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Die Ankunft

Tahir? Tahir, ist das hier das Lager?

Der Fahrer antwortete nicht. Er kniff die Augen zusammen und beugte sich vor, das Kinn auf dem Lenkrad. Der Lkw schlingerte, und als Tahir das Steuer herumriss, um einem Schlagloch auszuweichen, schrammten die Äste eines Akazienbaums über die Längsseite des Wagens.

Der Fahrer beschleunigte. Vögel mit kräftigen, gelben Beinen und weißgefleckten Flügeln, die auf einem Hang umherstreiften, stoben auseinander. Die untergehende Sonne färbte den Himmel leuchtend rot. Zart bernsteinfarbene Wolken sprenkelten den Horizont.

Saba suchte im Seitenspiegel nach ihren Mitreisenden. Dutzende Lastwagen waren im Morgengrauen von der Stadt aufgebrochen, in die sie auf ihrer Flucht vor dem Krieg gekommen waren, doch jetzt war ihr Lkw der einzige auf der Straße. Sabas Mutter neben ihr murmelte ein Gebet, das sie seit ihrem Aufbruch von zu Hause unablässig wiederholte. Hagos, ihr Bruder, saß auf der Ladefläche inmitten der wenigen Habseligkeiten, mit denen sie geflohen waren.

Herr, erleuchte unseren Weg in die Sicherheit.

Über der Talsenke brach die Nacht herein. Die Scheinwerfer des bergab steuernden Lkw durchschnitten die Dunkelheit. Ein flaches, mit Hütten übersätes Gelände tauchte vor ihnen auf. Bestehen Flüchtlingslager nicht aus Zelten?, fragte sich Saba.

Sie befürchtete, ein Blinzeln, und alles wäre ausgelöscht. Und die endlose Reise, die vor vielen Tagen auf Kamelen begonnen hatte, würde weitergehen. Sie hielt sich am Armaturenbrett fest und konzentrierte sich auf das Bild vor ihren Augen. Doch als Tahir erneut das Steuer herumriss, um einem Schlagloch auszuweichen, holperte der Wagen über eine Unebenheit. Der Stoß warf den Fahrer in seinem Sitz zurück, und Saba griff nach dem Lenkrad. Je tiefer es ins Tal hineinging, desto mehr ruckelte das Fahrzeug, und der Lichtstrahl der Scheinwerfer schwenkte von den Hütten zum Buschland und wieder zurück. Tahir bremste.

Da sind wir, sagte er und rückte seinen Turban zurecht. Saba, das ist dein Lager.

Saba hielt sich die Nase zu.

Dung.

Überall Dunggeruch.

Tahir stellte den Motor ab. In der Stille wirkte der Ort sehr viel entlegener und verlassener, als Saba es sich jemals vorgestellt hatte. Sie blickte in den Himmel. Es gab keine Kampfflugzeuge, nur einen halben Mond. Er hing am Himmel wie der sichelförmige goldene Ring, den ihre Großmutter in der Nase getragen hatte.

Saba betrachtete die Hütte im Scheinwerferlicht. Ihre Mutter murmelte Gebete und weinte. Saba konnte sich nicht erinnern, wann sie ihre Mutter zum letzten Mal hatte lächeln sehen oder lachen hören.

Tahir kletterte aus der Kabine und humpelte zur Vorderseite seines Wagens. Als er die Motorhaube öffnete, qualmte es. Saba trat hinaus in die Dunkelheit. Wir sind die Ersten im Lager, dachte sie. Außer ihnen war niemand zu sehen, nicht einmal ein Beamter zu ihrem Empfang. Sie wollte Tahir fragen, als sie von einem Lichtschein in ihrem Rücken abgelenkt wurde. Sie drehte sich zur Ladefläche um, wo Hagos auf Jutesäcken saß. Seine Taschenlampe beleuchtete einen runden Handspiegel, in dem er sein Gesicht von allen Seiten begutachtete.

Als Saba zu Hause ihre Bücher einpacken wollte, hatte ihre Mutter sie daran gehindert, denn die Schmuggler verlangten für jede zusätzliche Tasche extra Geld. Und während sie Kleider und Unterwäsche in mehreren Schichten übereinander tragen konnte, war das mit Büchern nicht möglich. Deshalb hatte sie vor dem Aufbruch Tag und Nacht ihre Lieblingspassagen auswendig gelernt.

Hagos jedoch hatte diesen fragilen Gegenstand mitgenommen, obwohl die Schmuggler die Flüchtlinge vor dem Aufbruch gewarnt hatten: Sogar Menschen zerbrechen auf dem Weg in die Sicherheit, sagten sie, und Spiegel erst recht.

