Читать книгу: «Mord im Kloster Eberbach», страница 2

Шрифт:

4

Der Film endete mit einer bombastischen Feuersbrunst. Da Norma, Lutz und Timon in einer der hinteren Reihen gesessen hatten, gehörten sie nun zu den Ersten, die in die Klostergasse zurückkehrten. Sie waren noch nicht an der Treppe angelangt, als ihnen Hilferufe entgegenschallten. Endlich erreichten sie die oberen Stufen. Die Aufregung draußen schien enorm zu sein.

»Hilfe, hierher! Helfen Sie dem Mann!«

»Schnell, das ist ein Notfall!«

Laute Stimmen tönten aus dem Säulengang. Zwischen den Holzpfosten drängten sich die Menschen zusammen. Timon schlängelte sich, nachdrücklich um Durchlass bittend, zwischen den Umstehenden hindurch. Norma folgte ihm auf dem Fuß, bis sich beide durchgezwängt hatten. Mehrere Personen hatten die hilfreiche Idee, den Bereich mit ihren Handytaschenlampen auszuleuchten. Auf den Steinplatten zwischen ihnen befand sich ein Mann. Er war von kräftiger Statur und lag mit seitlich ausgestreckten Armen auf dem Rücken. Auf den zweiten Blick wurde Norma klar, dass sie ihn kannte. Das nackte Haupt, das karierte Hemd. Unwillkürlich spähte sie zu der Holzsäule hinüber, konnte aus ihrer Perspektive leider nicht feststellen, ob die Zeichnung, die den Kahlköpfigen augenscheinlich gefesselt hatte, noch an ihrem Platz hing. Außerdem gab es jetzt Wichtigeres zu tun, als sich Gedanken über ein Stück Papier zu machen. Der Mann verharrte regungslos auf dem Pflaster. Vor seinem Kopf kniete eine Frau. Sie schien kaum älter als 30 und strahlte eine professionelle Nervenstärke aus, die darauf schließen ließ, dass sie keine Angehörige war. Die Handgriffe, mit denen sie sich am Hals des Liegenden zu schaffen machte, wirkten ebenso geübt wie umsichtig. Timon ging neben dem Mann in die Hocke. Norma kauerte sich auf die andere Seite. Im Zwielicht schimmerte das Gesicht des Fremden ungesund bläulich, und den Augen fehlte jeder Glanz.

»Ich bin Mediziner«, erklärte Timon, an die Frau gewandt. »Ich fürchte, wir sind zu spät?«

»Exitus«, bestätigte sie leise. »Ich war unter den Ersten hier draußen. Obwohl ich Notfallärztin bin, konnte ich nichts tun. Eine Reanimation war nicht möglich.«

»Ich habe ihn im Publikum gesehen«, sagte Norma und ergänzte auf Timons fragenden Blick: »Er war vor mir, bis wir in die Basilika hineingegangen sind.«

Timon beugte sich vor. »Frau Kollegin, was meinen Sie, woran …?«

»Überzeugen Sie sich selbst.«

Nun nahm auch Timon sein Smartphone hervor, aktivierte die Lampenfunktion und lenkte den Lichtschein auf die Kehle des Toten. Auf den Knien robbte Norma ein Stück vor. Um den dürren Vogelhals zog sich eine scharfe Linie, eine eingeschnittene Furche: blutrot, sehr tief. Dies war ein Tatort! Die Erkenntnis traf sie wie ein Blitz. Der plötzliche Tod des Mannes war keinesfalls die Folge eines Herzinfarkts oder einer Erkrankung. Jemand hatte den Kahlköpfigen erdrosselt! Mit den bizarren und schauerlichen Bildern des Mönchskrimis im Kopf erschien ihr die Situation surreal.

