinen. Um Risiken entgegenwirken zu können, werden Bewältigungskompetenzen entwickelt, welche dabei helfen, die Folgen herausfordernder Lebensumstände relativ unbeschadet zu überstehen (Lenz / Kuhn 2011). Dafür werden familiäre, soziale oder andere kompensatorische Risiko- bzw. Schutzfaktoren erarbeitet und als Ersatz genutzt. Sie wirken dabei eher kontextabhängig und spezifisch und werden dann greifbar, wenn Belastungsaspekte eintreten. Fehlen diese protektiven Einflüsse, können Risikofaktoren voll entwicklungshemmend wirken und die Person in ihrem Lebensvollzug entscheidend negativ beeinflussen (Lenz / Kuhn 2011, 273) Um mittels Schutzfaktoren Bewältigungsprozesse zu initiieren, müssen Ressourcen der Person mit Hilfe kognitiver und emotionaler Bemühungen aktiviert werden. Bei der Entwicklung resilienter Fähigkeiten sind unterschiedliche adaptive Systeme auf verschiedenen Ebenen involviert (Noeker / Petermann 2008, 255 f.): z. B. personale Kompetenzen (Stressverarbeitung, Selbstregulation, Motivation, Lernen), das Familiensystem, soziale Netzwerke sowie gesellschaftlich-kulturelle Faktoren. Resilienz entwickelt sich durch einen dynamischen und wechselseitigen Prozess zwischen Person und Umwelt (Noeker / Petermann 2008, 256). Diese Entwicklungen macht sich Resilienzforschung zum Gegenstand: Sie untersucht, aufgrund welcher Umstände sich Kinder und Jugendliche trotz widriger Bedingungen und gehäufter Belastungsfaktoren gesund entwickeln und andere unter vergleichbaren Bedingungen besonders auffällig werden (Lenz / Kuhn 2011, 287). Alle Befunde zeigen, dass vorhandene Risikofaktoren nicht automatisch die gesundheitliche Entwicklung variabel beeinflussen, sondern den ressourcenbedingten Schutzfaktoren eine gesundheitserhaltende Bedeutung zugemessen werden kann (Lenz / Kuhn 2011, 293). Demnach sind Kinder und Jugendliche mit stabilen familiären und sozialen Ressourcen, wie Zusammenhalt, festen Bezugspersonen von entsprechender Beziehungsqualität und starken personalen Ressourcen wie einem positiven Selbstkonzept und Selbstsicherheit von vornherein mit besonders protektiven Schutzfaktoren ausgestattet. Dies zeigt zum einen die besondere Prägnanz der Präventionsarbeit (8.1) für Risikofamilien und zum anderen die besondere Relevanz des Themas für die Pädagogik bei Verhaltensstörungen.
Thematische Skizze 7: Resilienz und Vulnerabilität
Welche Aspekte sich als Wirkfaktoren im Zusammenhang mit belastenden Lebensumständen auf die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen filtern lassen, untersuchte die Kauai-Studie von Werner (1992). Daten von 698 Kindern der Insel Kauai von einheimischen und eingewanderten Familien aus zumeist sozioökonomisch benachteiligten Verhältnissen wurden von der pränatalen Phase bis ins Erwachsenenalter erfasst. Ein Aspekt der Forschungsergebnisse scheint im schulischen Kontext besonders relevant, denn
„alle resilienten Kinder […] konnten auf mehrere Lehrer in der Grundschule oder höheren Schule hinweisen, die sich für sie interessierten und sie herausforderten. Diese Kinder gehen gern zur Schule und machen sie in vielen Fällen zur zweiten Heimat“ (Werner 2020, 15).