Hagos kletterte vom Lkw und sank in Sabas ausgebreitete Arme. Seine Haut duftete nach Jasmin, als sie ihn fester an sich drückte. Sie griff nach seiner Hand, den Blick auf eine runde Hütte mit einem konisch geformten Strohdach gerichtet. Auf einem der Büsche, die die Hütte säumten, saß ein Nachtfalter. Die fluoreszierenden Kreise auf seinen Flügeln leuchteten im Licht der Scheinwerfer.

Ein fernes Brummen steigerte sich zu einem lauten Getöse, als ein Lkw nach dem anderen im Lager eintraf. Lärm brach los. Kinder kreischten. Gott wurde angerufen. Freudentriller vermischten sich mit Schluchzern. Und als sich die Lkws verteilt hatten und verschiedene Areale erhellten, sah man Bruchstücke des Lagers aufleuchten, die einander zu spiegeln und sich im Schlagschatten der Hütten zu vervielfältigen schienen.

Die Leute stiegen von ihren Lastwagen herunter. Ihre Silhouetten wanderten über die Wände der Hütten. Männer und Frauen, emsig wie Ameisen, trugen ihre Habseligkeiten auf dem Rücken und auf dem Kopf. Jutesäcke. In Tücher oder gabis gewickelte Kleider. Herde mit Kochplatten aus Lehm. Kinder, festgebunden auf dem Rücken ihrer Mutter. Eine Frau hatte ihren Mann huckepack genommen, er schlang die Beine um ihre Hüften und die Arme um ihren Hals. Keuchend schleppte sie sich an Saba vorbei.

Bevor Tahir aufbrach, zog er einen Stift aus der Tasche. Hagos, sagte er, in deinem Alter war ich wie du. Auch ich war schweigsam, bis ich einen Stift fand.

Aber Hagos griff nicht nach dem Stift.

Mein Sohn kann weder schreiben noch lesen noch sprechen, sagte seine Mutter.

Tahir sah den Zwanzigjährigen an. Ist das wahr, Hagos?

Hagos starrte an Tahir vorbei vor sich hin.

Saba nickte. Ja, es ist wahr.

Tahir fuhr los. Und sofort vermisste Saba den Geruch der Fahrerkabine, die sonnengedörrten Früchte auf dem mit Wildleder überzogenen Armaturenbrett und die Datteln, die seine Eltern am Nilbogen geerntet hatten. Sie vermisste die Freigebigkeit, die aus Tahirs Hand floss. Seine Hand, die ihr Orangen und Wasser gereicht und gestikuliert hatte, als er von seiner Kindheit unter britischer Herrschaft erzählte. Er hatte seine Zunge in kaltes Wasser tauchen müssen, als könnte er nur dann wie die Menschen im Norden sprechen, wenn er seine Wurzeln erfrieren ließ. Auch seine Art, Arabisch zu sprechen, hatte er beibehalten, und er dehnte die Wörter so, dass auf seiner Zungenspitze jede Silbe ihr Leben verlängerte. Im Lager würde Saba diesen Akzent kaum wieder hören. Ihre Gedanken verdüsterten sich, als immer mehr Lkws aufbrachen.

Sie musterte die Holztür, deren Risse im Licht der Taschenlampe sichtbar wurden. Gestank drang heraus. Und Dunkelheit. Hagos hielt ihre Hand, als er die Tür aufstieß. Sabas Brust zog sich zusammen. Sie drehte sich um und rang nach Luft. Ein Nagel in dem niedrigen Türrahmen riss ihr die Haarnadel heraus. Die verschwitzten Locken fielen ihr ins Gesicht und über die Augen.

Hier werden wir wohnen, sagte ihre Mutter und band das Tuch fester um ihre Hüften, um die Kreuzschmerzen zu lindern. Seit ihrem Aufbruch, als sie alle drei auf dem Rücken eines Kamels auf einer Matratze zusammengekauert saßen, tat ihr das Kreuz weh.

Hagos band Sabas dickes langes Haar im Nacken zu einem Knoten zusammen. Seine Schwester folgte ihm ins Innere der nach Dung stinkenden Hütte. Der Strahl seiner Taschenlampe wanderte durch den Raum. Aus dem Strohdach schossen Insekten hervor. Saba beobachtete einen Nachtfalter, dessen Flügel in der schweren Luft flatterten. Hagos reichte ihr die Taschenlampe und ging hinaus.

Der Holzpfahl in der Mitte der Hütte war aus einem dünnen knorrigen Baumstamm gezimmert. Er verlief bis ganz nach oben und trug das Dach. Saba hoffte, nicht dagegen zu stoßen.