Die junge Ärztin zog denselben Schluss. »Das war Mord«, hauchte sie. »In meinem Beruf bekomme ich viel Schlimmes zu sehen. Verstümmelungen, Verbrennungen, Unfallopfer. Aber bisher niemanden, der aufs Brutalste stranguliert wurde.«

Früher waren verstörende Anblicke für Norma beinahe alltäglich gewesen. Über Jahre hatte sie als Kriminalhauptkommissarin in der Wiesbadener Mordkommission gearbeitet. Und auch danach, als Privatdetektivin, war ihr die Konfrontation mit Kapitalverbrechen nicht erspart geblieben. Ob man nicht abstumpfte mit der Zeit, wurde sie des Öfteren gefragt. Dabei war es genau umgekehrt, spürte Norma beim Anblick des Getöteten. Es wurde mit jedem Mordopfer schwerer.

Mit leichter Hand strich Timon der Ärztin über den Arm. »Kommen Sie, alles Weitere ist Sache der Polizei.«

Alle drei erhoben sich. Die junge Frau zog ihre Jacke aus und machte Anstalten, sie dem Toten über das Gesicht zu legen. Norma hielt sie zurück.

»Besser nicht«, warnte sie. »Der Täter hat möglicherweise Spuren auf der Haut und an der Kleidung hinterlassen. Die winzigste Faser könnte wichtig sein.«

»Sie haben recht«, antwortete die Ärztin. »Ich weiß, ich müsste hierbleiben, aber meine Kinder warten.«

»Gehen Sie nur«, sagte Norma. »Ich werde Ihre Adresse an die Polizei weiterleiten. Man kennt mich dort.«

Die Ärztin überließ ihr eine Visitenkarte und verabschiedete sich eilig. Der Tote sorgte für Aufsehen. Dass die Menschen einen angemessenen Abstand respektierten, war Lutz zu verdanken. Mit der ihm eigenen beharrlichen Höflichkeit hielt er die Neugier der Umstehenden im Zaum, bis vier Männer vom Veranstalterteam erschienen und diese Aufgabe übernahmen.

Die Ordnungskräfte waren in Begleitung einer Frau erschienen: eine Mitarbeiterin der Klosterstiftung, wie dem Namensschild an ihrem Blazer zu entnehmen war. Konzentriert lauschte sie in ihr Telefon hinein, um dann laut und deutlich zu antworten. »Ein Mann, soweit ich weiß, er liegt in der Klostergasse. Wie bitte? Ja, die Klostergasse, das ist ein Innenhof. Sie fahren über den Parkplatz geradeaus und an der Vinothek vorbei … Am besten, ich schicke Ihnen jemanden entgegen.«

Sie gab einem der Männer einen Wink, und er eilte davon. Danach wandte sie sich an Timon und Norma, die dem Toten nicht von der Seite gewichen waren.

»Der Krankenwagen ist auf dem Weg. Mein Name ist Katalin Schatzer«, erklärte sie und warf einen erschrockenen Blick auf den Fremden am Boden. »Was ist mit ihm? Er wird doch nicht … Er ist doch nicht … Um Himmels willen, ist er verstorben?«

»Ihm war nicht mehr zu helfen«, erklärte Timon mit ruhiger Stimme.

Katalin Schatzer griff sich bestürzt an den Kopf, fasste sich aber umgehend und forderte ihre Mitarbeiter auf, so rasch wie möglich Stellwände und Handleuchten herbeizuschaffen und den Säulengang abzuschirmen. Während sich die Angestellte den Vorfall von Timon beschreiben ließ, nahm Norma ihr Handy hervor und wählte eine Wiesbadener Telefonnummer: die Verbindung ins Polizeipräsidium Westhessen, der direkte Draht zu ihrem ehemaligen Arbeitsplatz. Als sie nach den Hauptkommissaren Dirk Wolfert und Luigi Milano fragte, hatte sie Glück. Ihre Ex-Kollegen waren für den Spätdienst zuständig. Kurz darauf dröhnte Milanos brummiger Bass in ihr Ohr.

»Wo brennt es?«, fragte er in gewohnter Knurrigkeit. »Habe ich unsere Verabredung verschwitzt? Dann beklage dich bei Dirk. Er koordiniert die Termine und hat mir nichts gesagt.« Seit sie nicht mehr im Polizeidienst war, trafen sie sich gelegentlich zum Abendessen. Die Tischbestellung lag in den Händen des peniblen Dirk Wolfert.

