Читать книгу: «Schweigen ist meine Muttersprache», страница 2

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Ich glaube deinen Worten, sagte der Richter. Er wollte offenbar zügig vorankommen.

Nein, sagte ein Mann. Seine Augen traten aus den Höhlen, als er hinzufügte: Wenn ihr Vater Eritreer ist, ist sie auch Eritreerin. Die Identität eines Kindes richtet sich nach dem Vater.

Der Sohn einer getöteten Kämpferin sprang auf. Meine Mutter hat nicht bis zu ihrem Tod gekämpft, sagte er, damit einer wie du behaupten kann, ihre Identität sei weniger wichtig.

Bei diesem Wortwechsel fing ein junger Mann ganz hinten an, sarkastisch zu lachen. Er trat vor und schwenkte seinen Ausweis, den er von der UN erhalten hatte. Seht her, sagte er. Für mich, für euch bin ich Eritreer, aber in diesem Pass hier steht, dass ich kein Land habe. Warum? Na? Na, warum?

Mir war klar, dass er den entscheidenden Punkt seiner Argumentation verfehlte. Deshalb riss ich ihm den Ausweis aus der Hand, um den Versammelten zu erklären, was ich in seinem ruhigen Gesicht zu lesen glaubte. Dieser Mann, sagte ich und wandte mich ans Publikum, möchte uns daran erinnern, dass für die Außenwelt Sabas Nationalität strittig ist, weil sich unser Land immer noch in einem Unabhängigkeitskrieg befindet.

Warum?, wiederholte der Mann.

Einige Zuhörer lachten leise.

Ich kehrte auf meinen Platz zurück und blickte auf die Kinoleinwand. Sabas Hütte war deutlich zu erkennen. Saba saß auf ihrem Bett, ein Buch in der Hand. Sie trug jetzt ihr Nachthemd. Ich musste zweimal hinschauen. Ich bin mir der Tücke meines Kinos bewusst: Manchmal, wenn ich Erinnerungen wachrief, wurden sie auf meiner Leinwand ganz real, ganz lebendig. Und ich hatte viele Erinnerungen an Saba.

Wenig später geriet der Prozessablauf erneut ins Stocken, diesmal mangels Belegen für Sabas Religionszugehörigkeit. Nicht überzeugt von Aussagen, ihr Vater könnte ein Muslim sein und ihre Mutter eine Christin, ließ der Richter die Frage offen. Religion unbekannt, sagte er zu dem Schreiber.

Ein Mann stand auf und fragte: Wie kann es sein, dass Saba all diese Jahre hier unter uns gelebt hat und wir so wenig über sie wissen?

Da es im Lager keine Polizeibehörde gab, musste der Richter auch die Ermittlungen führen. Er rief die Hauptzeugin auf.

Hinter ihm, weit entfernt, war Saba immer noch in ihr Buch vertieft, und ihr Quartier erstrahlte im gelben Licht der Öllampen, die sie die Mauer entlang aufgereiht hatte.

Die Hebamme nahm im Zeugenstand Platz. Sie schwor den Eid und murmelte Gebete. Ihre kummervolle Miene verschwand, als sie mit ihrer Schilderung begann:

Dass zwischen Saba, sie sei verflucht, und Hagos etwas vorging, argwöhnte ich, seitdem ich an jenem Nachmittag, ein paar Monate nach unserer Ankunft im Lager, ihre Hütte betrat und sie nebeneinander auf einer Decke liegen sah. Gott der Herr möge mir vergeben, dass ich das vor Ihnen wiederhole, Euer Ehren, aber ich habe festgestellt, dass sie sich seit unserer Ankunft im Lager eine Decke geteilt haben. Ich musste mich zwingen, diesem schamlosen Mädchen nicht ins Gesicht zu schlagen. Aber Prügel hätten auch nichts geändert. Hätte ihre Mutter doch nur auf mich gehört und sie zu Hause zurückgelassen, statt so viel Geld zu bezahlen, um sie in dieses Lager mitzunehmen. Du wirst mit ihr nie deine Ruhe haben, hatte ich zu ihr gesagt. Ich bitte Sie darum, Herr Richter, ihr eine schwere Strafe aufzuerlegen.