Hagos kam mit Jutesäcken zurück, sein Gesicht erleuchtet von dem grellen Licht in Sabas Hand. Während er die Säcke entlang der Wand aneinanderreihte, versuchte auch sie, die Fassung wiederzugewinnen. Ihre Mutter musste sich dringend ausruhen. Das wurde Saba klar, als Hagos aus einem der Säcke eine Decke herauszog. Sie beobachtete seine Bewegungen und fragte sich, ob sie für ihre Mutter jemals so gut würde sorgen können wie er.

Die dünnen Decken seien vorerst ihre Schlafmatten, erklärte die Mutter.

Saba und Hagos packten die Decke an den Enden, schüttelten sie aus und legten sie auf den nackten Boden neben der Wand. Sie husteten im Chor. Saba streifte den Staub von ihrem schwarzen Kleid, während Hagos der Mutter half, sich auf ihre Decke zu legen. Ihr Bett. Er faltete einen Schal zu einem Kissen zusammen und schob es ihr unter den Kopf. Dann küsste er sie auf die Stirn und deckte sie mit seinem gabi zu, den ihm die Hebamme, die auch Beschneidungen durchführte, bei der Feier seiner rituellen Reinheit überreicht hatte.

Die andere Decke breitete Saba an der gegenüberliegenden Wand aus. Hier würden Hagos und sie schlafen. Sie würden ihre Träume miteinander teilen. Und ein neues Leben. Dies würde ein Ort der Wiedervereinigung sein. Sie würden nächtelang reden. Lachen. Singen. Einander Geschichten von zu Hause erzählen. Und Kindheitserinnerungen austauschen. All die Jahre, in denen sie Hagos vernachlässigt hatte, würde Saba jetzt wiedergutmachen. Jahre, in denen sie nichts anderes im Kopf gehabt hatte als ihre Schulbücher. Doch der Krieg hatte sie dem Menschen nähergebracht, in dessen Gesicht sie geblickt hatte, als sie zum ersten Mal ihre Augen aufschlug. Ihre Mutter hatte ihr oft erzählt, dass die neugeborene Saba, erst wenige Stunden alt, an Hagos’ Brust Milch hatte saugen wollen. Hagos war auch das erste Wort gewesen, das sie sprach. Hag. Die anderen Buchstaben – o und s – kamen später hinzu. Und wie sein Name würde auch er selbst in ihrem Leben jetzt allmählich wieder mehr Raum gewinnen.

Saba sah aus dem Fenster. Ein paar Männer betraten den Platz. Ihre Öllampen flackerten, und ihre Schatten verschmolzen zu einem einzigen gestaltlosen Körper. Träge und schwer.

Die Gruppe war aufgebrochen, um den Fluss zu suchen. Nach Auskunft der Lkw-Fahrer lag er westlich des Lagers. Aber sie waren erfolglos zurückgekommen. Dort gab es nur Buschland.

Wir müssen morgen früh nochmal los, sagte ein Mann in weißer Dschallabija und schwarzer Weste. Wir haben nur das Zischen von Schlangen gehört. Was da draußen sonst noch ist, wissen wir nicht.

Skorpione. Antilopen. Krokodile. Elefanten. Löwen. Saba wusste nicht, in welchem Teil dieses Landes sie sich befanden, und befürchtete, dass es hier alle möglichen wilden Tiere gab. Ein Lager mitten im Busch.

Der Platz wurde immer voller, die Leute standen bis vor Sabas Hütte. Seid ihr sicher, dass der Fluss westlich des Lagers liegt?, fragte ein Junge, der sich seinen kleinen Bruder auf den Rücken gebunden hatte. Unser Fahrer hat gesagt, er liegt dort drüben.

Der Junge deutete in die Richtung entgegengesetzt zu der, aus der die Männer gekommen waren. Er ist nicht älter als zwölf, dachte Saba und beobachtete, wie er sein Brüderchen auf seinem Rücken schaukelte. Schlaf, mein süßer kleiner Bruder. Schlaf doch.

Mit Stöcken und Öllampen bewaffnet teilten sich die Männer in vier Gruppen auf, um in verschiedene Richtungen auszuschwärmen. Saba und Hagos schlossen sich der Gruppe an, die von einem athletisch aussehenden jungen Mann in einem Trainingsanzug angeführt wurde.

Doch der Athlet trennte Sabas Hand von der ihres Bruders. Das ist kein Abenteuer für Mädchen und Frauen, sagte er.