»Ich bin bei einem Filmabend im Kloster Eberbach«, erklärte Norma hastig. »Vor der Basilika wurde ein Mann umgebracht!«

»Bei Anruf Mord? Verdammt, Norma! Kannst du nicht einfach einen Diebstahl melden?«

Eilig fasste sie das Geschehen zusammen.

»Timon ist auch vor Ort?«, staunte Milano. »Die Privatdetektivin und der Tatortexperte des LKA Hessen stolpern über ein Mordopfer? Ich glaube, mich laust der Affe.« Seine Stimme nahm einen sachlichen Ton an. »Ihr haltet die Leute vom Tatort fern, ich schicke eine Streife voraus. Du sorgst dafür, dass nicht alles auseinanderläuft. Lass niemanden gehen! Dirk und ich brauchen 20 Minuten bis Eberbach.«

Norma wusste nur zu gut, wie entscheidend die ersten Schritte waren. Sie bat Katalin Schatzer um Unterstützung und machte sich gemeinsam mit Timon daran, Milanos Auftrag in die Tat umzusetzen.

5

Die gewaltige Gewölbehalle des Laienrefektoriums wurde zum Wartesaal jener Zuschauerinnen und Zuschauer, die Norma und Timon mithilfe des Ordnungspersonals hatten aufhalten können. Allerdings war damit nur knapp ein Viertel des Publikums zurückgeblieben. Alle Übrigen waren durch die anderen Ausgänge ins Freie gelangt und längst auf dem Heimweg. Norma mischte sich unter die Leute, die sich zwischen den gigantischen Weinpressen he­rumdrückten und sich in Geduld übten. Person für Person wurden Name und Adresse festgehalten. Eine Aufgabe, für die ein halbes Dutzend Schutzpolizisten der Rheingauer Polizeistationen angerückt war. Ausführliche Gespräche mit den Zeugen würden in den kommenden Tagen erfolgen und jede Menge Zeit sowie kriminalistisches Gespür erfordern, wie Norma aus eigener Erfahrung wusste. Als sie nach Ecki Winterstein und den Mitgliedern seines Teams Ausschau hielt, konnte sie keinen von ihnen entdecken. Vermutlich hatte sich der Regisseur seinen Leuten angeschlossen und die Basilika über den uralten Zugang zum Mönchsdormitorium verlassen, was aber kein Problem sein sollte. Die Mitglieder des Drehteams ließen sich leicht ermitteln.

Die Disziplin der Ausharrenden war bemerkenswert. Nörgeleien und Beschwerden blieben weitgehend aus. Im Großen und Ganzen schienen alle aufrichtig betroffen zu sein, dass ein Mensch zu Tode gekommen war, während sie sich mit dem Film vergnügt hatten. Wer über eine Wolldecke verfügte, wärmte sich damit die Schultern. Drei Mädchen in luftigen Sommerkleidern hatten dankbar die Plaids von Lutz entgegengenommen. Nun half er Katalin Schatzer und anderen Mitarbeiterinnen der Klosterstiftung dabei, die Menschen mit Kaffee und Tee zu versorgen.