Fahren Sie mit Ihrer Zeugenaussage fort und überlassen Sie das Urteil uns, sagte der Richter.

Die Hebamme nickte. Doch dann wandte sie sich uns zu, stand auf und schwenkte drohend den Zeigefinger in Richtung der Väter im Publikum. Seid besonders wachsam und streng gegenüber euren Töchtern. Wir sind hier zwar in einem Lager, aber das Land eines Mädchens ist ihr Vater, und wenn sie einen Vater an ihrer Seite hat, wird sie aus ihrer Kultur und ihren Traditionen niemals verbannt werden.

Würden Sie sich bitte setzen und fortfahren, sagte der Richter und rutschte auf seinem Stuhl hin und her.

Wie Sie wünschen, Herr Richter, sagte die Hebamme. Nun also, ich gab der Mutter meine eigene Decke, damit ihr Sohn von diesem Mädchen getrennt schlafen konnte. Jetzt weiß ich auch, warum Saba, als der Geschäftsmann ihr einen Heiratsantrag machte, sofort einwilligte, ohne zu protestieren, wie ich es erwartet hatte. Ich werde niemals heiraten, bevor ich mit der Schule fertig bin, hatte sie immer wieder zu ihrer Mutter gesagt. Aber als ich ihr den Heiratsantrag überbrachte, vergoss sie keine Träne. Das Einzige, worum sie bat, ja, worauf sie bestand, war, dass ihr Bruder mit ihr käme. Es war ja nicht so, dass sie in ein anderes Dorf zog, aber der gutherzige und langmütige Geschäftsmann war einverstanden.

Doch ich war immer noch verblendet. Wie kann ich oder sonst jemand hier akzeptieren, dass so etwas in unserer Gemeinschaft passiert? Ich hoffte weiter, dass alles nur ein Missverständnis war. Mein Verdacht erhärtete sich jedoch, als gleich nach der Hochzeit Saba jeden daran hinderte, ihr Areal zu betreten, sogar ihre eigene Mutter.

All das nahm ich wahr und es verwirrte mich, aber ich habe nie mit jemandem darüber gesprochen. Nur mit dem Herrn im Himmel. Und dann, vor ein paar Monaten, erhielt ich die zweifelsfreie Bestätigung, als Hagos mitten in der Nacht von einer Schlange gebissen wurde und der Geschäftsmann zu mir kam und um Hilfe bat. Es musste also erst etwas Lebensbedrohliches passieren, damit sie einem Außenstehenden das Tor öffneten, und ich weise nie jemanden ab, der in Not ist. Ich ging also hin und fand Hagos’ Hütte voll mit Frauenkleidern. In seinem Bett lagen Höschen und BHs. Demnach hatte Saba die ganze Zeit in seiner Hütte gewohnt und muss das Bett mit ihm geteilt haben.

Die Hebamme war am Ende ihrer Schilderung angelangt. Sie blickte auf und murmelte Gebete.

Die Stille im Gerichtssaal dauerte an.

Ich hatte Saba lange durch die Leinwand beobachtet und versuchte mich jetzt zu erinnern, ob mir etwas Verdächtiges aufgefallen war. Der Richter rief den nächsten Zeugen auf, einen jungen Mann, der als der Beschnittene bekannt war, obwohl wir alle beschnitten waren. Aber er zählte zu den wenigen, die nach der Beschneidung durch die Hebamme dauerhaft verstümmelt waren.

Mit zerzausten Haaren, das Hemd voller Stroh und feuchtem Lehm, humpelte er zum Zeugenstuhl. Ich war überzeugt, dass der Richter seine Anklage akribisch vorbereitet hatte, um Saba als Sexualstraftäterin zu präsentieren, als eine Frau, die in dieser Extremsituation des menschlichen Überlebenskampfes ihre sexuellen Perversionen befriedigte. Und deshalb betete ich, dass er nicht noch einmal eine Aussage von mir wollte. Er war ein Mann des Gesetzes, der seinen Beruf bei den Briten gelernt hatte. Mit Überraschungen war also immer zu rechnen.

Der Beschnittene murmelte etwas, das niemand verstand. Für einen Straßenjungen war er sehr schüchtern. Aber auch in diesem Fall zeigte sich, dass Menschen, die alles verloren haben, besonders hartnäckig an dem festhalten, was in ihnen ist. Der junge Mann sprach im Flüsterton und mit gesenktem Kopf. Seine Stimme hob sich, sobald er neben dem Richter auf dem Zeugenstuhl saß. Als hätten die Verantwortung und die geballte Aufmerksamkeit der Zuhörer seinen ersterbenden Mut befreit.

Saba sei seine erste Geliebte gewesen, sagte er. Und es stimmt, dass man diejenige, die einem den ersten Orgasmus seines Lebens verschafft, niemals vergisst.

Die Ältesten äußerten murmelnd ihre Missbilligung, aber der Hüter des Gesetzes überging ihren Einwand und forderte den jungen Mann auf fortzufahren.

Herr Richter, ich erinnere mich nur noch an Sabas Gesicht, das im Fenster erschien, nachdem die Hebamme ihre Arbeit getan und das Blut vom Rasiermesser gewischt hatte. Dann wurde ich ohnmächtig. Nach meiner Beschneidung dauerte es mehrere Tage, bis ich schwankend vom Bett aufstehen konnte, und es war Saba, die mich stützte, als meine Beine einknickten.

Bleib liegen, sagte sie.

Ich erstarrte, als ich sie hereinkommen sah. Es war, als würde sie mir im Traum erscheinen. Ich berührte ihre Hand, spürte ihre Wärme. Wo ist meine Mutter?

Ich habe zu ihr gesagt, sie soll sich ausruhen, erwiderte Saba. Jetzt bin ich hier.

Ich wusste nicht, dass ihr euch kennt, du und meine Mutter.

Saba lächelte: Jetzt schon.

Ich möchte aufstehen, sagte ich.

Saba hielt mich am Arm fest, und ich merkte, dass meine unsicheren Schritte, langsam und qualvoll wie die eines alten Mannes, sie zusammenzucken ließen, als wäre sie es, die Schmerzen litt.

Nachdem ich eine Weile herumgetaumelt war, sagte ich, dass ich pinkeln müsse. Ich erwartete, dass sie einen Mann holte, der mich zum Freiluftklo tragen würde, aber sie brachte mir nur einen großen leeren Topf, der neben der Tür stand, und stellte ihn mitten auf den Boden. Und nachdem sie mir geholfen hatte, mich am Mittelpfosten der Hütte festzuhalten, wandte sie sich zum Gehen. Saba, warte, sagte ich. Würdest du mir mit meinem Gewand helfen? Ich kann mich nicht bücken.

Ich presste die Zähne zusammen, legte den Kopf zurück und biss mir auf die Lippen. Meine Knie zitterten. Saba, sagte ich, ich verstehe nicht, warum meine Mutter mich unbedingt hier an diesem Ort beschneiden lassen musste.

Die Traditionen begleiten uns, wohin wir auch gehen, sagte Saba, als sie den Saum meines weiten Gewandes hob, das auf der Vorderseite rote Flecken hatte. Sie drehte ihr Gesicht nicht weg, wie ich es erwartet hatte. Ich rückte näher zu ihr und lehnte mich bei ihr an. Lange Minuten vergingen, in der Hütte war es vollkommen still. Dann endlich hörte ich einen Tropfen in den Blechtopf fallen. Ich schrie auf. Und verstummte wieder.

Durch das Fenster wehte ein warmer Wind herein. Ihr flatterndes Haar kitzelte meinen Nacken. Heb mein Gewand höher, Saba, du tust mir weh.

Ich presste erneut. Ein paar Minuten vergingen, immer noch nichts. Ich weinte.

Mach dir keine Sorgen, sagte Saba und wischte mir die Tränen aus den Augen. Ich helfe dir.

Es war, als würde sie meine verbrannte Hand in kaltes Wasser legen oder als würde ich ein Aspirin nehmen. Ich stöhnte, als sie meinen wunden Penis in ihren Handteller legte. Und als sie ihn drückte, verwandelte sich der Schmerz in ein ungekanntes Gefühl. Ich konnte nicht aufhören zu weinen. Und dann bemerkte ich in ihrer blutbenetzten Hand ein weißes Rinnsal. Saba war meine erste Liebe.

