Читать книгу: «Belgische Finsternis», страница 5

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»Ich hab keine Lust mehr auf Ausreden.«

»Wie bitte? Ella! Was ist los mit dir?«

Ella schwieg. Sie bemerkte, dass ein Flügel des Marienkäfers nutzlos abstand.

Nicht aufgeben, kleiner Käfer!

»Jetzt gehst du natürlich hin, damit die Polizei keinen Verdacht schöpft. Sag denen nur ja nichts von uns!«

»Natürlich nicht.«

Ein Windhauch ließ die Blätter rascheln. Die Sonnenstrahlen trafen ihre Augen. Sie blinzelte. Als sie wieder aufblickte, war der Marienkäfer verschwunden.

»Nach deinem Meeting bei der Polizei rufst du mich an! Wir werden uns morgen sehen müssen.«

Du bist stark, du bist Ella!

»Ich lass mich nicht mehr von dir rumkommandieren. Das ist nicht gut für mich.«

»Überleg dir gut, was du sagst, Ella.«

»Das alles geht an meine Nerven. Das Versteckspiel. Die ewige Warterei … das macht mich krank. Ich kann so nicht mehr weitermachen. Wenn bis September nichts geregelt ist, dann –«

»Dann was?«

Ella streckte die freie Hand nach oben, spürte das Kitzeln der Blätter. Wahllos umschloss sie ein Blatt und riss es ab.

»Wie kannst du es wagen, mir ein Ultimatum zu stellen? Du hast mir alles zu verdanken. Du rufst mich heute Abend an!« Die Stimme ließ keinen Widerspruch zu.

Ella brachte ein jämmerliches »Ja« hervor, doch im selben Augenblick vernahm sie das Tuten. Ihr Gesprächspartner hatte aufgelegt.

Tränen rannen aus ihren Augen. Als sie sie wegwischen wollte, bemerkte sie das abgerissene Blatt in ihrer Hand wieder. Sie öffnete die Handfläche und sah, eingehüllt inmitten des Blattes, den Marienkäfer.

Er war tot.

9

Ein kleines Büro auf der Nordseite des Gebäudes diente als Vernehmungszimmer. Ella Weeber saß mit dem Rücken zur Glastür, durch die ich sie beobachtete. Sie war mit zehn Minuten Verspätung erschienen. Bekleidet mit einer weißen Bluse, die am Rücken von Schweiß durchnässt war. Mit beiden Händen umklammerte sie das bereits leer getrunkene Wasserglas, das vor ihr auf dem Tisch stand. Ihre Schuhe hatte sie ausgezogen. Die Zehen krallte sie fest in den grünen Teppichboden.

Wir gingen zu zweit hinein: Bender und ich. Damit wollte ich dem jungen Kollegen etwas Praxis verschaffen. Außerdem war ich der Meinung, dass ihm ein wenig Abwechslung vom Büroalltag mit Vanderhagen nicht schaden konnte. Lechat zeigte sich einverstanden und schaute von draußen zu.

»Wie geht es Ihnen?«

Die Frage sollte eigentlich der Auflockerung dienen, verfehlte aber ihr Ziel.

»Es ging mir schon mal besser. Danke.«

Sie drückte ihre Wirbelsäule durch, als hätte sie jemand ermahnt, aufrecht zu sitzen.

»Gibt es einen besonderen Grund, warum es Ihnen derzeit nicht gut geht?«

Sie zögerte mit der Antwort.

»Es ist, es ist nicht einfach …«, sie machte eine Pause, »… konfrontiert zu werden mit dem, was passiert ist.«

Mit so vielen Emotionen gleich zu Beginn hatte ich nicht gerechnet. Ich versuchte, sie zu beruhigen.

»Das ist ganz normal. Lassen Sie sich ruhig Zeit.«

Nach ein paar Sekunden schien sie sich gefangen zu haben.

»Wir haben den Schülerkalender von Felix Riegen gefunden.«

An ihrem langsamen Nicken erkannte ich, dass ihr der Name noch ein Begriff war.

»Am Tag von Felix’ Verschwinden ist etwas vermerkt.« Ich zeigte ihr den Schülerkalender und den Eintrag. Sie blinzelte dreimal, dann verzog sich ihr Gesicht, als wollte sie zu weinen anfangen. Doch ihr gelang es, die Tränen zurückzuhalten.

»Es ist derselbe Tag –«

»Ich weiß.«

Ich versuchte, soweit es ging zu vermeiden, sie mit den Geschehnissen zu konfrontieren, die ihre Familie betrafen. Allerdings sah ich mich auch in der Verantwortung, die Ermittlungen sorgfältig zu führen.