Auf der Suche nach Timon verließ Norma das Laienrefektorium. Scheinwerfer tauchten die Klostergasse in helles Licht. Eine Polizeifotografin schoss eine Aufnahme nach der anderen. Weiße Kreidestriche auf den Sandsteinplatten kennzeichneten die Lage des Toten, dessen Leichnam bereits auf dem Weg in die Frankfurter Rechtsmedizin war. Rot-weiße Bänder sperrten den Bereich zwischen der Klosterkirche und dem Säulengang ab. Dahinter bewegte sich eine Schar in weiße Overalls gehüllter Gestalten: die Männer und Frauen der Wiesbadener Tatortgruppe. Ein Mann kniete am Boden und setzte ein Nummernschild neben eine Stelle, an der sich möglicherweise eine Spur befand. Der Ablauf war Norma so vertraut, dass ihr das untätige Herumstehen seltsam falsch vorkam. Doch sie hatte getan, was sie tun konnte. Im Schatten eines Pfeilers entdeckte sie Timon, der sich wie sie in die Rolle des Zaungastes fügen musste. Als Mediziner und Biologe arbeitete er an Ermittlungen mit, die in den Kompetenzbereich des hessischen Landeskriminalamts fielen. Verdächtige Todesfälle im Rheingau zu klären, gehörte zum Aufgabenbereich des Polizeipräsidiums Westhessen, das seinen Sitz in Wiesbaden hatte und dessen Einsatzgebiet über die Grenzen der Landeshauptstadt hinausreichte. Milano und Wolfert gehörten seit Jahren zum Ermittlerteam für Tötungsdelikte. Endlich fanden die Kommissare Zeit für ein ausführliches Gespräch mit Norma und Timon. Über die Verbindung zu Norma bestand zwischen den drei Männern eine gute Bekanntschaft, ja beinahe eine Freundschaft.

Milano strich sich eine Locke aus der Stirn. Lag es am Kunstlicht, oder mischten sich in die dunklen Haare, die ihm über den Kragen reichten, tatsächlich graue Strähnen? »Dein erster Eindruck, Timon. Was mag die Tatwaffe sein? Ein dünner Draht?«

»Dem würde ich zustimmen«, sagte Timon. »Die Kollegen in Frankfurt werden dazu sicher bald Genaueres sagen können.«

»Der Tote machte einen muskulösen Eindruck«, beschrieb Wolfert seine Beobachtung. »Wie jemand, der vor allem im Freien arbeitet. Kein hilfloses Opfer, wie mir scheint.«

»Der Angreifer muss ihn von hinten überwältigt und die Schlinge blitzschnell und mit aller Kraft zugezogen haben«, vermutete Timon. »Auf diese Weise hat selbst ein kräftiger Mann wenig Chancen.«

»Grundsätzlich müssen wir von einem zu allem entschlossenen Täter ausgehen«, knurrte Milano. »Und der ist längst über alle Rheingauer Berge! Wir können nur hoffen, dass jemand aus dem Publikum etwas Entscheidendes beobachtet hat.«

Wolfert wandte sich Norma zu und blinzelte angestrengt hinter seinen starken Brillengläsern. »Du hast vorhin erwähnt, dass dir der Mann vor der Filmvorführung aufgefallen war. In der Menge vor der Basilika. Was genau war da los?«

»Ich hatte eine Zeichnung entdeckt, die an einer Säule hing«, sagte Norma. »DIN-A4-Format. Viel Schwarz, wie mit Kohlestift gemalt. Auch der Glatzköpfige hat sie bemerkt – und er wirkte erschrocken.«

»Der Mann war ein Stück weit vor dir, Norma«, bemerkte Milano misstrauisch. »Wie willst du das beurteilen?«

»Er hat hinübergestarrt, und ich konnte sein Gesicht im Profil sehen. Und seine Körperhaltung. Er war wie versteinert … als wäre das Blatt Papier eine Warnung.« Dieser Gedanke hatte sich gebildet, während sie ihn aussprach.

»Eine Warnung?«, wiederholte Wolfert nachdenklich. »Wenn ja, hat er sie wohl nicht ernst genug genommen. Hast du die Zeichnung ebenfalls gesehen, Timon?«

Timon verneinte. »Leider nicht in diesem Gedränge. Was genau konntest du darauf erkennen, Norma?«

Sie rief sich den Anblick ins Gedächtnis. »Eine Reihe von Tannen, die Spitzen tanzend im Wind. Eine Hütte, davor eine Gestalt. Ein Mensch, geduckt wie ein … wie ein verängstigtes Tier. Irgendwie … gruselig.« Ihr fiel etwas ein. »Winterstein ist die Zeichnung ebenso nicht entgangen.«

»Winterstein?«, stutzte Wolfert.

»Ecki Winterstein, ein Regisseur.« Die Stimme ertönte hinter Norma. Es war Lutz, der die letzten Sätze aufgeschnappt hatte. Von dem Stück Papier habe er vorhin nichts mitbekommen, fügte er an.