Saba drängte sich an ihm vorbei und hakte sich bei Hagos unter. Eine Hand zog sie zurück. Bitte lass die Leute gehen, sagte der Junge mit dem weinenden Baby. Mein Brüderchen hat Durst.

Die Männer brachen auf. Saba rührte sich nicht vom Fleck. Ihre Augen suchten die dunkle Grenze des Lagers ab, die näher rückte, als das Licht der Öllampen erstarb. Mit der Dunkelheit kamen besorgte Gedanken. Was, wenn Hagos von einer Schlange oder einem Skorpion gebissen wurde? Wenn ein Krokodil ihn verschlang?

Sie nahm ihr Tuch von den Schultern. Eine warme Brise strich über ihren Nacken und umfing sie, ohne ihr schweres Herz zu erleichtern. Sie schwitzte.

Links von ihr tauchten Lichtpunkte auf. Im flackernden Lampenschein kehrten die Männer mit lautem Geschrei und Freudensprüngen von ihrer Suche westlich des Lagers zurück. Sie hatten durch die Wildnis aus Gras, Steinen, Büschen und Hügeln eine Schneise geschlagen. Der Fluss ist weit weg, aber wir haben zumindest Wasser, sagte der Athlet mit lauter Stimme.

Saba war überzeugt, dass es Hagos war, der den Fluss als Erster entdeckt hatte. Er trug eine Miene zur Schau, die ihr vertraut war, denselben Entdeckerstolz wie damals, als er ein Foto ihrer Großmutter gefunden hatte, wie sie von Kaiser Haile Selassie ausgezeichnet wurde. Seine stummen Lippen wurden breit und schmal, als er die Hand zur Faust ballte. Aber es war der Athlet, der alles Lob für sich einheimste: Du bist ein furchtloser Löwe. Dank deiner werden unsere Kinder nicht verdursten.

Frauen stießen Freudentriller aus.

Saba umarmte Hagos und legte ihm ihr Tuch um die Schultern. Die Finger ineinander verschränkt, gingen sie zu ihrer Hütte zurück.

Das ganze Lager brach zum Fluss auf. Laternen und Taschenlampen beleuchteten den Boden, den Lebensraum gefährlicher Kreaturen. Die Menge trampelte über Gras und Büsche hinweg, und als sie auf einen schmalen Weg gelangte, wich der Geruch des Laubs dem Aroma überreifer Kaktusfrüchte. Doch bald erfüllte nur noch Schweißgeruch die Luft.

Saba drängte sich an Hagos. Sie klammerte sich an ihn, den Unerschrockenen, dessen Heldenmut verhindert hatte, dass Kinder, Männer und Frauen verdursteten. Sie konnte sein Gesicht nicht sehen, aber sie wusste, dass er lächelte bei den Worten, die sie ihm zuflüsterte. Lächelte wie immer.

Murmelnd plätscherte der Fluss über die Steine. Saba atmete den Geruch von frischem Schlamm ein. Der Fluss muss erst vor kurzem über die Ufer getreten sein, dachte sie.

Die Leute stellten ihre Öllampen hinter sich ab und reihten sich am Ufer entlang auf. Zwischen ihren Beinen glitzerte der Fluss, doch die Landschaft war in Dunkel gehüllt. Saba drückte ihren gelben Eimer an ihre Brust. Behälter schepperten, Kanister schlugen gegeneinander. Die silbernen Armbänder einer Frau vor ihr klimperten, als sie ihren Kanister ins Wasser tauchte. Während sie sich tiefer hinunterbeugte, umspielte ihr adalkana-Kleid, leuchtend wie die Farben des Regenbogens vor einem pechschwarzen Himmel, ihre Hüften. Der Kanister glitt ihr aus den Händen und wurde sofort vom Fluss fortgetragen. Hagos lief ins Wasser. Laternen wurden hochgehoben, Taschenlampen auf ihn gerichtet. Warum tut er das?, fragte ein Mann. Weil jetzt auch die geringsten Dinge einen Wert besitzen, sagte ein anderer. Hagos rutschte aus. Das wogende, goldglänzende Wasser verschlang ihn. Saba dachte an das letzte Mal, als ihr Bruder, noch zu Hause, in einen vom Regen angeschwollenen Fluss gesprungen war, um einen Mann zu retten, der vor den Derg-Soldaten floh. Einer Gefahr zu trotzen war für ihn ein Weg, wahrgenommen zu werden. Und Saba tat, was sie immer getan hatte. Sie sprang ihm hinterher.

Bruder und Schwester verschwanden unter Wasser. Eine Ewigkeit verging, bis ihre Köpfe wiederauftauchten. Fast gleichzeitig und erleuchtet von Taschenlampen.