Der Richter stand auf und schrie, so laut er konnte, um die Erregung der Menge zu besänftigen. Was ist das für ein Gericht, das den Worten eines Straßenjungen Glauben schenkt?

Ruhe. Ruhe! Es gelang ihm, den Lärm einzudämmen, indem er drohte, die Zuhörer des Gerichtssaals zu verweisen und die Verhandlung unter Ausschluss der Öffentlichkeit fortzusetzen.

Stille.

Herr Jamal, rief der Richter.

Ich war mit meiner Zeugenaussage an der Reihe. Der Zeugenstuhl war noch warm, und ich spürte ein Kribbeln meinen Rücken hochkriechen. Ich schlug die Beine übereinander. Ich bin bereit, sagte ich.

Gut, fangen wir an, sagte der Richter. Erzählen Sie uns alles, was Sie über Saba wissen. Und vergessen Sie nicht: Jeder Hinweis kann uns helfen. Uns geht es um Gerechtigkeit.

Ich möchte von Anfang an erzählen.

Ich habe Saba zum ersten Mal am Fluss gesehen, an unserem ersten Abend im Lager, als sie ihrem Bruder ins Wasser nachsprang, um einen Kanister herauszuholen, den die Strömung einer Frau aus der Hand gerissen hatte. Nachdem sie ihn gerettet hatten, kehrten die beiden triefend nass zu ihrer Hütte zurück, Saba mit einem Eimer Wasser auf dem Kopf. Ich stand da und betrachtete sie, regungslos und selbst ganz durchnässt. Denn obwohl ich gezögert hatte, in den Fluss zu springen, um Saba zu retten, hatte ich das Gleichgewicht verloren und war ins Wasser gefallen.

Ich eilte zum Lager zurück, als mir der dicke Packen Birr-Scheine einfiel. Ich hatte sie in einer Tasche versteckt, die ich mir am Abend vor der Flucht aus der Heimat in meine Unterhose eingenäht hatte. Ich musste die Geldscheine auf dem Fußboden meiner Hütte ausbreiten, damit sie trockneten. Aber im Lager angekommen, stellte ich fest, dass ich nicht mehr wusste, wo meine Hütte war. Andere, die vom Fluss zurückkehrten, hatten Angehörige, die vor ihrer Hütte standen und sie erwarteten. Überall wurden Namen gerufen, ich jedoch war allein, und es gab keine Möglichkeit, meine Hütte wiederzufinden. Ich hatte nicht einmal etwas darin zurückgelassen, um sie in Besitz zu nehmen.

Ich öffnete eine Hütte zu meiner Linken, und da lagen mindestens fünf Personen, in weiße gabis gehüllt, dicht nebeneinander auf dem Boden. Ich zuckte zurück, denn ich dachte, der Tod wäre auch bereits hierhergekommen. Aber als ich ihre tiefen Atemzüge hörte, schloss ich die Tür und versuchte es bei der Hütte nebenan. Diesmal stürmte ich nicht einfach hinein, sondern öffnete die Tür nur einen Spalt breit und spähte hinein. Ein greiser Mann saß neben einer Frau und blickte triefäugig zur Tür. Habe ich euch geweckt, aboi?, fragte ich.

Nein, mein Sohn, erwiderte der Alte. Heutzutage kommt der Schlaf nur sehr schwer.

Ich erklärte ihm, dass ich meine Hütte suchte. Er sagte, hier wohnten er und seine Frau, aber wenn ich meine Hütte nicht fand, könne ich gern bei ihnen bleiben. Deine Hütte oder meine Hütte gibt es nicht, sagte er. Hier an diesem Ort gehören die Hütten allen und keinem.

Das hatten unsere Kämpfer zu Hause oft gesagt. Bist du Kommunist?, fragte ich ihn.

Tut mir leid, dass ich dich enttäuschen muss, mein Sohn, aber ich bin nicht gebildet. Mitgefühl ist etwas, das ich in meinem Dorf gelernt habe.