Eine Schutzpolizistin näherte sich der kleinen Gruppe um Norma und wedelte mit einem Schreibblock. Sie stellte sich als Leiterin der Rheingauer Einsatzgruppe vor. »Eine Reihe von Zuschauern konnten wir bereits nach Hause schicken. Insgesamt wird es sicher noch ein, zwei Stunden dauern, bis wir von den restlichen die Daten aufgenommen haben. All die Menschen zu ermitteln, die vorher gegangen waren, wird eine Mammutaufgabe. Danke, dass Sie diese Leute aufgehalten haben«, sagte sie, an Norma und Timon gewandt.

»Konnten Sie Angehörige des Toten ausfindig machen?«, fragte Wolfert.

»Offenbar war er allein gekommen, aber wir wissen jetzt seinen Namen«, erklärte die Schutzpolizistin zufrieden. »Ein Kollege kannte ihn, und mehrere Zeugen haben die Identifizierung anhand eines Handyfotos bestätigt. Axel Teubener, ein Rheingauer Winzer.« Sie überreichte Wolfert einen Zettel mit der Adresse.

Milano ließ ein lobendes »Benissimo!« hören. »Wir fahren sofort los. Gibt es noch etwas?«

»Nun, Axel Teubener hat keine Vorführung von ›Der Name der Rose‹ ausgelassen«, sagte die Schutzpolizistin.

»Warum auch nicht?«, meinte Wolfert. »Der Film ist schließlich einer der Filmklassiker schlechthin.«

Norma mischte sich in die Unterhaltung ein. »War er nur ein großer Fan, oder gab es einen besonderen Grund dafür?«

»Er war vor allem Fan der eigenen Schauspielkunst. Teubener hat 1985 als Statist mitgewirkt. Wussten Sie, dass es damals im Rheingau eine Menge Männer mit Tonsur gegeben hat?«, fügte die Schutzpolizistin mit einem belustigten Lächeln hinzu.

»Ich hätte mich auch als Komparse anheuern lassen«, erklärte Wolfert zu Normas Verblüffung.

Nachdem sich die Kommissare für die Informationen bedankt hatten, kehrte die Schutzpolizistin ins Laienrefektorium zurück.

»Lasst uns nach der Zeichnung suchen«, drängte Norma. »Vielleicht stammt sie vom Täter …«

»Oder ist schlicht das Werk eines Hobbymalers«, fiel ihr Milano ins Wort. »Wenn dir das Gekritzel so wichtig erscheint, dann kopiere es.«

»Ich kann nicht zeichnen«, protestierte sie.

»Das kriegst du hin«, entgegnete der Kommissar mit süffisantem Grinsen. »Auf, Dirk! Wir sollten mit den Angehörigen reden, bevor sie auf Facebook von Axel Teubeners Ableben erfahren.«

Absolut uneinsichtig erteilte er Normas Bitte, sie zum Weingut begleiten zu dürfen, eine kompromisslose Abfuhr.

6

Rheingau

Donnerstag, der 16. September

Er taucht tief ab in einen Ozean von Grün, ein vibrierendes Maigrün, wellenschlagend und leuchtend, von der Sonne durchdrungen wie auf einem Gemälde von Claude Monet. Als er die satte Farbe mit gespreizten Fingern auffächert, entdeckt er die Trauben, die prall und von Saft strotzend durch das Weinlaub schimmern. Sich wundernd über die Reife, die ins Frühjahr fällt, schaut er auf Alinas Lachen. Die blitzenden Zähne, die Grübchen, das weiche Kinn. Sie hat die Arme um ihren Bauch geschlungen und flüstert den Namen ihrer ungeborenen Tochter. Wispert und säuselt, ruft und schluchzt, doch er versteht die Worte nicht. Er hört ihre Stimme klar und warm, doch der Name lässt sich nicht fassen, verflüchtigt sich. Alina streckt ihm beide Arme entgegen, er will ihre Hände greifen, aber je näher er ihr kommt, desto schneller weicht sie zurück, wird erbarmungslos hineingezogen ins schwarze Nichts. Er fleht um Hilfe, das Telefon klingelt und klingelt …