Als Hagos mit dem gefüllten Kanister vor der Frau stand, legte sie ihm ihre hennagefärbte Hand auf die Schulter. Danke, sagte sie. Das war mutig von dir.

Gern geschehen, sagte Saba neben ihrem Bruder. Er freut sich, wenn er helfen kann.

Als sie nass und zitternd vom Fluss nach Hause zurückkehrten, stand ihre Mutter vor der Hütte und murmelte vor sich hin.

Wie könnt ihr nur ins Wasser springen, sagte sie.

Es war nicht gefährlich, sagte Saba.

Die Gefahr stand den Männern in die Augen geschrieben.

Ich habe schon größere Gefahren überstanden, Mutter, das weißt du.

Weißt du, was Rahwa über dich sagt? Die Stimme ihrer Mutter brach. Ihre Finger zitterten, während sie an ihrem Tuch herumnestelte.

Die Hebamme ist hier? Saba drehte sich um und kickte mit dem Fuß in die Luft. Staub wirbelte auf.

Als Saba die Hütte betrat, sah sie, dass Hagos die Hände seiner Mutter hielt und küsste, bis sie sich beruhigt hatten.

Gott segne dich, mein geliebtes Kind, sagte die Mutter.

Hagos führte sie in die Hütte, während Saba in ihrem durchnässten schwarzen Kleid an der Tür stand und zuschaute. Er setzte sich neben seine Mutter und massierte ihr die Arme. Saba zog sich hinter die Hütte zurück, um ihr Nachthemd anzuziehen. Das Licht der Taschenlampe, die sie auf den Boden gestellt hatte, tauchte die Nachbarhütte in einen gespenstischen Glanz. Die Tür stand offen. Ein Fuß trat in den Lichtkreis, der ein Fußgelenk umspielte. Ich kann überall gesehen werden, dachte Saba. Drinnen wie draußen.

Sie suchte Zuflucht in der Hütte. Hagos hatte sich auf einer Seite der Decke zusammengerollt. Saba stieg über ihn hinweg und zwängte sich in den schmalen Spalt neben der aus Dung gemauerten Wand. Ihr Gesicht lag neben Hagos’ Füßen. Kleine Steinchen stachen durch die dünne Decke. Saba kuschelte sich zwischen die gewölbte Wand und den zusammengekauerten Hagos.

Die Moschee im Sand

Mit geschlossenen Augen lag Saba auf der Decke und berührte sich, wie sie es zu Hause immer getan hatte in jenen Augenblicken vor Anbruch der Morgendämmerung, wenn ihr Körper ihr gehörte.

Doch an jenem ersten Morgen im Lager, die Brust über dem Boden gewölbt, straff wie ein Tautropfen auf einem Blatt, hörte sie ihre Mutter im Schlaf murmeln. Sabas lustvolles Stöhnen erstarb hinter ihren zusammengepressten Zähnen. Sie setzte sich auf und rückte von Hagos weg. Ein trockener Zweig in der Lehmmauer kratzte über ihr Bein. Sie schlug mit der Faust gegen die Wand.

Ihr Zimmer zu Hause ging auf den Garten eines Innenhofes mit Steinfußboden und Terrakottatöpfen voller Kräuter. Das Zimmer hatte sie von ihrer Großmutter übernommen. Hier hatte sich ihre Großmutter in den Nachbarn verliebt und ihm ihre Liebessehnsucht dadurch bekundet, dass sie Blumen an der Mauer pflanzte, die sie von ihm trennte. Sie war elternlos aufgewachsen, hatte sich aber das Lesen und Schreiben selbst beigebracht. Noch keine zwanzig Jahre alt, gründete sie ein Geschäft und reiste von einem Land ins andere, von einem Liebhaber zum nächsten. Ihr langes Leben verdankte sie dem Honigwein Tej, dem Khat und dem Sex.

An der Wand über ihrem Bett hatte Saba das Foto ihrer Großmutter aufgehängt und ansonsten ihr Zimmer mit Bildern aus dem Atelier des Landbesitzers geschmückt, bei dem ihre Mutter als Dienstmagd arbeitete. Dieser Mann war mit den Träumen seiner Heimatstadt als Student nach Europa gegangen, hatte sich dort aber mit einem Kunsthochschuldiplom nur seinen eigenen Traum erfüllt, bevor er zurückkehrte. Er hatte sich zu Sabas und Hagos’ Patenonkel erklärt. Eines der Fotos, die Saba aus seinem Atelier mit nach Hause genommen hatte, zeigte eine junge Frau mit einer Kalaschnikow über der Schulter. Hinter der Freiheitskämpferin war durch einen Kunstgriff des Fotografen die Hauptstraße von Asmara zu sehen, die in der jüngeren Vergangenheit drei Mal umbenannt worden war – von Viale Mussolini in Queen Victoria Avenue und dann in Kaiser-Haile-Selassie-Straße – und die jetzt, unter der Militärdiktatur des Derg, Nationalstraße hieß. Vor dem Hintergrund dieser vielfach bezwungenen Straße stand die Kämpferin so unerschütterlich und fest verwurzelt wie die Palmen, die den breiten Boulevard säumten. Saba studierte diese Pose ein, um sie in ihrer an der Grenze gelegenen Stadt vorzuführen.