Das Paar in der Hütte daneben kniete am Boden und betete, die Köpfe gesenkt, die Augen geschlossen. Sie hörten nicht einmal, wie ich die Tür öffnete. Der Gedanke, dass andere meine Hütte bezogen hatten, machte mich wütend. Und mit dieser Wut kam ich zur nächsten Hütte. Ich stieß die Tür mit dem Fuß auf. Ein Mädchen, das sich gerade ihr Nachthemd überstreifte, huschte davon, um sich zu bedecken. Ich hielt die Hand vor meine Augen und schloss die Tür. Aber als ich an dem kleinen Fenster vorbeikam, warf ich noch einmal einen Blick hinein. Es war Saba, das Mädchen, das mit ihrem Bruder den Kanister aus dem Wasser geholt hatte. Ich kauerte mich unter ihr Fenster, das auf den menschenleeren Platz blickte. Als der Morgen graute, drehte ich mich um und spähte vorsichtig in die Hütte. In dem Moment hob Saba ihre Knie. Sie strich mit den Händen über ihre Oberschenkel und öffnete ihre Pobacken. Ich fragte mich, ob sie eine Wunde betastete oder ob sie sich Lust verschaffte. Ihr Körper zitterte. Ein Stöhnen kam aus ihrem Mund.

Ich blieb sitzen, während alle um mich herum zu schreien anfingen. Ich fuhr mit meiner Zeugenaussage fort und sprach sehr laut, um das Geschrei zu übertönen.

Der Richter rief die Zuschauer zur Ordnung und bat mich weiterzusprechen.

Ich konnte sie sehen.

Was sehen, Herr Jamal?

Ich sah Saba vor mir stehen.

Stehen? Wo? Wann?

Im Freiluftklo, an unserem ersten Abend im Lager. Ich konnte sie nicht mit einem Räuspern warnen, weil die Kälte meine Stimmbänder angegriffen hatte. Und so legte sie die Taschenlampe auf den Boden, ohne dass sie mich bemerkte. Ich sah sie von hinten, ihre purpurroten Schenkel. Sie zog ihr Kleid hoch und ging in die Hocke. Ich beobachtete, wie sie Steine aufhob, und als ein Käfer auf ihrem Hintern landete, sprang sie auf und lief davon. Ich rappelte mich hoch und teilte das hohe Gras mit zitternden Händen. Schweiß lief mir übers Gesicht, als strahlte die Stelle, wo Saba gesessen hatte, eine menschliche Wärme aus, nach der ich lange gesucht hatte.

Tumult. Er lügt. Werft ihn raus.

Ich möchte Sie an dieser Stelle unterbrechen, wandte sich der Richter an mich.

Ich aber fuhr fort: Meine Saba gibt es wirklich. Schaut auf die Kinoleinwand, dann seht ihr sie. Ihr denkt, die Saba, die ich kenne, kann nur die Ausgeburt eines kranken Geistes sein. Als würden reale Frauen den Rippen von Männern entspringen und imaginäre Frauen deren fantasierenden Köpfen.

Genug, sagte der Richter.

Er wies die Wache an, mich aus dem Zeugenstand wegzuführen. Dann wandte er sich an die Hebamme und sagte: Gehen Sie zu Saba und fordern Sie sie auf, ins Gericht zu kommen. Das ist ihre letzte Chance. Wenn sie nicht kommt, schicken wir den Gerichtsboten, damit er sie mit Gewalt herbringt.

Das Gericht wartete auf die Rückkehr der Hebamme. Der Richter beriet sich mit den Ältesten. Aus den Reihen der Zuschauer kam Gemurmel. Erneut wurden Gerüchte laut. Ich konzentrierte mich auf mein Kino. Saba lag auf dem Bauch und las in dem Buch, das sie gegen ein Kissen gestützt hatte.

Ich blickte zu dem Käfig neben meiner Hütte, in dem ich Tauben hielt. Vorsichtig wie eine Ballerina balancierte die Katze über den Zaun aus Stroh. Einsperren kann manchmal das Leben verlängern, dachte ich, während ich erneut das Areal betrachtete, in dem Saba wohnte.

Saba öffnete der Hebamme das Tor. Sie redeten miteinander. Von diesem Stummfilm, der jetzt vor mir ablief, konnte ich nichts hören, ich sah jedoch, wie sie gestikulierten und mit den Händen fuchtelten. Saba drehte sich einmal um sich selbst. Sie zog ihr Nachthemd aus und legte sich aufs Bett.

