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Zwei Minuten später stand Christine Horat in Verbindung mit Witali Ugromow. Um eine einigermassen entspannte Gesprächsatmosphäre zu schaffen, erkundigte sich die Staatsanwältin mit einigen Nettigkeiten im Bereich des Smalltalks auf Englisch, wobei Witali Ugromow plötzlich zu einem sehr guten Schriftdeutsch überging.

«Ich habe unter anderem Germanistik studiert, in Berlin-Ost, Mitte der Siebzigerjahre. Was wollen Sie genau von mir wissen, Frau … ehh .… wie sagten Sie doch gleich?»

«Horat, Christine Horat. Sagen Sie, Herr Ugromow, wer hat den grossen Schneemann in Ihrem Garten gebaut – und wann?»

«Mein Chauffeur und mein Koch, Ende Januar, aber deswegen rufen Sie ja bestimmt nicht an, wegen des Schneemanns.»

Christine verneinte und erklärte den Grund ihres Anrufs. Noch bevor sie zu Ende sprechen konnte, unterbrach sie Ugromow unwirsch. «Und jetzt wollen Sie mir unterstellen, ich sei ein Mörder?»

«Nein, das will ich nicht, Herr Ugromow. Aber ich muss Sie bitten, so schnell als möglich in die Schweiz zu kommen, damit wir Sie vom möglichen Täterkreis ausschliessen können.»

«Also gehöre ich zum Täterkreis! Ist es das, was Sie mir sagen wollen, Frau Oratt?»

Die Staatsanwältin war darauf bedacht, die Situation nicht eskalieren zu lassen. «Nein, das sage ich nicht, Herr Ugromow, deshalb ist Ihre Anwesenheit hier in Gstaad ja so wichtig. Wann können Sie hier sein? Sie reisen ja offenbar – so hat man mir jedenfalls gesagt – jeweils mit dem Privatflugzeug nach Genf, um sich nachher mit einem Helikopter nach Gstaad bringen zu lassen. Im Idealfall könnten Sie also noch am gleichen Tag zurück in Moskau sein.»

«Bitte, wie, was verlangen Sie?»

«Wann können wir Sie hier in der Schweiz befragen, Herr Ugromow? Immerhin liegt eine Tote in Ihrem Garten.»

«Bestimmt nicht!»

«Bitte, wie?»

«Was haben Sie nicht verstanden, Frau Oratt? Ich komme nicht!»

«Herr Ugromow, so geht das aber nicht …»

«Reden Sie mit meinem Anwalt in Genf, Jean-Claude Delacroixriche.»

«Herr Ugromow, selbst wenn ich mit Herrn Delacroixriche sprechen würde, Sie müssen dabei sein. Und morgen lasse ich das Haus durchsuchen. Sagen Sie das Ihrem Herrn Delacroixriche.»

«Ich verbiete Ihnen das! Do svidaniya, Frau Oratt!»

Damit beendete Witali Ugromow das Gespräch, einseitig. Christine Horat wusste, dass «Do swidanja» auf Russisch «Auf Wiedersehen» bedeutete –, und «Swoboda», der Name von Ugromows Chalet, «Freiheit».

Inzwischen standen die Uhrzeiger auf 1.30 Uhr. Die Verantwortlichen einigten sich darauf, ihre Arbeiten um 9 Uhr fortzusetzen, um diese Zeit machte es keinen Sinn mehr. «Herr Müller», sprach Christine Horat den Gstaad-Watch-Chef an, «aktivieren Sie bitte sämtliche Alarmanlagen des Chalets und informieren Sie mich umgehend, sollte etwas passieren.»

«Ritschi» Müller nickte und tauschte mit Horat die Geschäftskarten aus.

«Neun Uhr gilt auch für Sie oder einen Ihrer Stellvertreter, bitte nehmen Sie alle Zutrittsinstrumente für das Chalet Swoboda mit, wir werden das Haus durchsuchen, ob das diesem Herrn Ugromow nun passt oder nicht. Wo sind wir hier denn?».

Zum Schluss bat Christine Horat den Gstaad-Watch-Chef, zwei Mitarbeitende aufzubieten, um das Anwesen während der Nacht vor Neugierigen zu schützen. «Wird gemacht. Sagen Sie, wem kann ich diese zusätzlichen Dienstleistungen in Rechnung stellen?»

«Herrn Ugromow, bei dem Sie ja unter Vertrag stehen. Verursacherprinzip nennen wir das.»

15 Minuten später standen zwei Herren in der Nähe der beiden Strassenabsperrungen, mit gegenseitigem Sichtkontakt.

Christine Horat hatte bemerkt, dass Joseph Ritter ihr Gespräch mit Witali Ugromow mindestens zum Teil mitverfolgt hatte.