Lösel und Bender (1999) untersuchten die Entwicklung von Resilienz unter Bedingungen besonders hoher Risikofaktorenbelastung. Dabei wurden Biographien von stationär untergebrachten Jugendlichen, die „aus belasteten und unterprivilegierten Multiproblem-Milieus mit unvollständigen Familien, Armut, Erziehungsdefiziten, Gewalt und elterlichen Suchtproblemen entstammen“ näher beleuchtet (Lenz / Kuhn 2011, 278). Die resilienten Jugendlichen zeigten ein flexibleres und weniger impulsives Temperament. Sie hatten eine realistischere Zukunftsperspektive und waren in ihrem Bewältigungsverhalten aktiver und weniger vermeidend. Sie vertrauten mehr auf eigene Kräfte und waren daher leistungsmotivierter in der Schule. Sie hatten häufiger eine feste Bezugsperson außerhalb der hochbelasteten Familie (Lenz / Kuhn 2011). Aufgrund der Annahme, dass grundlegende, jedoch konsistent beeinflussende Schutzfaktoren bestehen, kann eine pädagogische Förderung von Resilienzaspekten als nützlich angesehen werden. Im Rahmen schulischer Maßnahmen besteht eine Vielzahl an Ansätzen und Programmen, z. B. der Setting-Ansatz nach Theis-Scholz, der aufgrund der begrenzten Einflussmöglichkeit von Schule auf externe Lebenskontexte eine Stärkung personaler Ressourcen fokussiert (Theis-Scholz 2007, 265). Hierzu zählen das Erleben von Alltagsroutinen, Kontakt zu Gleichaltrigen, die Wahrnehmung der Probleme, die Lehrkraft als positives Gegenmodell zu den Eltern und die Chance, sich durch Leistung zu profilieren.
Vulnerabilität wird pädagogisch als eine „konstitutionelle Versehrbarkeit“ (Brumlik 2000, 207) verstanden. Sie ist eine „grundlegende Dimension und Folge der leiblichen und psychischen Bedürftigkeit, wie sie mit den spezifischen Bedingungen des menschlichen Auf-die-Welt-Kommens und Heranwachsens verbunden ist“ (Andresen 2015, 25). Durch diese fundamentale Angewiesenheit entsteht ein Verletzungsrisiko des Kindes, welches durch alle sozialen Akteure bedingt ist. Der Verletzbarkeit ist die Vulneranz zuzuordnen, womit die Fähigkeit bzw. Bereitschaft gemeint ist, andere zu verletzen. Die menschliche Verwundbarkeit stellt eine Angriffsfläche dar und ist daher mit der Möglichkeit des Machtmissbrauchs verbunden. Damit entsteht die begründete Notwendigkeit, sich selbst vor den Verletzungen durch andere schützen zu wollen. Kinder und Jugendliche sind durch ihre psychische und physische Bedürftigkeit deutlich verletzbarer als Erwachsene. Die Angst davor, verwundet zu werden, übt eine starke Macht aus, und durch die eigene Verwundbarkeit wird der Ruf nach Sicherheit lauter.
„Eine pädagogische Konzentration auf die Handlungsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen und eine zudem möglicherweise zu einseitige Fokussierung auf die Leistungen der Resilienzforschung lässt bei aller Nachvollziehbarkeit jene Kinder und Jugendliche außer Acht, deren Ohnmachtserfahrungen und -erleben so stark sind, dass ihre Handlungsfähigkeit in persönlichen und schulischen Zusammenhängen völlig zum Erliegen gekommen ist“ (Müller 2019, 292).
Kinder und Jugendliche im Gegenstandsbereich der Pädagogik bei Verhaltensstörungen haben oft Verletzungen unterschiedlichster Art erfahren (Gewalt, Missbrauch, Vernachlässigung, psychische Misshandlung etc.), was in logischer Konsequenz Einfluss auf ihre Handlungsfähigkeit im sozialen Raum hat. Das von Stärken ausgehende Resilienzkonzept kommt bei diesen Kindern und Jugendlichen möglicherweise an seine Grenzen, denn „in der Überbetonung der kindlichen Handlungsfähigkeit, Selbstwirksamkeit und Kompetenz einerseits sowie der Konstitution des Kindes in seinem Noch-nicht-Erwachsensein andererseits liegt die Gefahr des Abhandenkommens der Sensibilität gegenüber dem verletzlichen Subjekt und des Verlustes der Achtsamkeit für dieses begründet“ (Heinze 2017, 49).
Das verletzte Kind agiert infolge seiner Erfahrungen möglicherweise auffallend. Bereits drohende Konflikte könnten Verhaltensauffälligkeiten auslösen und in Verletzungsspiralen führen, da verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche zumeist ein Mehr an Begrenzungen und Kontrolle erleben, welche Erwachsene mittels ihrer Machtposition, nicht immer angemessen, durchzusetzen versuchen werden.
Vulnerantes Verhalten kann demnach als „Handlungen aus gutem Grund, nämlich dem der eigenen, massiven, nachhaltigen, nicht mehr wieder gut zu machenden Verletzungen“ (Müller 2019, 293) zu begegnen, bzw. als schutzwirkende Folge angesehen werden – auch, wenn die damit verbundene schädliche Wirkung des Kindes, gegen sich selbst oder andere, nicht toleriert werden muss (Müller 2019). Im Sinne des Einbezugs des Kindes kann vulnerantes Verhalten also als dem Selbstschutz dienendes Verhalten angesehen werden, ohne es zu akzeptieren.
Grundlagenliteratur:
Heinze, C. (2017): Verletzlichkeit und Teilhabe. In: Miethe, I. (Hrsg.): Bildung und Teilhabe. Springer, Wiesbaden, S. 47–63
3.3.2 Psychosoziale Belastungen und soziale Benachteiligung
Die sozio-ökonomischen und sozio-kulturellen Bedingungen, in die Kinder hineingeboren werden, können mit verantwortlich dafür sein, welchen Belastungen sie ausgesetzt sind und wie diese zur Entstehung von Verhaltensauffälligkeiten beitragen (s. thematische Skizze 8). Dabei gibt es keine Kausalitäten und die unter 3.3.1 getroffenen Aussagen zu Resilienz legen dies auch nahe. Dennoch weisen Laucht / Esser / Schmidt (2000) nach, dass ein hoher Anteil sozial und emotional belasteter Kinder und Jugendlicher in sozial benachteiligten Verhältnissen bzw. Armut lebt. Und auch die Ergebnisse der KiGGS-Studie (Hoffmann et al. 2018; Klipker et al. 2018) lassen die Aussage zu, dass Kinder und Jugendliche in Familien mit niedrigem sozialen Status besonders stark von Entwicklungs- und (psychischen) Gesundheitsgefährdungen betroffen sind. Dies zieht nach sich, dass die Betroffenen nicht nur materiellen Mangel, sondern vor allem sozialen Mangel erleiden und damit weniger Anerkennung und Selbstwirksamkeit erfahren als vielmehr Isolation und Beschämung. Derartige Erfahrungen bestätigen sich bisweilen in schulischen und nachschulischen Biographien. Fehlen soziale Einbindung, personale Anerkennung und schulischer Erfolg, so führt dies schnell zu Bewältigungsversuchen, die sich gegen andere oder aber die eigene Person richten (Göppel 2002). Angesichts steigender Kinderarmut kommen in Deutschland mehr Kinder in Familien zur Welt, in denen Bildung kaum eine Rolle spielt oder nie einen Platz finden konnte, aber gleichzeitig auch die Fähigkeiten wie Fertigkeiten zu einer selbst verantworteten Lebensführung zunehmend verloren gegangen sind.
Thematische Skizze 8: Psychosoziale Belastungen und soziale Benachteiligung
„Nicht Kinder machen arm, sondern Armut gebiert Kinder. Sie beginnt mit dem Fehlen materieller und kultureller Ressourcen, übersetzt sich in Frustration und Verlust an Bindungsfähigkeit […] und damit schließt sich der Teufelskreis der Armut und Chancenlosigkeit für Kinder“ (Nolte 2006, 149).
Und mit dieser „Übersetzung“ beginnt der Weg von äußerer zu „innerer Armut“ (Müller 2008). Den vulnerablen Familienstrukturen in sozial bedrängenden Lebenslagen fehlt es nicht nur an gesellschaftlichen Gelegenheiten zur Teilhabe, sondern zudem an sozialen wie emotionalen Kompetenzen, um das eigene Leben zu gestalten. Nolte geht sogar so weit zu behaupten:
„Die postmoderne Glorifizierung der Patchworkfamilie ist ein akademisch-intellektueller Lebensentwurf, der in anderen sozialen Schichten vermehrt in Erziehungskatastrophen, in Vernachlässigung, Verwahrlosung, im Extremfall in Gewalt mündet. […] Es gibt einen engen Zusammenhang zwischen Armut und Einsamkeit“ (Nolte 2006, 99).
Und auch Ricking konstatiert:
„Die zunehmende Zahl der betroffenen Kinder ist durch die unzureichende Qualität kindlicher Lebenswelten in ihrem Werden gehemmt, häufig gerahmt von erzieherischer Insuffizienz und sozialer Anomie […]. Erziehung an den Grenzen ist vielfach Erziehung im Rahmen entwicklungsfeindlicher Lebens- und Lernbedingungen“ (Ricking 2018, 211).
Die Verhaltens- und Erlebensweisen dieser Kinder und Jugendlichen verweisen also stark auf die eigenen lebensgeschichtlichen Erfahrungen. Herz / Zimmermann (2018, 150 f.) fokussieren dabei insbesondere auf „1. gestörte familiäre Interaktionsmodi, 2. Gewalt und sexualisierte Gewalt und 3. Trennungen und Verluste“ (Herz / Zimmermann 2018, 156 f.). Unter Bezug auf die Erkenntnisse der Bindungstheorie (Kap. 4.2.3) zeigen sie die existentielle Angewiesenheit auf feinfühlige, Sicherheit stiftende und zur Exploration ermutigende Beziehungen. Aber „die psychische Energie emotional beeinträchtigter Männer und Frauen reicht vielfach nicht aus, um in diesen wichtigen Dialog mit den Kindern einzutreten. Im Gegenteil: Zusätzlich zu ihren eigenen Emotionen müssen die Kinder dann die Hilflosigkeit der Eltern ertragen“ (Herz / Zimmermann 2018, 157). Für die Betroffenen gilt daher für ihr Aufwachsen (Müller 2008, 35 ff.), dass sie kaum oder keine Veränderungen mehr ermöglichen können, sondern sich äußeren wie inneren Zuständen ausgeliefert sehen, was emotional bisweilen zu pauschalen Deutungen von Gut und Böse oder zur Verherrlichung bzw. Verdammung von Bezugspersonen führt, nicht aber zu emotionaler Flexibilität und einer ausgeprägten Ambiguitätstoleranz. Vielstimmige Interpretationen der eigenen Lebensgegebenheiten sind ihnen nicht (mehr) möglich und so richten sie sich identitär früh und notgedrungen in dem ein, was sie wahrnehmen: Ohnmacht, Isolation, Ausgeliefertsein und Chancenlosigkeit. Jeder pädagogische Versuch, Ressourcen zu erkunden, kleine gelingende Erfahrungen anzuerkennen und Leistungen zu loben, führt in autoreaktive Abwehr und feindselige Aggression – oft zum Erstaunen und zur emotionalen Enttäuschung der pädagogischen Fachkräfte. Dies jedoch können die Folgen eines Aufwachsens sein, in dem es einerseits oft an verlässlicher Zuwendung und emotionaler Wärme fehlt und in dem Kinder und Jugendliche andererseits massivem Stress durch das Erleben von sozialer Ungleichheit und Armut ausgesetzt sind. Ihre Verhaltens- und Erlebensweisen können als eine Reaktion auf beides verstanden werden.
Fragen zum Verständnis:
Wie ist der Resilienzbegriff entstanden und was genau bezeichnet er?
Wie unterscheiden sich Vulnerabilität und Vulneranz voneinander?
Welche lebensgeschichtlichen Ereignisse sind besonders in den Blick zu nehmen, wenn es um verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche geht?
Fragen zum erweiterten Verständnis und zur Vertiefung:
Weshalb ist Resilienz eine kritisch zu betrachtende Zielkategorie?
Inwieweit lässt sich vulnerantes Verhalten von Kindern und Jugendlichen als Ausdruck ihrer eigenen Vulnerabilität verstehen und akzeptieren?
Armut und soziale Benachteiligung erzeugen Stress. Was bedeutet dies für das Entstehen von auffälligem Verhalten?
Antworthorizonte als Online-Material verfügbar.
Grundlagenliteratur:
Göppel, R. (2002): „Wenn ich hasse, habe ich keine Angst mehr …“. Psychoanalytisch-pädagogische Beiträge zum Verständnis problematischer Entwicklungsverläufe und schwieriger Erziehungssituationen. Auer, Donauwörth
3.4 Klassifikationen und Epidemiologie
3.4.1 Klassifikationen
In der Wissenschaft sind Klassifikationen Versuche, allgemeingültige Ordnungen vorzunehmen und bestimmte Objekte aufgrund ihrer Eigenschaften zu bündeln bzw. gegeneinander abzugrenzen. Allerdings erweisen sich trennscharfe Klassifikationen oft als schwierig, so auch in der Pädagogik bei Verhaltensstörung (s. thematische Skizze 9). Diese hat es mit einzigartigen, sich entwickelnden Kindern und Jugendlichen zu tun, deren Verhalten und Erleben in unterschiedlichen Situationen stark voneinander abweicht und unterschiedlich motiviert sein kann. Zudem fallen eine Vielzahl von Phänomenen (z. B. Aggressivität, Aufmerksamkeits- und Angststörungen, dissoziale Verhaltensweisen, Essproblematiken, Substanzmissbrauch, Devianz, Suizidalität u.v.a.m.) in den Gegenstandsbereich der Pädagogik bei Verhaltensstörungen, sodass Anfang und Ende einer Klassifikation nicht ohne Weiteres zu bestimmen ist. Klassifikationen werden bisweilen von Einteilungen unterschieden, wobei erstere als geschlossener und damit trennschärfer und zweitere als offener und damit ungenauer angesehen werden. Von daher ist in der Pädagogik bei Verhaltensstörungen eher der Versuch einer Klassifikation zielführend als der einer Einteilung (Reiser 1999, 145).
Seitz (1982, 11 f.) unterscheidet die deskriptive, die explanatorische, die funktionsbezogene und die interventionsbezogene Einteilung voneinander.
● Mit einer deskriptiven Einteilung wird äußerlich beobachtbares Verhalten beschrieben und auf dieser Basis nach Erscheinungsformen eingeteilt. Havers (1978) unterteilt dies in die „theoretisch-phänomenologische“ und die „empirisch-phänomenologische Klassifikation“. Damit ist ein Weg der Klassenbildung von zwei Seiten her beschrieben: zum einen können aus theoretischen Vorüberlegungen Klassen entworfen werden, die sich dann in der Realität finden und beobachten lassen oder auch nicht. Zum anderen lässt sich durch Befragungen und systematische Beobachtungen eruieren, welche Verhaltensweisen bei welchen Kindern und Jugendlichen unter bestimmten Bedingungen immer wieder auftreten und so eine Klassifikation vornehmen. In jedem Fall jedoch bleibt das innere Erleben der Betroffenen unberücksichtigt. Die inneren Notwendigkeiten eines Kindes oder Jugendlichen, die dazu führen, sich auffällig zu verhalten, können sich jedoch wesentlich von den Gründen und Motiven eines anderen Kindes oder Jugendlichen unterscheiden, auch wenn beide nach außen hin das gleiche Verhalten zeigen.
● Anhand der explanatorischen Einteilung versucht man, Verhaltensweisen auf gemeinsame Ursachen, wie beispielsweise genetische Ursachen, Erziehungsstil, Milieu u. a., zurückzuführen. Dies vernachlässigt jedoch, dass es oft eine komplexe Gemengelage von Faktoren ist, die dazu führt, dass sich ein Kind oder Jugendlicher auffällig verhält. Umgekehrt: lassen sich Ursachen ausmachen, dann bietet sich damit auch ein Ansatzpunkt, die bestehende Situation ggf. zu verändern.
● Die funktionsbezogene Einteilung nähert sich vom Motiv des Kindes oder Jugendlichen. Nicht, warum sich jemand ursächlich so und nicht anders verhält, ist von Interesse, sondern wozu. Ähnlich wie bei einer explanatorischen Einteilung bestehen aber oft zahlreiche, bisweilen konkurrierende Gründe, oder aber die Motive lassen sich nicht ermitteln bzw. sind dem Kind oder Jugendlichen selbst nicht bewusst. Lässt sich die Wozu-Frage jedoch klären, bietet sich damit auch eine pädagogische Möglichkeit, nicht nur auf ein gezeigtes Verhalten zu reagieren, sondern am inneren Erleben anzusetzen und nachhaltige Entwicklungen anzustoßen.
● Bei der interventionsbezogenen Einteilung handelt es sich um den Versuch einer Einteilung nach bestimmten Handlungs- und Förderansätzen, was aber eher eine theoretische Möglichkeit darstellt.
Für die Pädagogik bei Verhaltensstörungen sind mehrere Klassifikationssysteme von Bedeutung. Das Modell nach Peterson / Quay / Tiffany (1961) weist eine empirisch-deskriptive Ausrichtung auf und nimmt eine Einteilung in vier Gruppen vor:
● Zum einen in „unsozialisiert-psychopathisch“, also Verhaltensstörungen aggressiver Art, die sich externalisierend zeigen.
● Zum zweiten ist die Rede von Verhaltensstörungen gehemmter Art, sprich internalisierende, ängstlich gehemmte Verhaltensweisen, bei denen sich eine Tendenz zu erhöhter Ängstlichkeit und zu sozialem Rückzug ausmachen lässt.
● Die dritte Gruppe bezeichnet fehlende Reife und zielt damit auf nicht altersgemäße Verhaltensweisen.
● Und schließlich gibt es Verhaltensstörungen delinquenter Art. Hier geht es um Kinder und Jugendliche, die sich in Subgruppen zusammenfinden und aufwachsen und / oder sozial delinquent sind.
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