Ich erinnerte mich daran, dass Monate vor Sabas Hochzeit die Hebamme das Mädchen nachts aus der Hütte des Khwaja hatte kommen sehen und das Schlimmste argwöhnte. Und deshalb hatte sie darauf bestanden, Sabas Unschuld zu prüfen. Zwei ihrer Finger in Sabas Vagina bestätigten damals ihre Jungfräulichkeit. An jenem Tag stieß Sabas Mutter Freudentriller aus, als hätte die Hebamme geholfen, ein Baby auf die Welt zu bringen.

Aber warum überprüft die Hebamme jetzt Sabas Jungfräulichkeit, wo sie doch seit Monaten mit dem Geschäftsmann verheiratet ist?, fragte ich mich.

Als die Hebamme den Ärmel hochkrempelte und sich mit zwei Fingern Sabas gespreizten Beinen näherte, war ich drauf und dran, durch die Leinwand meines Kinos zu stürmen und zu Saba hinunterzulaufen. Die Gerichtswache hielt mich zurück. Bleiben Sie sitzen. Bleiben Sie sitzen.

Als man mich zu meinem Stuhl zurückdrängte, sah ich Saba auf ihrem Bett, den Kopf in den Händen. Dann ging das Tor zu meinem Areal auf. Die Hebamme trat ein und stieß Freudentriller aus. Saba hat ihren Bruder nicht missbraucht. Saba ist unschuldig, sagte sie. Saba ist noch Jungfrau.

Schweigen.

Wieder einer dieser unerträglichen Momente ohrenbetäubender Stille. Erst als ein beidseitig amputierter ehemaliger Freiheitskämpfer mit seiner Kalaschnikow in die Luft feuerte, entlud sich ein kollektiver Glücksschrei und ließ die Grundfesten meines Quartiers erzittern. Männer reckten triumphierend die Fäuste in die Luft. Frauen stießen Freudentriller aus. Immer mehr Menschen strömten von draußen in mein Kino, um an der improvisierten Feier der Unschuld Sabas und der Unbescholtenheit des Lagers teilzunehmen, das eine Insel der Reinheit inmitten dieses Buschlands geblieben war. Wie sich unsere Gemeinschaft in dieser Wüste ihre geistige Gesundheit bewahrt hat, sagte der Richter, ist ein Beweis für unsere kollektive Wachsamkeit. Wie überwachen einander, weil wir einander lieben wie uns selbst.

Die Sängerin des Lagers stieg auf den Richtertisch. Dieses Lager hat viele von uns hinweggerafft, es hat uns viel geraubt, aber nicht unsere Menschlichkeit, sang sie. Saba hat uns nicht unserer Menschlichkeit beraubt, wie der Krieg unserer Heimat die Menschlichkeit geraubt hat. Wir haben nichts als unsere Ehre. Danke, shukor Saba. Danke, reine Saba.

Die Sängerin hielt ihre Krar nah an ihrem Herzen. Ich hatte sie noch nie so singen hören. Ihre Stimme wurde immer wieder übertönt von Freudentrillern und Händeklatschen, von Rufen und Jauchzern des Glücks.

Die hohen Töne der Krar brachten noch mehr Leute auf die Beine, und während sie im Kreis die Leinwand umrundeten und das Cinema Silenzioso betraten und wieder verließen, dachte ich an etwas, das Saba einmal gesagt hatte: dass unser Tanz unserer Geschichte nachgestaltet ist, die immer und immer wieder von denselben blutigen Ereignissen getrübt wurde.

Saba war die Frau, die es gewagt hatte, nach ihren eigenen Gesetzen zu leben, und die man jetzt mit einem Gerichtsprozess wieder in Reih und Glied zurückbringen wollte.

Aber niemand hatte gefragt, wie es sein konnte, dass Saba nach so vielen Monaten der Ehe noch Jungfrau war. Warum hatten sie und ihr Mann nicht die Ehe vollzogen? Vielleicht kannten alle die Antwort, schwiegen aber in der Hoffnung, dass etwas, das nicht ausgesprochen wurde, seine destabilisierende Kraft verlor.

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