Neben der Kämpferin hing die Kopie eines Gemäldes an der Wand, das ihr der Landbesitzer geschenkt hatte. Die helle Haut einer nackten Frau, die irgendwo in Paris ein Bad nimmt, schimmerte selbst dann noch, wenn Saba vor dem Schlafengehen das Licht herunterdrehte.

Bücher bedeckten den Fußboden und Sabas Bett. Geschichtsbücher in Tigrinisch, amharische Übersetzungen russischer Romane, Gedichte auf Arabisch. Bleistifte. Kugelschreiber. Radiergummis. Politik. Kunst. Freiheit. Afrika. Europa. Und Saba. All das wetteiferte um einen Platz in ihrem kleinen, unordentlichen Zimmer.

Die Erkenntnis, wo sie sich jetzt befand, holte sie aus ihren Träumereien. Sie spürte die dicken Lehmwände um sich herum und begrub das Gesicht in ihren Händen. Sie setzte sich auf die Knie. Der erdige Geruch der Büsche vor dem Fenster vermischte sich mit der dunggeschwängerten Morgenluft. Sie hob die Finger an ihr Gesicht und sog den Duft ihrer Schenkel ein.

Taumelnd trat sie aus der Hütte. Orangerote Lichtstreifen, wie Kamelhöcker gekrümmt, erschienen am Horizont. Sie hörte Schritte, die über den sandigen Boden schlurften. Aus einer schmalen Gasse tauchte ein Mann auf. Mitten auf dem Platz blieb er stehen und stellte seine Öllampe neben sich auf den Boden, sodass ein strahlender Lichtkreis um seine Füße entstand. Er rief zum ersten Gebet des Tages.

Niemand reagierte. Er wartete mit verschränkten Armen. Staub lag auf seinen Sandalen. Ohne seinen Turban, seinen gabi und seinen Teppich, ohne ein Minarett, eine Kuppel, vier Wände und eine Gebetsrichtung, dachte Saba, ruht die Autorität des Imams allein in der schmalen, langen Silhouette seines Schattens auf der nackten Erde des Lagers.

Er rief zum Gebet, immer und immer wieder. Seine Stimme wurde heiser. Keine Antwort. Schließlich verstummte er. Er stampfte mit dem Fuß auf, zog den Fuß durch den Sand und markierte auf diese Weise den Grundriss eines Gebetsraums. Dann hielt er inne und schaute zurück. Die schwachen Linien hinter ihm im Sand verblassten, als er sich mit seiner Öllampe in der Hand wieder in Bewegung setzte. Er kehrte zum Ausgangspunkt zurück und begann von vorne. Ein abgehärteter Kämpfer, der sich selbst dann nicht geschlagen gibt, wenn er keine Waffen mehr hat. Dieser Gedanke schoss Saba durch den Kopf, während sie auf ihn zuging, in seine Spuren trat und ihren Fuß hinter ihm noch fester und tiefer in den Sand grub, um der menschlichen Präsenz in dieser Wildnis Nachdruck zu verleihen.

Der Imam hob seine Lampe. Sabas Gesicht leuchtete auf wie eine Antwort auf sein Lächeln. Er räusperte sich. Seine Stimme kehrte zurück.

Das müsste reichen, sagte er nach einer Weile. Aber wenn nötig, können wir die Fläche erweitern. Es ist schließlich nur eine Linie im Sand.

Wo ist die Gebetsrichtung?, fragte Saba.

Der Imam hob die Hand mit der Öllampe hoch zum Himmel. Lichtstrahlen flossen von seinem Arm. Gott ist überall, sagte er.

Die Moschee im Sand war fertig. Leichtfüßig lief Saba zu ihrer Hütte zurück, als hätte sie am Bau einer richtigen Moschee mitgewirkt, die ihr eigenes irdisches Leben überdauern würde. Doch der Gedanke ließ sie erschaudern. Was, wenn das Leben im Lager am Ende nur so beständig war wie diese Spur im Sand?

Der Imam betete allein. Seine Dschallabija flatterte in der Brise, der weiße Stoff hob sich aus der Dunkelheit hervor. Saba griff nach ihrer Taschenlampe und machte sich auf die Suche nach einer Schule im Lager. Als ihre Mutter den Entschluss gefasst hatte, mit ihren Kindern zu fliehen, hatte Saba wissen wollen, ob es auf der anderen Seite der Grenze eine Schule gab. Ihre Mutter hatte einen Schuh nach ihr geworfen. Unsere Nachbarn sind getötet worden, sagte sie. Wir verlassen unser Zuhause, und du hast nur die Schule im Kopf.

Eine Cousine, die gekommen war, um sich zu verabschieden, nahm Saba beiseite. Du musst geduldig sein und den richtigen Zeitpunkt für deine Fragen wählen. Aber hab keine Sorge, ihr geht in das größte Land Afrikas. Und dort gibt es sehr viele gebildete und kluge Leute.

Nicht einmal der Krieg also würde Saba an der Verwirklichung ihres Traums hindern, sondern sie über Umwege ans Ziel bringen. Wie der Nil würde sie Hügel, Berge und Wälder überwinden und einen Weg finden, viele Länder zu durchqueren.

Die Gassen des Lagers waren ein Labyrinth, in dem sie sich verirren konnte. Saba tauchte ein in die Dunkelheit. Sie stolperte über Stroh, das neben Holz, Zweigen und Schnüren nutzlos herumlag. Die Erbauer des Lagers mussten es eilig gehabt haben, von hier wegzukommen, dachte sie. Saba stieg über achtlos weggeworfenen Müll und bog nach links in eine andere Gasse ein. Türen waren geschlossen. Die vertrauten morgendlichen Geräusche fehlten. Es gab keine Hähne, die den Tagesanbruch ankündigten. Kein Aroma frisch gerösteter Kaffeebohnen lag in der Luft. Kein Hauch von mit Ghee vermischtem Berbere, von Aftershave und Duftessenzen. Es war ein anderer Morgen, der ihr hier begegnete. Ein Morgen ohne das rhythmisch schmatzende Geräusch, wenn Teig auf die Herdplatte der Mogogo-Öfen geklatscht wird, ohne das Klappern von Löffeln in den Töpfen, wenn die Frauen Mehl rühren, um Ga’at-Brei zu kochen. Saba hörte keine stotternden Automotoren. Keine klapprigen Fahrräder in den Hügeln. Hier gab es keine Frauen und Männer, die auf die Felder oder zum Markt eilten, keine Schüler, die aus ihren Schulbüchern laut vorlasen. Es war ein stiller Morgen.

Und wo ist die Schule?, fragte sich Saba und richtete ihre Taschenlampe auf die gelben Dächer, deren Spitzen durch das dunkle Firmament stachen. Als könnte dort oben eine Schule sein, ein Luftschloss über den Wolken.

An ihre Hütte gelehnt beobachtete Saba, wie die Sonne die letzten Reste der Nacht vertrieb. Ein junger Mann mit einer gelben Schiebermütze starrte sie mit offenem Mund an, den Kopf zur Seite geneigt. Womöglich verwechselte er sie mit jemandem, den er zurückgelassen hatte, oder mit jemandem, der im Krieg getötet worden war. Die Sonne wurde stärker. Hitze stieg vom Boden in den Rock ihres schwarzen Kleides. Ihre Vorliebe für schwarze Kleider reichte zurück in die Zeit, als sie Verbrennungen an den Oberschenkeln erlitt und ihre Haut purpurrot wurde. Saba trug schwarz, um sich an das zu erinnern, was sie geliebt und für immer verloren hatte.

Guten Morgen, sagte der junge Mann. Ich bin Jamal.

Saba antwortete nicht.

Schnaubend wandte er sich dem Platz zu. In diesem Lager gibt es keinen Laden, sagte er. Es gibt nichts. Nichts. Nichts.

Beruhige dich, sagte ein anderer, der vorbeikam.

Saba stand auf und musterte diesen hellhäutigen Mann mit den schmalen Schultern und den glatten schwarzen Haaren. Er trug eine blaue Strickjacke über einem blauen Hemd, eine blaue Hose und glänzende schwarze Schuhe. Unter seinem Arm klemmte ein Buch mit einem englischen Titel.

Der Mann nickte Saba zu, tätschelte Jamal den Rücken und sagte: Vergiss nicht, es ist die Abwesenheit von Dingen, die die Menschen kreativ werden lässt. Alles wird sich ändern.

Wie denn?, fragte Jamal. Haben Sie sich hier umgeschaut? Vielleicht sollten Sie Ihre Brille aufsetzen.

Der Mann nahm seine Brille von der Stirn und setzte sie sich auf die Nase. Was für eine herrliche Sonne, sagte er. Ich glaube, es wird ein wunderschöner Tag.

Das hier ist Afrika, sagte Jamal. Hier scheint immer die Sonne, und so war es auch an dem Tag, als der Krieg zu uns kam. Das Wetter hat nichts damit zu tun, wie großartig ein Tag wird.

Der Mann gluckste, seine Schultern bebten. Fast wäre ihm das Buch unter seinem Arm entglitten, aber er fing es auf, bevor es zu Boden fiel.

Haben Sie Stift und Papier, Khwaja?, fragte Jamal. Ich muss an meinem Filmdrehbuch schreiben.

Müssen ist kein Wort, das hier noch angemessen wäre, sagte der Mann, ohne sich daran zu stören, dass Jamal ihn mit dem Spitznamen für jemanden aus dem Westen angesprochen hatte. Ja, ich habe einen Stift, aber ich möchte ihn lieber behalten. Denn du hast recht, in diesem Lager gibt es keinen Laden.

Ich glaube, ich habe Sie im Cinema Impero gesehen, als ich dort gearbeitet habe, sagte Jamal.

Kann sein, sagte der Khwaja und lachte. Ich freue mich, in einem Flüchtlingslager einem Landsmann aus Asmara zu begegnen. Die Welt ist klein, sagt man.

Er steckte die Hände in die Hosentaschen und lächelte Saba an. Buongiorno, shokorina, sagte er. Che bella giornata.

Damit ging er weiter und grüßte die Leute in verschiedenen Sprachen, auch in jenen, die die Kolonisatoren mitgebracht hatten. Saba fragte sich, ob sein innerer Frieden daher kam, dass die Konflikte seines gemischten Bluts in der Vergangenheit lagen. Für Saba selbst aber, halb Eritreerin und halb Äthiopierin, zur einen Hälfte aus einem besetzten Land und zur anderen Hälfte aus dem Land der Besatzer, war der Konflikt nicht zu Ende. Ihre eine Hälfte stand im Krieg mit der anderen. Deshalb war sie in einem Lager.

Saba ließ Jamal stehen und folgte dem Khwaja auf seinem Weg durch das Lager. Seine Kleidung ganz in Blau erinnerte sie an ihren Vater an jenem Morgen, als er sie zur Schule brachte, damit sie Hagos’ Platz einnahm. Ihre Eltern hatten ihren Bruder von der Schule genommen, nachdem ein Arzt seine Stummheit diagnostiziert hatte. An jenem Morgen versteckte sich Hagos draußen vor der Schule hinter einem Baum. Sie winkte ihm zu. Er rannte weinend davon.

Saba folgte dem Khwaja, wie er sich zwischen den vielen Leuten hindurch seinen Weg bahnte, ihnen auswich, sorry sagte, scusami, pardon me, a’thazouli, asmhoelee. Bei einer Gruppe von Männern, die sich um eine zerrissene, in Fetzen hängende Zeitung drängten, blieb er stehen. Ein Mann schnitt die Zeitung in Stücke wie einen Laib Brot und verteilte sie unter seinen Begleitern. Die Männer gingen in verschiedene Richtungen davon, mit unvollständigen Sätzen, als müsse nichts einen Sinn ergeben.

Musik erschallte. Eine Sängerin stimmte ihre Krar. Die hellen Klänge lockten Leute herbei. Von nun an, sagte die Sängerin mit honigsüßer Stimme, würde sie nur noch vom Krieg singen, damit niemand vergaß, warum sie hier waren. Doch ihr Neffe flüsterte Saba und anderen neben ihm zu, er trage die Erinnerung an alle ihre Liebeslieder und an den Rhythmus seiner zweifelligen Trommel in sich. Er versprach, das Blut der Entrechteten mit der einen Seite der Koboro zu erhitzen und mit der anderen Seite die Herzen der Liebenden zu beruhigen.

Ein Stück weiter hatte sich eine junge Witwe für ihren ersten Gang durch das Lager herausgeputzt. Sie trug ein grünes Kleid, dessen breiter Saum mit glitzernden Pailletten besetzt war. Sie habe ihr Trauerkleid ganz unten in ihren Jutesack gelegt, sagte sie zu den Umstehenden. Eine Frau trauere, aber eine Frau müsse die Trauer auch hinter sich lassen. Der Khwaja tätschelte ihr den Rücken und hinterließ den Abdruck seiner staubigen Hand auf ihrem grünen Kleid.

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