«Wird wohl nicht kommen, Herr Ugromow», sagte Ritter mit leiser Stimme, just bevor die Staatsanwältin in ihr Auto steigen wollte.

«Mir ist doch auch klar, dass er von seinem Recht auf Aussageverweigerung Gebrauch machen wird, um sich nicht selber zu belasten, aber das wollte ich ihm nicht auf die Nase binden.»

«Was glauben Sie, wie geht es jetzt weiter?»

Horat seufzte. «Ich bin bloss gespannt», antwortete sie, «um welche Uhrzeit ich einen Anruf von Herrn von Kreuzreich erhalten werde, denn der ist mir so sicher wie das Amen in der Kirche.»

«Von Kreuzreich?»

«Die deutsche Fassung von Delacroixriche, Ugromows Anwalt aus Genf. Ugromow wird ihm bestimmt meine Handynummer mitteilen, die er im Display gesehen hat.»

Ritter und Horat lachten beide, zum grossen Teil ihrer eigenen Müdigkeit wegen. Und selbstverständlich hatte vorher der KTD noch alle Zugänge und Türen des Chalets Swoboda mit amtlichen Klebern versiegelt, mit dem Hinweis an die Anwesenden, dass heute Nacht keine Hausdurchsuchung mehr auf dem Programm stehen würde.

* Thomas Bornhauser: Fehlschuss. Weber Verlag, Thun/Gwatt 2015.

Zehn Tage zuvor

Freitag, 7. Februar: Zufälligerweise hatten sowohl Michel Chevalier als auch Monika Grünig Tagesdienst auf dem Polizeiposten in Gstaad, derweil sich zwei Kollegen auf Routinepatrouille im Dorf befanden. Insgesamt arbeiteten während der Hochsaison und aufgrund der verschiedenen Dienstpläne mit einem Bezirkschef, einem Wachtchef, zwei Gruppenchefs und zehn Mitarbeitenden bis zu 14 Polizistinnen und Polizisten auf dem Oberländer Posten.

Gegen 10 Uhr – im Rapport hatte Monika Grünig exakt 10.03 Uhr notiert – erschien Matthias Kaufmann auf dem Posten mit einem speziellen Anliegen. «Ich muss eine Vermisstenanzeige machen.»

Nun war Matthias Kaufmann nicht irgendwer, sondern ein Immobilien-Tycoon, bekannt – und berüchtigt – im ganzen Saanenland. Zusammen mit seinem Bruder Erich hatte er bereits in den Sechzigerjahren den Riecher dafür, dass die Region mehr zu bieten vermochte als eine Postkartenidylle mit Kühen und Bergen. Im Laufe der Jahre investierten die beiden – durchaus mithilfe von einigen Banken – gezielt in Überbauungen, Chalets, Restaurants und Hotels, immer mit sicherem Instinkt für eine optimale Rendite. Selbst die paar wenigen Ausnahmen ergaben unter dem Strich noch immer knapp schwarze Zahlen. Den Kaufmann-Brüdern gehörten Lokalitäten an bester Lage, die sie zu «Marktpreisen» an internationale Konzerne vermieteten. Allein in Gstaad fanden sich drei bekannte Hotels und vier Restaurants in ihrem Portefeuille. Und dennoch, ein Umstand vermochte den Zorn in ihnen zu wecken: Ein ausländischer Investor – angeblich eine Private-Equity-Firma aus Kapstadt mit einem südafrikanischschweizerischen Doppelbürger als Vertreter in der Schweiz – hatte in letzter Zeit damit begonnen, über verschiedene Immobilienhändler Liegenschaften in Gstaad zu kaufen und gleich – selbstredend gewinnbringend – weiterzuvermieten. «Dieser ‹Cheib› pfuscht uns ins Handwerk, nimmt mich wunder, woher der Typ sein Geld hat!», hatte sich, so wussten Insider zu berichten, Matthias Kaufmann mehrfach in trauter Runde geärgert. Und dieses Treiben eines Ausländers gehöre gestoppt. Nur eben – wie?

Beide Kaufmann-Brüder, die ebenfalls eigene Chalets am Oberbort besassen, waren geschieden, Erich dreimal, Matthias einmal, nicht zuletzt deshalb, weil es ein offenes Geheimnis war, dass beide Herren auch in ihrem fortgeschrittenen Alter – «Mättu» war 74, «Eru» 72 Jahre alt – noch die Freuden des Lebens zu geniessen wussten, wahrscheinlich mit freundlicher Unterstützung von Viagra und Cialis, ganz unter dem Motto und frei nach Oscar Wilde: «Einer Versuchung solltest du unbedingt nachgeben, denn wer weiss, ob sie nochmals kommt?» Dass Matthias Kaufmann eine Vermisstenmeldung machen wollte, liess Michel Chevalier aufhorchen und aufschauen.


Das Gstaad Palace ist das wohl bekannteste Hotel im Saanenland mit einer eindrücklichen Geschichte. Im hoteleigenen Nachtclub GreenGo war Valeria Morosowa ein gern gesehener Gast. Ihre Begleiter geizten vor allem beim Servicegeld nicht, sehr zur Freude der Kellner.

«Wen möchten Sie als vermisst melden, Herr Kaufmann?», fragte derweil Monika Grünig und hielt das Formular für die Vermisstmeldung bereits in den Händen.

«Valeria Morosowa», antwortete Kaufmann, «hier ist eine Foto von ihr.»

Auch Frau Morosowa war in Gstaad alles andere als eine Unbekannte, nicht bloss ihres gepflegten Aussehens und ihrer tollen Figur wegen. Obwohl sie Dauermieterin eines Chalets war – allerdings nicht am Oberbort –, verbrachte sie genau genommen nur die Zeit zwischen Weihnachten und Ostern sowie einige Wochen im Hochsommer in Gstaad, auch während des Tennisturniers. Wie auch immer: Bei Insidern sprach man(n) von ihr als PM (Pii Ehm) – eine Abkürzung für Party-Maus. Woher Morosowa das Geld für den offensichtlich aufwändigen Lebenswandel hatte, war nicht bekannt. Die einen wollten wissen, dass sie sich von wohlhabenden Herren aushalten liess, andere wiederum sprachen davon, dass sie die Witwe eines ehemaligen Barons sei und ganz böse Zungen glaubten sogar, dass sie im Keller ihres Chalets ganz besondere Dienstleistungen offerierte, im Stil von «50 Shades of Grey». Oder so ähnlich.

«Bevor wir auf die näheren Umstände ihres Verschwindens zu reden kommen, können Sie uns ein genaues Signalement geben, Herr Kaufmann?»

«Valeria wurde kürzlich 48 Jahre alt, sie ist einsachtzig gross und angeblich 68 Kilo schwer, wie sie mir einmal verraten hat, sie hat naturblonde Haare und spricht Russisch, Ukrainisch, Deutsch, Spanisch, Englisch und Französisch, die letzteren vier mit dem typischen slawischem Akzent.»

«Was trug sie zum Zeitpunkt ihres Verschwindens?»

«Ich weiss es nicht, denn ich habe sie vorgestern Abend im Olden vergeblich zum Apéro erwartet. Wir wollten anschliessend zusammen ins Restaurant des ESC gehen, anschliessend ins GreenGo im Hotel Palace.»

Dieser letzte Satz von Matthias Kaufmann hatte es wirklich in sich, erwähnte er doch gleich drei Lokalitäten, in denen normale Gstaad-Besucher kaum zu sehen waren, abgesehen davon, dass das Restaurant des Eagle Ski Club ESC auf dem Wasserngrat nur Mitgliedern vorbehalten war – Leuten, die allein für die Mitgliedschaft in einem der nobelsten Skiclubs auf der Welt ein kleines Vermögen zu zahlen bereit waren.

«Und was bringt Sie dazu, diese Vermisstenmeldung aufzugeben?», wollte Monika Grünig wissen. «Es sind nicht einmal zwei Tage vergangen, möglicherweise ist Frau Morosowa ja schon wieder zu Hause.»

«Nein, das ist sie nicht, ich habe vor einer Viertelstunde bei ihrem Chalet geläutet, vergeblich. Auch ihr Handy ist ausgeschaltet, das alles ist völlig ungewöhnlich.»

«Was wissen Sie sonst über Frau Morosowa, woher kommt sie, womit verdient sie ihr Geld? Jeder Hinweis kann für uns entscheidend sein.»

Wie der sichtlich besorgte Matthias Kaufmann zu berichten wusste, wurde Valeria Morosowa in der Ukraine geboren, in der Nähe von Kiew, ging dort zur Schule und studierte anschliessend Sprachen. Als gefragte Übersetzerin lernte sie während eines Kongresses in Moskau einen, wie Kaufmann explizit feststellte, «stinkreichen Unternehmer» kennen, den sie nur ein Jahr später heiratete. Keine zwei Jahre später liess sie sich von ihm scheiden und war fortan, dank ihres Scheidungsanwalts, eine wohlhabende Frau. Er selber, Kaufmann, habe Valeria Morosowa vor drei Jahren kennen- und schätzen gelernt. Ob das von ihrem Exmann zugestandene Geld für ihren aufwendigen Lebensstil reiche, wisse er nicht. Über Geld werde in seinen Kreisen nicht gesprochen.

«Das hat man einfach», dachte Monika Grünig.

«Ich habe ein ganz ungutes Gefühl, da muss etwas passiert sein!»

«Wann haben Sie Frau Morosowa denn letztmals gesehen?»

«Frau Grünig, gesehen am dritten Februar, am Morgen des fünften Februar habe ich aber noch mit ihr telefoniert. Sie sass nach eigenen Angaben im Charly’s Tearoom an der Promenade, sagte, dass sie sich auf den Abend mit mir freut.»

«Herr Kaufmann, darf ich ganz direkt zu Ihnen sein?»

«Gewiss doch, wenn es hilft, Valeria zu finden.»

«Sagen wir es so: Frau Morosowa ist bekanntlich kein Kind von Traurigkeit. Mit wem alles hatte sie in jüngster Vergangenheit Kontakt? Oder hatte sie möglicherweise Ärger? Hat sie jemals etwas angedeutet?»

Matthias Kaufmann musste wegen der Bemerkung «Kein Kind von Traurigkeit» von Monika Grünig schmunzeln. Er wusste aus eigener Erfahrung, wie das Leben eines bekennenden und praktizierenden Singles aussehen konnte, wobei Valeria mit ihren erst 48 Lebensjahren und dank ihrer Erscheinung wohl ein um einiges aufregenderes Leben zu führen wusste als er selber. Er nannte einige Namen von Personen, von denen er annehmen musste, dass sie mit Frau Morosowa in Kontakt standen.

«Bitte behandeln Sie diese Informationen mit der nötigen Diskretion, Sie wissen ja, wie sich die Leute das Maul zerreissen.»

«Davon dürfen Sie ausgehen, Herr Kaufmann, selbstverständlich.»

«Und nein, Valeria hat nie von Drohungen oder Problemen gesprochen.»

Monika Grünig bedankte sich bei Matthias Kaufmann für seine Offenheit und versprach, ihn sofort zu benachrichtigen, sollten sich Neuigkeiten ergeben.

Die Vermisstenmeldung von Valeria Morosowa nahm den gewöhnlichen Verlauf solcher Anzeigen, sieht man davon ab, dass sie noch gleichentags am Fernsehen ausgestrahlt wurde, weil sowohl Monika Grünig als auch Michel Chevalier ein Verbrechen nicht ausschliessen konnten, denn welche Frau hätte eine Einladung ins Olden, den ESC und das GreenGo auf diese Weise sausen lassen? Eine Valeria Morosowa sicher nicht, da waren sich die beiden einig.


Das Tearoom Charly’s an der Promenade in Gstaad: Von hier aus telefonierte in den ersten Februartagen die vermisste Valeria Morosowa mit Matthias Kaufmann, erschien dann aber nicht zum vereinbarten Treffpunkt.

Im Laufe der nächsten Tage gab es zwar einige Hinweise aus der Bevölkerung, die aber ausnahmslos im Sande verliefen. Auch Gespräche mit den von Matthias Kaufmann genannten Personen – grossmehrheitlich aus dem männlichen Kreis der Haute Volée – ergaben keine konkreten Informationen zum möglichen Verbleib der Vermissten. Auch eine allerdings nur oberflächliche Hausdurchsuchung in Morosowas Chalet am Mittwoch, 12. Februar, brachte kein Licht ins Dunkel, nichts deutete auf eine längere Abwesenheit hin. Die Frau blieb wie vom Erdboden verschwunden.

Seit dem Nachmittag des 4. Februar hatte sie ihr Handy nicht mehr benutzt, das ergaben Recherchen bei ihrem Telefonanbieter. Gleiches galt für ihr Profil auf verschiedenen sozialen Medien. Wie konnte es also sein, dass Matthias Kaufmann behauptete, er habe noch am Morgen des 5. Februar mit Valeria Morosowa telefoniert – zu einem Zeitpunkt, als diese angeblich im Charly’s gesessen habe und ebendort bestimmt mit dem Handy telefoniert hätte? Übrigens: Im Keller ihres Chalets waren ganz normale Gegenstände zu sehen, keine Spur von einer Sadomaso-Folterkammer oder Ähnlichem …

Bis zur Auffindung der Leiche im Garten des Chalets Swoboda am späten Abend des 16. Februar ergaben sich keinerlei weiteren Hinweise zum Schicksal der Vermissten.

Erstens kommt es anders und zweitens als man denkt

Vor allem für Joseph Ritter und für Regula Wälchli war es eine sehr, sehr kurze Nacht. Erst gegen 3 Uhr stieg die Kriminalpolizistin im Berner Länggassquartier aus dem Auto von J. R., der weitere 25 Minuten bis zu seiner Wohnung in Münsingen benötigte.

«Regula, ich hole dich morgen um halb acht ab, damit wir um neun sicher in Gstaad sind, nimm Kleider und Toilettenartikel für einige Tage mit, wir reservieren uns Zimmer, wenn auch nicht im Palace oder Alpina, richten ein temporäres Sonderbüro für unsere Ermittlungen in Gstaad ein, mindestens bis zum Wochenende. Ich benötige deine Hilfe als Einheimische dort oben. Und grüss mir Elias – du brauchst ihn ja nicht gleich zu wecken –, ihn und Stefan brauchen wir im Moment noch nicht, wir erhalten ja Verstärkung vom regionalen Stützpunkt in Thun.»

Viereinhalb Stunden später – sogar einige Minuten früher – stand der blaue BMW wieder vor dem Wohnblock am Seidenweg 17, wo Regula Wälchli bereits mit ihrer Reisetasche wartete. Seit einiger Zeit schon lebte die Gstaaderin mit Elias Brunner zusammen, der ebenfalls zum Team Ritter des Dezernats Leib und Leben der Kantonspolizei Bern gehörte, mit Arbeitsplatz im Ringhof im Lorrainequartier.

«Guete Tag, J. R., danke fürs Abholen. Gut geschlafen, turbo-mässig?», fragte sie lachend, während sie einstieg und ihre Tasche auf den Hintersitz legte.

«Ja doch, wunderbar, Regula, wie ein Murmeltier, ich hätte beinahe den Frühling verpasst», antwortete er.

«Übrigens, Gruss von Elias, im Büro sei alles unter Kontrolle, wir könnten es uns im Oberland gemütlich machen.»

«Machen wir doch glatt, Elias denkt doch nicht etwa, dass wir bei diesen Skipisten zu arbeiten gedenken, nicht wahr? Apropos: Wer ist dir als Iheimischi suspekt, bei euch oben, wen sollten wir zu Beginn unter die Lupe nehmen?»

«J. R., du bist um einen Scherz wirklich nie verlegen, auch am frühen Morgen nicht. So aus dem Handgelenk heraus kann ich das im Moment doch nicht sagen, weil ich ja in Bern wohne und nur noch unregelmässig in Gstaad bin. Wenn wir davon ausgehen können, dass die Schneefrau identisch mit Valeria Morosowa ist, dann müssten wir nochmals mit jenen Leuten sprechen, die Matthias Kaufmann nach der Vermisstenanzeige erwähnt hat und die bereits von den Gstaader Kollegen befragt wurden.»

«On verra», sagte der Chef sec – und durchaus passend für Gstaad, denn erstaunlicherweise sprach man in den dortigen Geschäften, den Restaurants und in den Hotels oft Französisch. Noblesse oblige.

Ritter hatte bei seiner Abfahrt in Münsingen bewusst Radio BeO eingestellt, um 7.30 Uhr wurde in den Kurznachrichten jedoch noch nicht über die Ereignisse der Nacht in Gstaad berichtet. Das sollte bis Mittag so bleiben. Kurz nach 8 Uhr verliess Ritter die Autobahn in Richtung Zweisimmen und Wimmis, fuhr zuerst am Schloss Wimmis vorbei, später, im Simmental, an der Talstation zum Stockhorn. Auf dieser Strecke nach Gstaad musste man sich in Geduld üben, Überholen war nur auf wenigen Abschnitten möglich. Offiziell zumindest.

«Jetzt schau mal diesen Tubel an, J. R.!», echauffierte sich die Beifahrerin, als ein grosser Audi mit Appenzell-Innerrhoder-Kantonszeichen – Sicherheitslinie zum Trotz – den Berner BMW überholte. Einige Minuten später erfolgt ein Jauchzen, als der Fahrer an einer geschlossenen Bahnschranke warten musste, unmittelbar vor Ritter und Wälchli, aber hinter sieben anderen Autos: «Bravo! Geschieht ihm recht, das hat er jetzt davon!», rief Wälchli triumphierend.

Unmittelbar nach Zweisimmen klingelte Ritters Smartphone. Dank seiner Freisprechanlage konnte er den Anruf entgegennehmen. Und Regula konnte zuhören.

«Ritter, guete Tag.»

«Hier ist Christine Horat. Raten Sie einmal, wann mich Herr Delacroixriche angerufen hat.»

«Um sieben Uhr?»

«Falsch. Um sechs. Um zehn vor sechs, um genau zu sein.»

«Und? Hat er Ihnen das Du angeboten?»

Die Staatsanwältin musste laut lachen.

«Nicht ganz, nein. Er hat mich zuerst über sämtliche Rechte seines Mandanten aufgeklärt.»

«Das wird ja eine ganze Weile gedauert haben …»

Regula Wälchli verfolgte den Dialog mit sichtlichem Vergnügen.

«Herr Ritter, wo Sie recht haben, haben Sie recht», antwortete Horat. «Also, Herr Ugromow wird von seinem Recht der Aussageverweigerung Gebrauch machen und nicht in die Schweiz kommen.»

«Keine belastenden Beweise, nicht wahr?»

«So ist es. Herr Delacroixriche wird heute noch die russische Botschaft in Bern informieren, damit der Ambassadeur bei unserem Aussenministerium eine Protestnote deponieren kann.»

«Ich sehe schon: Partystimmung! Alsdann wird der Schweizer Botschafter in Moskau ins Aussenministerium zitiert. Sagen Sie mal, wer ist dieser Ugromow eigentlich?»

«Eine grosse Nummer, Multimilliardär, in der Energieversorgung tätig, besitzt eine eigene Privatbank, Weggefährte von Wladimir Putin.»

«Soso, eine eigene Privatbank, ist ja ganz praktisch. Und der Präsident kümmert sich ja bekanntlich fürsorglich um seine Freunde, schaut, dass sie nicht am Hungertuch nagen müssen …»

«Herr Ritter, dieses Beziehungsgeflecht zeigt Wirkung. Herr Delacroixriche wird heute gegen zehn Uhr in Gstaad aufkreuzen. Und jetzt decken Sie mich nicht mit Formellem ein, Herr Ritter: Ich musste ihm zugestehen, dass er während der Hausdurchsuchung anwesend sein darf.»

«Wie bitte? Was wird er? Wissen das Binggeli und Kellerhals vom KTD?»

«Nein, noch nicht, ich will Ihnen ja nicht die ganze Arbeit abnehmen, Herr Ritter …» Regula Wälchli blickte schmunzelnd und mit Augenzwinkern zu ihrem Chef hinüber. «Frau Staatsanwältin immer sehr viel lustig … Darf er uns auch Anweisungen geben, wie wir zu arbeiten haben?»

«Jetzt seien Sie doch nicht gleich eingeschnappt, Herr Ritter, mir passt das auch nicht. Aber eben. Delacroixriche wollte übrigens auf Geheiss von Ugromow Ihre Arbeit filmen, das zumindest habe ich ihm aber verboten. Und er scheint es auch begriffen zu haben. Warten Sie also mit der Hausdurchsuchung, bis Delacroixriche eintrifft. Ich komme erst zur Lagebesprechung um fünf. Sind Sie damit einverstanden?»

«Es wird mir ja kaum etwas anderes übrigbleiben, Frau Horat. Ich bin also gespannt, was wir inzwischen noch alles erleben. Bis später!», sagte Ritter und beendete das Gespräch.

«J. R., reg dich nicht auf, sonst wirst du noch zu Russlands Staatsfeind Nummer eins deklariert, durch die Elitetruppe Omon in einer Nacht-und-Nebel-Aktion nach Sibirien entführt und in ein Straflager gesteckt», sagte Wälchli. Ritter lächelte lediglich leicht resigniert.

Regula Wälchli benutze daraufhin die Gelegenheit, den Polizeiposten in Gstaad anzuwählen. Dort bat sie Monika Grünig, ihr und J. R. in einem Bed & Breakfast zwei Einzelzimmer zu reservieren, wenigstens bis Freitag, danach würde man weitersehen. Monika Grünig konnte umgehend helfen, denn ihre Eltern boten in ihrem Chalet Alpeblick einige Zimmer an.

«Super, danke schön», freute sich Wälchli, «wir sind in einer Viertelstunde bei euch auf dem Posten.»

Um 8.45 Uhr fuhren Ritter und Wälchli durch Saanenmöser und Schönried und stelten ihren Wagen wenig später ihren Wagen auf dem Parkplatz vor dem Feuerwehr- und Polizeiareal in Gstaad. Punkt 9 Uhr servierten die Kollegen im ersten Stock Kaffee und Gipfeli.

«Service spécial pour nos amis», sagte Michel Chevalier lächelnd.

Weil sich nicht alle Anwesenden kannten, folgte eine kurze Vorstellungsrunde: Robert Käser, Armin Ummel, Michel Chevalier und Monika Grünig vom Polizeiposten Gstaad, Dominik Gfeller, Beat Frei und Chantal Burri von der Regionalpolizei Thun, Eugen Binggeli und Georges Kellerhals vom KTD, Regula Wälchli und Joseph Ritter vom Dezernat Leib und Leben aus Bern, Gabriela Künzi und Ursula Meister vom Mediendienst der Kapo Bern sowie Richard Müller von Gstaad Watch. Es fehlten an diesem Vormittag Veronika Schuler vom IRM, der Regierungsstatthalter Obersimmental-Saanen und – wenigstens bis zum Rapport um 17 Uhr – Staatsanwältin Christine Horat.


Die restriktiven Bauvorschriften der Gemeinde Saanen gelten nicht nur am noblen Oberbort. Die Migros Gstaad muss deshalb ihren grossen Laden im Untergeschoss der eigenen Liegenschaft betreiben.

«Falls niemand etwas dagegen einzuwenden hat, schlage ich vor, dass Joseph Ritter den Vorsitz übernimmt, alle Informationen bündelt und die Aktionen koordiniert», sagte Gruppenchef Robert Käser. Alle nickten zustimmend.

J. R. fasste die Ereignisse kurz zusammen.

«Wir haben eine bisher unbekannte Tote, bei der es sich möglicherweise um die vermisste Valeria Morosowa handeln könnte, das wissen wir im Moment nicht. Der Besitzer des Chalets, vor dem die Tote in einem Schneemann vergraben wurde, Witali Ugromow, macht von seinem Recht auf Aussageverweigerung Gebrauch und wird in Abwesenheit von seinem Rechtsanwalt vertreten, von Maître Jean-Claude Delacroixriche aus Genf. Dieser wird gegen zehn Uhr hier eintreffen und bei der Hausdurchsuchung anwesend sein.»

«Was wird Monsieur Delacroixdingsda?», rief Eugen Binggeli entsetzt. «Habe ich mich verhört? Was ist das jetzt Neues? Weiss die Staatsanwaltschaft davon?» «Ja, der Befehl kommt von Frau Horat, ist eine längere Geschichte. Der Durchsuchungsbeschluss müsste eigentlich per Mailanhang angekommen sein.»

«Ist er auch, J. R.», bestätigte Käser.

«Heute geht es darum, erste Erkenntnisse zum Tathergang in Erfahrung zu bringen. Ich denke, dass Delacroixriche uns einiges erzählen wird, vor allem, um seinen Mandanten so schnell als möglich vom Täterkreis auszuschliessen. Ich lasse mich einfach überraschen und werde deshalb bei der Hausdurchsuchung ebenfalls anwesend sein.»

Ritter teilte nun die Anwesenden in Zweierteams auf, um Befragungen in der Nachbarschaft durchzuführen.

«Röbu, wen kannst du aus deinem Team delegieren? Ich denke, wir brauchen zwei Leute.»

«Dann ist die Auswahl nicht schwer: Monika und Michel. Armin und ich halten derweil die Stellung, wir können euch ja kontaktieren, falls Ausserordentliches passiert. Siebi Heiri kommt ja auch noch vorbei.»

Die drei neu gebildeten Teams teilten das Gebiet rund um das Chalet Swoboda für Befragungen untereinander auf und machten sich auf den Weg ins Oberbort, als ein sichtlich genervter Herr um die sechzig eintraf.

«Bonjour, je m’appelle Delacroixriche, avocat de Monsieur Ugromow», stellte sich der Mann vor.

«Quelle surprise! Wer hätte das gedacht?» Dieser Gedanke lag Ritter zuvorderst auf der Zunge, er verzichtete jedoch auf die Provokation und entgegnete: «Danke, dass Sie gekommen sind, Maître Delacroixriche, darf ich Ihnen meine Kollegen vorstellen?»

Es dauerte keine 30 Sekunden, bis die Deutschschweizer bemerkten, dass der Anwalt Hochdeutsch beherrschte.

«Der guten Ordnung halber überreiche ich Ihnen hiermit den Durchsuchungsbeschluss für das Chalet Swoboda. Ich denke, dass Ihre Zeit kostbar ist, Maître Delacroixriche, deshalb sollten wir uns sofort auf den Weg machen.»

Bevor Ritter nach allen anderen das Zimmer verliess, flüsterte ihm Mediensprecherin Ursula Meister etwas zu. Er nickte nur kurz, schien dabei nicht besonders erfreut zu sein und antwortete, ebenfalls im Flüsterton.

Mit zwei Autos fuhren Eugen Binggeli, Georges Kellerhals, Richard Müller, Jean-Claude Delacroixriche und Joseph Ritter los, zwei Minuten später parkierten sie die Fahrzeuge vor dem Chalet von Witali Ugromow, nachdem die beiden Gstaad-Watch-Securityleute sie hatten passieren lassen. In der Nähe, aber dieses Mal ausserhalb der Sperrzone, stand bereits Jungspund von Allmen, sprungbereit, um weitere Informationen für seinen morgigen Artikel im Anzeiger von Saanen aufzuschnappen, natürlich möglichst exklusiv und inoffiziell. In diesem Moment waren Gabriela Künzi und Ursula Meister daran, das offizielle Mediencommuniqué per Mail zu verschicken. Damit wollten sie vor allem denjenigen Online- und Boulevardjournalisten zuvorkommen, die angebliche – und in vielen Fällen erfahrungsgemäss leider mit Spekulationen angereicherte – Primeurs zu veröffentlichen gedachten. Der Text war knapp gehalten:

«Wie die Kantonspolizei Bern mitteilt, wurde in der Nacht von Sonntag, 16. auf den Montag, 17. Februar in Gstaad im Gebiet des sogenannten Oberbort eine noch unbekannte Tote entdeckt. Erste Erkenntnisse weisen darauf hin, dass die Frau durch äussere Umstände ums Leben gekommen ist. Die Tote hatte lange blonde Haare, trug blaue Jeans und einen grauen Rollkragenpullover. Sachdienliche Mitteilungen werden erbeten an die Kantonspolizei in Gstaad oder an jede andere Polizeidienststelle.»

«Mögliche weitere Erkenntnisse», schrieben Künzi und Meister im Anschluss an das Communiqué, «werden wir an einer Medieninformation um 14 Uhr bekanntgeben. Diese findet heute Montag im grossen Sitzungszimmer auf dem Aussenposten der Kantonspolizei in Gstaad statt.» Aus ermittlungstaktischen Gründen würde es noch nicht möglich sein, unmittelbar beim Fundort der Leiche Foto- oder Filmaufnahmen zu realisieren.

Die beiden Medienprofis der Kapo Bern arbeiteten schon einige Jahre zusammen und wussten genau um das Szenario: Nach zehn Minuten rief der erste Radiojournalist an, mit der Bitte um «ein Interview für die Mittagsnachrichten» was natürlich nicht möglich sein würde, angesichts der offiziellen Verlautbarungen um 14 Uhr, gefolgt von vielen weiteren Spezialwünschen, également en français, weil die Sprachgrenze in unmittelbarer Nähe zum Saanenland lang.

«Weiss J. R. schon von seinem Glück, dass er die Medieninfo leiten darf beziehungsweise muss?», wollte Gabriela Künzi von ihrer Kollegin wissen.

«Ja, ich habe es ihm husch, husch gesagt, bevor er abgefahren ist. Er ist spätestens um ein Uhr zurück. Du kannst ihm beistehen, ich mache mich noch während der Medieninfo auf ins Oberbort, weil der eine oder andere Journalist ja bestimmt vor den Absperrungen Aufnahmen machen oder ein Statement will. Okay für dich?»

«Klar doch, geng wie geng. Jetzt hoffen wir doch bloss, dass keiner der vielen Promis denen ins Bild läuft, sonst haben wir dann entsprechende Schlagzeilen.» «Die gibt es wohl auch so, fürchte ich, das Oberbort legt ja den roten Teppich dafür aus.»

Armin Ummel und Robert Käser, die beiden Hüter des Gstaader Büros, hatten den Dialog der beiden Medienfachfrauen mitbekommen und konnten sich ein gegenseitiges Schmunzeln nicht verkneifen. «Lieber die als wir», dachten wohl beide.

«Herr Müller, darf ich Sie jetzt bitten, die Türe zur Einstellhalle zu öffnen», bat Ritter den Chef von Gstaad Watch «Im Weiteren können Sie anschliessend über Ihre Zeit verfügen, ich rufe Sie an, wenn wir hier fertig sind. Übrigens, wie erklären Sie sich, dass kein Alarm ausgelöst wurde, als die Tote vergraben wurde?»

Darauf wusste «Ritschi» Müller keine Antwort. Nachdem er bestätigt hatte, dass alle Alarmanlagen abgeschaltet wurden und sämtliche Räume von der Einstellhalle frei zugänglich ohne weitere Schlüssel oder Nummernkombinationen begehbar waren, verliess er das Gelände. Müller marschierte zu einem seiner beiden Mitarbeiter, die vor dem Haus Swoboda Wache hielten: «Keine besonderen Vorkommnisse während der Nacht, sieht man von zwei unangenehmen Typen ab, vermutlich Russen, die erfolglos zum Chalet fahren wollten, ohne Angabe von Gründen, worauf sie wieder wegfuhren», vermeldete dieser. Müller bat ihn, eine Ablösung für sich und seinen Kollegen zu organisieren, «voraussichtlich bis sechs Uhr abends».

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