Als er aufwachte, klebte ihm der Pyjama am Körper wie eine nasse Fischhaut. Die Bilder des Traums tanzten vor seinen Augen, und der süße Nachklang von Alinas Stimme verlor sich im schrillen Dauergedudel. Mit schwerem Arm griff er nach dem Telefon und schaute auf das Display. Er widerstand dem Impuls, den Anruf wegzudrücken. Das hätte ihm nur einen kurzen Aufschub verschafft.

Eine verunsicherte Stimme traf auf sein Ohr. »Daniel?«

»Was fragst du, Hanna?«, herrschte er seine Schwester an. »Wer sollte drangehen außer mir? Alina aus dem Totenreich? Die Grabesstimme unseres verstorbenen Vaters?«

»Bitte, Daniel, sei nicht zynisch!«

»Was erwartest du? Frohsinn und Heiterkeit eines Witwers?«

Dabei war ihm bewusst: Seine Angriffslust war ebenso ungerecht wie herzlos und grob. Ohne Hanna und Felix, seinen Schwager, wäre er nicht durch die vergangenen Monate gekommen. Seine Urne hätte längst ihren Platz neben Alinas Asche eingenommen. An jedem einzelnen Sommertag hatte er gedanklich jede vorstellbare und unvorstellbare Möglichkeit durchgespielt, um seinem Dasein durch eigene Hand ein Ende zu setzen. Dass er trotz allem am Leben war, verdankte er der ausdauernden Kontrolle und ständigen Sorge seiner älteren Schwester. Wobei ihm der Begriff »verdanken« wie ein Euphemismus erschien. Die meiste Zeit nahm er Hanna die aufdringliche Fürsorge ebenso übel wie ihr peinigendes Bestreben, ihn zurück in die Gesellschaft zu bringen, wie sie ihre Aktivitäten rechtfertigte. Hilflose und von vornherein zum Scheitern verurteilte Versuche wie der gestrige Überfall, mit dem sie und Felix ihn ins Kloster Eberbach bugsiert hatten; getrieben von der irrwitzigen Annahme, er könnte beim Betrachten eines uralten Mittelalterthrillers vergessen, warum er vor zwei Monaten nicht Vater einer Tochter geworden war.

Trotz aller aktuellen Schwierigkeiten folgten ihre Streitereien einem seit frühster Kindheit gepflegtem Drehbuch, das von Hanna verlangte, als Erste wieder für gute Stimmung zu sorgen. So entsprach sie auch jetzt ihrer Rolle und beteuerte in milderer Tonlage ihr Verständnis für seine Trauer. Er machte sich darauf gefasst, dass den tröstenden Worten ein Themenwechsel folgen würde, und sollte sich nicht täuschen.

»Daniel, warum bist du gestern so plötzlich verschwunden? Nach der Pause warst du fort ohne ein Wort. Nicht sehr höflich! Wir haben uns Sorgen gemacht.«

»Ich hatte genug und bin zu Fuß heim.«

Der Weg war nicht weit, geschätzt keine drei Kilometer. Sein Winzerhof lag inmitten der Weinberge und quasi in Alleinlage – wenn man von einem benachbarten Weingut absah. Zur Heirat hatte der Vater ihm den Betrieb überschrieben. Mit hochfliegenden Plänen, die das Familienunternehmen für kommende Zeiten wappnen sollten, überzeugte Alina ihren frisch angetrauten Ehemann und brachte sogar den skeptischen Schwiegervater auf ihre Seite. Eine Vinothek mit allem Schick, den die kultivierte Kundschaft verlangte. Eine noble Gaststube als Gutsschänke und vor allem, als Investition in eine glänzende Zukunft, die Terrasse: weitläufig, umrahmt von wogenden Rebflächen wie aus dem Urlaubskatalog und mit einem Panorama, das selbst im von herrlichen Aussichten verwöhnten Rheingau seinesgleichen suchte. Weinproben, Winzerabende, Konzerte mit Jazz und Klassik im festlichen Rahmen – Alina besaß ein Händchen für exklusive Veranstaltungen. Bald strömten die Gäste in Scharen herbei. Daniel gewöhnte sich daran, wieder durchzuschlafen, anstatt sich mit dem Grübeln über haushohe Kreditsummen durch die Nächte zu quälen. Das Weingut Lenges erlebte eine Winzer-Erfolgsstory, mit der sich Hochglanzmagazine schmückten.

Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt! Schillers Tell, oder? Daniel, der gewiss kein Freund schlauer Sprüche war, hatte sich dieser Lebensweisheit wider Willen fügen müssen. Wenn Gäste seines Weinguts ihren SUV oder die Limousine auf der Parkfläche des Weinguts Teubener abgestellt hatten, fanden sie später einen Zettel unter dem Scheibenwischer vor: Botschaften des Nachbarn, deren Tonfall sich von missmutig über aggressiv bis grob unflätig erstreckte. Als Daniel noch überlegte, wegen dieser Beleidigungen die Polizei einzuschalten, kam ihm Axel Teubener zuvor und schickte ihm selbst eine Streife auf den Hof. Ruhestörung! Der Nachbar fühlte sich von der Tanzmusik einer Hochzeitsgesellschaft belästigt. Das Brautpaar – Angehörige der wohlhabenden Gesellschaftsschicht – zeigte wenig Bereitschaft für leisere Töne. Warum auch, wenn die Feiernden im Gegenzug von nebenan mit Schlagern beschallt wurden? Das Fest endete in einem Fiasko. Da fiel es kaum noch ins Gewicht, dass Alina am Morgen danach auf der Terrasse einen Haufen erbärmlich stinkenden Hühnermists entdecken und sich – bereits hochschwanger – in einen Buchsbaumkübel übergeben musste. Alina …

Hannas tadelnde Stimme holte ihn in die Gegenwart zurück. »Deine Schlägerei mit Teubener gestern, Daniel! Musste das sein? Mitten in der Basilika? Vor allen Leuten? Ich habe mich geschämt für meinen Bruder! Warum lässt du dich von dem Ekelpaket provozieren?«

Aufs Neue sprudelte seine Wut auf wie überschäumende Hefe im jungen Wein. Sie waren früh dran gewesen, unter den ersten Zuschauern, als Teubener plötzlich aufgetaucht war. Ein Wort hatte das andere ergeben, ein Faustschlag folgte auf den anderen, bis die Ordner einschritten und das Gerangel beendeten. Hannas diplomatischem Geschick war es zu verdanken, dass man ihn nicht umgehend rausgeworfen hatte.

Daniel platzte der Kragen. »Der Schweinehund hat meine Frau und mein Kind auf dem Gewissen.«

»Es war ein Unglück! Ein Unfall, an dem auch du nicht völlig schuldlos bist.«

»Glaubst du, ich mache mir keine Vorwürfe? Aber es wäre niemals passiert, hätte uns Teubener nicht im Weinberg aufgelauert.«

Hanna seufzte nachsichtig. »Gott hat ihn gestraft.«

»Wie jetzt?«, fragte er verwirrt.

»Du weißt es also noch nicht?« Die Schwester schwenkte um in den überheblichen Tonfall, den sie in Perfektion beherrschte. »Wirf einen Blick ins Internet, Bruderherz.«

»Sag schon!«

Durch das Telefon vernahm er den tiefen Atemzug, mit dem sie sich für die Antwort wappnete. »Teubener ist tot. Ermordet! Gestern Abend, während der Film lief. Ich sage es nicht gern, aber ich an deiner Stelle würde mich auf den Besuch der Polizei vorbereiten.«

956,63 ₽
Жанры и теги
Возрастное ограничение:
0+
Дата выхода на Литрес:
25 мая 2021
Объем:
264 стр. 7 иллюстраций
ISBN:
9783839267684
Издатель:
Правообладатель:
Автор
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают