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Wiesbaden

Donnerstag, der 16. September

Nach dem Gespräch mit Ecki Winterstein fuhr Norma nach Hause, um eine Reisetasche zu packen. Während sie einige Kleidungsstücke zusammensuchte, dachte sie über den Auftrag nach. Hatte sie unüberlegt eingewilligt? Sicherheitsbeauftragte für eine Filmcrew, eine Bezeichnung, die alles und nichts bedeuten konnte. Reizvoll war daran vor allem die Aussicht, die kommenden Tage im Umkreis eines Tatorts zu verbringen. Tief in ihrer Brust schlug nun einmal das Herz einer passionierten Mordermittlerin. Zumal sie dem Opfer im wahrsten Sinn des Worts hautnah gekommen war. Ein Mann in den besten Jahren hatte auf grausame Weise sterben müssen. Was verrieten die Umstände, die es in den Tod befördert hatten, über das Opfer? Was sagte die Tötungsart über den Täter aus? Dass er kräftig sein musste zum Beispiel und kaltblütig genug, um einen Mann – nur durch eine Kirchenmauer von knapp 1.000 Menschen getrennt – zu strangulieren. War der Kahlköpfige ein Zufallsopfer? Oder hatte der Mörder ihm gezielt aufgelauert? In diesem Fall hatte er den Winzer womöglich aus der Basilika zur Klostergasse hinausgelockt.

Sie stellte die gepackte Tasche aufs Bett, hockte sich daneben und nahm ihr Smartphone zur Hand. Das digitale Presseportal des Polizeipräsidiums Westhessen verkündete im »Mordfall Winzer« keine Neuigkeiten, was nichts bedeuten musste. Norma konnte ihre Ungeduld nicht länger beherrschen. Wolfert oder Milano, überlegte sie. Der schwergewichtige Kommissar gefiel sich in der Rolle des Wissenden und ließ sich interne Informationen mit Schmeicheleien entlocken. Im Gegenzug würde sie sich seine rauen Pöbeleien anhören müssen. Bei Wolfert hatte sie einen dicken Stein im Brett, was ihn jedes Mal aufs Neue in die Bredouille brachte, wenn er zwischen Freundschaft und der Verschwiegenheit des korrekten Beamten abwägen musste. Welche Seite gewinnen mochte, ließ sich nicht vorhersagen. Ein flinkes Tippen und Wolfert war am Telefon. Nach der erfreuten Begrüßung schlich sich eine hörbare Anspannung in die Stimme. Er stecke mitten in den Vorbereitungen für eine Vernehmung.

»Ihr habt schon einen Verdächtigen?«

»Allerdings, und die Meldung geht heute noch an die Öffentlichkeit. Die Leute warten ungeduldig auf erste Ergebnisse. Bis dahin behalte es für dich.«

»Dirk, du weißt, ich kann schweigen wie ein Grab. Also?«

»Was also?«, fragte er unwillig.

»Wer A sagt, muss auch B sagen«, versuchte sie, ihm Informationen zu entlocken. »Bitte, spann mich nicht auf die Folter. Wen habt ihr im Visier?«

Das unwillige Murren hätte von Milano stammen können. Auf eigenartige Weise schienen sich die Kommissare mehr und mehr anzugleichen.

Widerstrebend gab Wolfert ein weiteres Detail preis. »Der Verdächtige ist ein Weinbauer, er wohnt in der Nähe des Klosters. Über Jahre lag er im Clinch mit seinem Nachbarn.«

»Was du nicht sagst! Und dieser streitbare Nachbar war unser Toter? Axel Teubener?«

»Korrekt. Teubener hat die Leute nebenan, ein Winzerpaar, aufs Übelste schikaniert. Er terrorisierte regelrecht deren Kundschaft, das ging an die berufliche Existenz. Zu allem Unglück kam die Frau unseres Verdächtigen ums Leben, unmittelbar nach einer Auseinandersetzung mit Teubener, was er diesem anlastet. Die Frau erwartete ein Kind! Wen wundert’s, wenn so jemand rotsieht?«

»Hört sich furchtbar an. Was habt Ihr Handfestes gegen ihn?«

»Norma!«

»Ach, komm schon!«

»Also gut, so viel darf ich dir verraten: Teubener wurde mit einem Stück Weinbergdraht zum Tode befördert.«

»Hmm, so ein Draht ist vermutlich in jedem Weingut zu finden.«

Sein Seufzer hörte sich enttäuscht an. »Unser Pech. Ein absolut übliches Produkt. Wir haben die Schlinge in der Klostergasse gefunden.«

»DNA? Fingerabdrücke?«

»Negativ«, brummte Wolfert. »Der Täter war vorsichtig.«

»Was sagt euer Mann?«

»Daniel Lenges verweigert jede Aussage.«

»Danke für den Namen«, erwiderte sie verblüfft.

Wolferts leises Lachen drang an ihr Ohr. »Den Namen hättest du mit einem Klick selbst herausgefunden. Du muss im Netz nur nach ›Winzerquerelen im Rheingau‹ suchen.«

Genau das tat Norma, nachdem sie sich von Wolfert verabschiedet hatte. Sie wechselte vom Bett an den Küchentisch und ging, von frisch gebrühtem Espresso belebt, die lange Ergebnisliste zum Winzerstreit durch. Die seriösen Quellen begnügten sich damit, die Kontrahenten als »Axel T.« und »Daniel L.« zu bezeichnen. Andere Medien scheuten nicht davor zurück, die vollständigen Namen zu nennen. Die Weingüter Teubener und Lenges lagen zentral zwischen den Winzerstädtchen Hallgarten, Hattenheim und Kiedrich, wie Norma anhand der Onlinekarte sehen konnte: in nachbarschaftlicher Alleinlage inmitten von Rebhängen und nur wenige Kilometer Luftlinie entfernt vom Kloster Eberbach. Als Auslöser des Streits, so stand es in den Onlineberichten einhellig zu lesen, galt die schicke Neugestaltung der Gutsschänke im Weingut Lenges. Mit der »extravaganten Edel-Vinothek mit Traumausblicken auf Rheintal und Rebstöcke«, wie ein Journalist euphorisch berichtete, habe die Straußwirtschaft des Nachbarhofs nicht mithalten können. Eine Einschätzung, die Norma nach einem Blick auf die Webseiten der Weingüter nur teilen konnte. Anstatt sich wie bei Lenges zwischen gediegenen Bruchsteinwänden, schimmerndem Holz und edlem Leder mit einem Schoppen niederzulassen, musste man sich nebenan im abgewirtschafteten Gastraum zwischen Gelsenkirchener Barock, schmiedeeisernen Deckenlampen und geblümten Gardinen zuprosten. Während sich das Winzerpaar Lenges vor Buchungen kaum habe retten können, sei die Bude nebenan leer geblieben, vermeldete ein Artikel im Netz. Der schöne Schein war nicht alles gewesen. Zwischen den Zeilen ließ der Verfasser durchblicken, dass Winzermeister Teubener selbst seine treusten Gäste mit schlechter Laune vergrätzt und regelrecht zu den Nachbarn hinübergetrieben habe.

Weitere Berichte beschrieben den Unfall, der Daniels Ehefrau das Leben gekostet hatte. In Steillage war ein Traktor umgestürzt und hatte Alina Lenges unter sich begraben. Die schwangere 26-Jährige verstarb kurz darauf im Krankenhaus. Der Fahrer des Traktors war ihr eigener Ehemann gewesen. Hatte Wolfert nicht gesagt, dass Lenges den Tod seiner Frau dem zänkischen Nachbarn anlastete? Bevor Norma herausfinden konnte, inwieweit Axel Teubener in das Unglück verwickelte war, unterbrach ein Anruf ihre Nachforschungen. Es war Winterstein, der sie zum Mittagsessen einlud. Bei der Gelegenheit wollte er sie dem Team als neue Kollegin vorstellen. Norma versprach, sich in Kürze auf den Weg zu machen. Sie spülte die Tasse ab, verstaute das Tablet in der Reisetasche und drehte eine Runde durch die Wohnung, um nachzusehen, ob alle Fenster geschlossen waren. Auf dem Dachfenster im Schlafzimmer zeichnete sich ein dicker, dunkler Kloß ab: Kater Leopold im Gegenlicht. Mit einem gnädigen Maunzen sprang er ihr in die Arme, nachdem sie ihm geöffnet hatte. Mit dem gewichtigen Kartäuser über der Schulter schloss sie das Fenster wieder, nahm die Reisetasche auf und verließ die Wohnung.

Eine Etage tiefer, im mittleren Stockwerk, klingelte sie bei Eva und überreichte ihr den Kater mit der Erklärung, sie habe einen Auftrag und wohne deswegen für eine Weile im Rheingau. Dabei fiel ihr ein, dass sie nicht darüber gesprochen hatten, wann Eva ausziehen wollte.

»Frühestens im Oktober«, antwortete Eva.

Norma kraulte den Kater zum Abschied zwischen den Ohren, wünschte Eva einen schönen Tag und machte sich auf den Weg nach Eberbach – mit gespannter Erwartung, was der Job als Sicherheitsbeauftragte bereithalten würde.

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Heilanstalt Eberbach

Montag, der 9. Juli 1832

Philipp Lindpaintner schwingt den Spazierstock, schreitet mit wippendem Gehrock weit aus und schlägt einen Bogen um zwei Frauen, die vor dem Hospital in eifriger Geschäftigkeit die Hofbesen zum Einsatz bringen. Die Ältere, deren aufgerollter Zopf sich in grauen Strähnen verliert, hält inne und schaut schüchtern zu ihm auf. Die Jüngere rafft eilig Rock und Schürze zusammen und sinkt zu einem Knicks nieder. Gerührt von der Ehrerbietung schenkt der Direktor den fleißigen Patientinnen ein gütiges Nicken. Mit einer aufmunternden Bemerkung erwidert er die scheuen Grüße dreier Männer, die damit beschäftigt sind, die Mauern eines Stalltrakts mit Kalk zu weißen. Der weitere Weg führt ihn durch die Gärten und Obstwiesen hinauf zum stattlichen Barockportal, das in spielerischer Verschwendung auf den Ursprung des Klosters hinweist. Präzise herausgearbeitet aus dem roten Sandstein, lassen sich im Giebel ein Bach mit zwei prächtigen Fischen sowie der Eber ausmachen, denen das Kloster seinen Namen verdankt. Der Direktor war nicht gekommen, um in aller Muße die lateinische Inschrift zu studieren. Mehrmals zieht er eine goldene Taschenuhr aus der Westentasche und schaut ungeduldig umher, bis ein Geräusch seinen Blick auf eine Reihe schmaler Steinstufen lenkt. Die Treppe führt den Abhang neben dem Tor nach oben und in den Wald hinauf. Hinter den Bäumen sind Schritte zu hören, gleich darauf steigt ein Mann die Stufen herab. Der Fußgänger wirkt derangiert, als hätten ihm die sommerlichen Temperaturen zugesetzt. Auf der grauen Weste, die den Bauch mit zu wenig Stoff überspannt, zeichnen sich Schweißflecken ab. Heller Staub bedeckt den schwarzen Frack, und auch die hochgeschnürten Beinkleider sind verschmutzt. Um ein Haar wäre der Mann ins Stolpern geraten.

»Dr. Windt!«, ruft Lindpaintner ihm zu. »Sind Sie wieder einmal den ganzen Weg von Eltville gelaufen?«

Erschöpft bewältigt Windt die letzten Stufen. Im Näherkommen hebt er grüßend den Zylinder an. »Hätten Sie Ihrem Anstaltsarzt nur einen Wagen geschickt! Warum wollten Sie mich sprechen? Es gibt hoffentlich keinen Notfall unter unseren Irrsinnigen?«

»Keine Sorge, Doktor«, beruhigt ihn Lindpaintner. »Die Patienten befinden sich alle wohlbehalten an der frischen Luft. Ein jeder geht der ihm zugewiesenen Beschäftigung nach.«

»Ihr Verdienst, mein Freund, Ihr Verdienst! Ohne Ihre Beharrlichkeit und Weitsicht würden die bedauernswerten Geschöpfe wie in den Jahrzehnten zuvor in Ketten und in Kerkern schmoren.«

»Ein Irrenhaus darf kein Gefängnis sein«, erklärt Lindpaintner nicht ohne Pathos. »Das war mein Ansinnen, als ich meine Stellung vor 15 Jahren antrat. Ich wollte nicht, dass der Ausblick ins Freie an ein Verlies erinnert.«

»Eine menschliche Entscheidung«, bemerkt der Doktor mit leichtem Lächeln. »Auch Ihre anderen Neuerungen sollten Schule machen. Dass Sie unsere kranken Schützlinge nicht mehr mit gemeinen Straftätern zusammensperren wie andernorts, hat Ihnen auf jeden Fall meine persönliche Anerkennung eingebracht.«

Lindpaintner bedankt sich für das Lob. »Allerdings bedurfte es keiner besonderen Maßnahmen, nur einer Zwischenwand in der früheren Abtei. So wurden Gefängnis und Anstalt getrennt, und Patienten wie Korrektionäre bleiben unter sich.«

Wieder lupft der Doktor den Zylinder, um ihn dieses Mal nach intensivem Kratzen des grauen Haarschopfs zurück an seinen Platz zu drücken, ohne dafür die andere Hand in Anspruch zu nehmen. »Erlauben Sie mir ein persönliches Geständnis, mein lieber Lindpaintner. Ich habe meinen Dienst in der Anstalt ein Jahr später als Sie angetreten und muss demütig einräumen, damals plagten mich ernste Zweifel, ob ein Bursche von 23 Jahren und zudem nicht Arzt, sondern Jurist, der richtige Mann für deren Leitung wäre. Aber, Gott zum Lob, Ihre Schaffenskraft hat mich vom Gegenteil überzeugt.«

»Danke, danke«, erwidert Lindpaintner sichtlich geschmeichelt. »Unser durchlauchtigster Fürst bot mir anno 1817 die großherzige Gelegenheit, meine dürftigen Talente in diese wichtige Aufgabe einzubringen.«

»Nur keine falsche Bescheidenheit«, gibt Windt entschieden zurück. »Ohne Ihr pädagogisches Prozedere würde ein alter Quacksalber wie meine Wenigkeit in schwierigen Fällen wohl weiterhin vor allem auf Brenneisen, Schröpfkuren und Narrenkappen setzen. Womit ich nicht sagen möchte, dass man, bei aller gebotenen Menschlichkeit, grundsätzlich auf Zwangsmittel aller Art verzichten könnte.« Dabei schüttelt er mit gespielter Drohung den Zeigefinger und zwinkert Lindpaintner schelmisch zu.

»Ganz im Sinne und zum Wohl des Kranken, sofern er sich nicht uneinsichtig zeigt«, pflichtet Lindpaintner dem Mediziner bei. »Ungehorsam ist bei keinem Geisteskranken zu dulden. Ohne Strafe keine Heilung, nicht wahr?«

Windt lockert den bis zum Kinn aufragenden Vatermörder etwas, um sich Luft zu verschaffen. »Was für eine Hitze. Erhielten Sie Nachrichten aus dem Fürstenhaus?«

Ein Strahlen erfasst das Gesicht des Direktors. »Deswegen ließ ich nach Ihnen schicken! Endlich ist die Depesche der Fürstin Marie zu Wied eingetroffen. Die durchlauchtigste Familie hat unserem Angebot entsprochen.«

»Donnerwetter«, entfährt es dem Doktor. »Das heißt, die Schwiegermutter der Fürstin Marie wird tatsächlich nach Eberbach übersiedeln. Wo wird die Dame residieren? Hat die fürstliche Familie ihre Wahl getroffen?«

»Fürstin Marie zu Wied ließ mir mitteilen, man habe sich für den Gaisgarten als Wohnsitz der Schwiegermutter entschieden. Ein guter Ort, denke ich. Nahe genug gelegen, um die Patientin mit allem Nötigen zu versorgen, und zugleich weit genug entfernt von allen anderen Insassen. Fürstin Sophie wird mit einer Gesellschafterin ins Obergeschoss einziehen, unten wohnt ein Dienerpaar. Diese Leute habe ich bereits eingestellt.«

»Und wann dürfen wir die Verwirrte erwarten?«

»Heute in einer Woche, am 16. Juli. Fürstin Sophie wird direkt aus Siegburg anreisen.«

»Weil die Kollegen der dortigen Anstalt ihr unheilbaren Wahnsinn diagnostizierten, wurde sie als Patientin aufgegeben«, bedauert Windt verständnislos. »Nun, bei Ihnen und mir wird die Fürstin in den besten Händen sein. Wir kümmern uns schließlich auch um solche Kranken, die in ihrem Wahn gefangen sind, gleichwohl aber weiterhin betreut werden müssen. Das Finanzielle ist ebenso geregelt?« Sein begieriger Blick streift den Direktor.

»Es wird weder zu Ihrem Nachteil noch zum Schaden der Anstalt sein, wenn wir eine so hochgeborene Patientin beherbergen«, lautet Lindpaintners zufriedene Antwort. »Die Schwiegertochter hat keinen Zweifel daran gelassen, wie sehr ihr am Wohlergehen der Fürstin gelegen ist. Das Salär ist, sagen wir, mehr als angemessen.«

»Fürstin Marie muss sich nicht sorgen«, verspricht Dr. Windt zuversichtlich. »Ich werde Fürstin Sophie wöchentlich mit meiner Visite beehren und jederzeit zusätzlich, wenn es gewünscht oder notwendig ist. Für die einzige Eberbacher Privatpatientin lasse ich alles stehen und liegen.« Zufrieden lächelt er in sich hinein, als überschlage er im Stillen seine Honorarforderungen.

Lindpaintner nickt zustimmend. »Eins noch, Dr. Windt. Die ehrwürdige Dame wird inkognito bei uns leben. Die Fürstenfamilie bittet darum, die Patientin als ›Frau Sophia von Roth‹ zu führen.«

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Kloster Eberbach

Donnerstag, der 16. September

Lindpaintner und Dr. Windt im Dialog unter dem Barocktor. Vor seinem inneren Auge ließ Ecki den Direktor und seinen Anstaltsarzt weiterparlieren. Die historischen Figuren seines Filmprojekts waren ihm ans Herz gewachsen, seit er sie in seiner Fantasie auferstehen ließ. Genau so müsste das Gespräch ablaufen. Genau so wäre die Szene perfekt!

Ecki hatte es sich im Wohnwagen auf der Schlafcouch bequem gemacht und genoss das wohlige Glücksgefühl, das der imaginierte Ablauf in ihm hinterlassen hatte. Er hatte keine Vorstellung davon, wie andere Regisseure bei der Umsetzung ihrer Projekte vorgehen mochten, und es war ihm sowieso komplett egal. Was kümmerten ihn die Methoden der Konkurrenz? Lieber verließ er sich auf die eigene Inspiration. Bis ins Detail erarbeitete er sich jede Szene in seiner Vorstellungskraft. Ein ebenso erfüllender wie anstrengender Schaffensprozess, während dem er tagelang an den Einzelheiten feilte, bis jedes Wort, jede Geste, jeder Blick mit seinen ästhetischen und logischen Ansprüchen übereinstimmte – und nur noch von den Schauspielern umgesetzt und nachgespielt werden musste.

Doch in diesem »nur noch« lag der Hund begraben. Die vorkonzipierten Abläufe quasi aus seinem Kopf heraus in die der Schauspieler hineinzutransportieren, kostete Nerven. Darsteller zu sein, das bedeutete nichts anderes, als eine Leinwand zu sein: willfährige Marionetten im Dienst der Kunst. Zu seinem Leidwesen begriffen viele Darsteller diese simplen Zusammenhänge nicht. Nicht hinter jedem schönen Gesicht verbarg sich ein heller Verstand. Vor allem bei Marielle Dyckerborn – seiner irrsinnigen Sophia von Roth – machte er sich auf reichlich Schatten im Denkapparat gefasst. Er hatte sie zum ersten Mal engagiert. Was Ecki außerdem nicht ertrug, waren Akteure mit eigenen Einfällen und womöglich sogar Vorschlägen. Wer mit ihm arbeiten wollte, hatte sich seinen Anweisungen ohne Wenn und Aber zu fügen!

Der Durst trieb ihn auf die Beine. Während er den Wasserkocher auffüllte und sich an der Teekanne zu schaffen machte, sinnierte er über seine männlichen Hauptdarsteller nach. Sören I. Wahler würde es auf Anhieb gelingen, dem Anstaltsarzt Windt einen liebenswürdigen Zynismus zu verleihen. Daran zweifelte Ecki nicht. Bedauerlicherweise neigte ausgerechnet er zum Diskutieren und Zerreden. Sören hatte sich jedoch bei früheren Produktionen durch gezielte Wutausbrüche einschüchtern lassen. Und Roman Bonheur? Würde sich der Bühnenstar bereitwillig unterordnen und Philipp Lindpaintners ebenso menschenfreundliche wie pedantische Charakterzüge glaubhaft herausarbeiten? Oder käme Bonheur daher wie eine preisgekrönte Theatergröße? Auftrumpfend und besserwisserisch?

Eckis Enthusiasmus angesichts der Aussicht, mit einer solchen Berühmtheit zu arbeiten, begann zu schwinden. Wolfgang Bastiani fehlte ihm! In der Rolle des Direktor Lindpaintner wäre er grundsolide und ohne künstlerische Sperenzien aufgegangen. Zwar lag sein schauspielerischer Ruf vom Renommee eines Kalibers wie Bonheur so weit entfernt wie die Erde vom Mars. Doch er war den Fernsehzuschauern dank seiner permanenten Präsenz auf dem Bildschirm vertraut wie ein guter Nachbar. Eine Popularität, die vor allem den zahlreichen Wiederholungen geschuldet war, aber in jedem Fall dem Dokudrama zugutegekommen wäre. Damals auf der Schauspielschule – einem sündhaft teuren, privaten Institut, das sie vor Jahrzehnten gemeinsam besucht hatten – war Bastiani mit Charme und Spiellust als ein Schwan unter Enten aufgetreten. Ecki hatte zweifellos zu den Enten gehört. Als ihnen das Schulgeld ausging, bot man Bastiani ein Stipendium an, und Ecki wechselte zur Filmhochschule: dank der goldrichtigen Erkenntnis, dass seine Talente hinter der Kamera zu finden waren. Während seiner letzten Produktion war Ecki aufgefallen, dass Bastiani nicht mehr mit vollem Herzen bei der Sache war. Er gefiel sich besser in der Rolle des Cowboys, der seiner Squaw das Lagerfeuer warmhielt. Wobei zu seinem unbeschwerten Leben der Umstand beitragen mochte, dass die Ehefrau als erfolgreiche Unternehmensberaterin das Bankkonto füllte. Der Rolle des Anstaltsdirektors hatte Bastiani vor allem aus Bequemlichkeit zugestimmt. Er hätte nicht einmal ins Hotel ziehen müsste. Sein Ponyhof lag keine halbe Autostunde vom Kloster Eberbach entfernt. Hätte der Cowboy nur nicht beim Rodeo versagt!

Mit dem aufgebrühten Tee in der Hand setzte Ecki sich an den Tisch und schaffte mit wenigen Handgriffen zwischen Notizzetteln und Skizzen Platz für Kanne und Becher. Liebte er nicht die Herausforderung? Mit Bonheur würde er schon fertigwerden, auch wenn es krachen könnte. Waren die Szenen erst einmal im Kasten, hatten sich alle wieder lieb. So war es immer. Während er den heißen Kräutersud schlürfte, drehten sich seine Gedanken um die Privatdetektivin. Eine abgehalfterte Hauptkommissarin, psychisch am Ende nach einer Entführungsgeschichte in Südamerika: Diese Einschätzung hatte sich ein Polizist aus dem Wiesbadener Präsidium aus der Nase ziehen lassen. Wollte man dagegen dem Verleger Lutz Tann Glauben schenken, gehörte Norma Tann zu den hellsten Kerzen auf der Torte. Ecki beschloss, die Ex-Polizistin irgendwo dazwischen einzuordnen. Um die Bedenken der Crew zu entkräften, sollten ihre Fähigkeiten hoffentlich ausreichen. Und wie stand es um seine eigene Sicherheit? Darum müsste er sich selbst kümmern.

Eiskalt schlich sich die Angst in sein Herz.

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Дата выхода на Литрес:
25 мая 2021
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264 стр. 7 иллюстраций
ISBN:
9783839267684
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