»Was möchten Sie wissen?«, fragte sie.

Kurz und schmerzlos. Sie wollte die Sache offensichtlich schnell hinter sich bringen.

»Können Sie uns schildern, wie Sie den Tag damals erlebt haben?« Meine Stimme war leise und fast ohne Intonation.

»Es war der letzte Schultag. Wir hatten morgens unsere Zeugnisse erhalten. Meins war gut, auch wenn ich kaum gelernt hatte.« Sie lächelte verlegen. Dann wurde sie wieder ernst. »Ich war im Wetzlarbad mit einigen Freundinnen schwimmen. Wir kamen früher zurück als geplant, da es irgendwann zu regnen begonnen hatte. Als ich in der Stadt aus dem Bus stieg, hat Wilma Ersfeld auf uns gewartet. Sie kam auf mich zu, und ich … ich hab sofort geahnt, dass was passiert sein musste. Wir setzten uns auf die überdachte Bank, da, wo heute der Petanque-Platz ist. Dann sagte sie mir …«

Der Druck war zu stark, eine Träne trat aus ihrem rechten Auge. Ella Weeber stützte ihren Kopf auf die linke Hand. Schluchzend fuhr sie fort.

»An danach kann ich mich kaum noch erinnern. Ich wusste nur, dass ich von Raaffburg wegwollte.«

Ich reichte ihr ein Taschentuch. Sie setzte ihre Brille ab und tupfte sich das Gesicht trocken.

»Wohin sind Sie dann mit Ihrem Vater gegangen?«

»Mein Vater hatte sich zwei Jahre vorher nach Las Vegas abgesetzt.«

»Sie waren also plötzlich allein?«

»Ich bin nach Trier gegangen«, antwortete sie nüchtern.

»Allein?«, wiederholte ich verwundert.

»Zu einer Pflegefamilie.« Sie klang bekümmert. Das Taschentuch wanderte von einem Auge zum anderen.

Dass sie als Belgierin bei einer Familie in Deutschland untergekommen war, überraschte mich nicht. Ich hatte davon gelesen, dass der deutschsprachige Osten Belgiens aufgrund der landesinternen Sprachbarriere verschiedene Kooperationen im Pflege- und Gesundheitsbereich mit den angrenzenden Bundesländern Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz unterhielt.

»Beschreiben Sie bitte Felix Riegen«, brachte Bender plötzlich in einer Stimmlage hervor, die klang wie eine Gitarrensaite kurz vorm Zerreißen.

Die Frage kam für meinen Geschmack zu früh, lieber hätte ich sie gegen Ende des Gesprächs gestellt.

Ella Weeber setzte die Brille wieder auf und blickte den jungen Kollegen an, als habe sie ihn gerade erst wahrgenommen.

»Felix war ein Freund meines Bruders. Früher, als sie noch Fußball gespielt haben, enger als später. Ich habe nicht immer alles mitbekommen … war ja jünger als die beiden.«

Sie kratzte sich fahrig am Ellbogen. »Er war schludrig und ungepflegt. Ich hab ihn meist nur gesehen, wenn er bei meiner Mutter Klavier gespielt hat. Ab und zu vertickte er auch Drogen.«

»Was für Drogen?«, fragte ich.

»Nichts Schlimmes. Hauptsächlich Hasch. Später wurde er ein bisschen seriöser. Hat für irgendwas gespart, das sagte er zumindest.« Ella Weeber machte ein ratloses Gesicht.

»Wann haben Sie ihn zum letzten Mal gesehen?«

»Ich weiß es nicht. Hatte nicht viel mit ihm zu tun.«

»Und Ihren Bruder?«

Meine Frage klang barscher als beabsichtigt. Ella Weeber stockte und blieb einige Sekunden lang stumm.

»Am Abend vorher«, antwortete sie schließlich. »Allerdings nur kurz. Er ist mit Freunden was trinken gegangen.«

»Trank er öfter?«

»Ja … nein. Eigentlich nein. Es fing alles mit diesem Kurzgeschichtenwettbewerb an. Gregory war immer sehr ehrgeizig. Er wollte mehr von der Welt sehen als nur Raaffburg. Sein ganzes Zimmer war voller Poster von Reisezielen.«

Sie gestikulierte wild, ohne zu merken, wie wirr sie antwortete.

Ich wurde hellhörig. »Was für ein Wettbewerb war das genau?«

»Wie ich schon sagte, Kurzgeschichten. Organisiert durch die Schule. Der Sieger durfte für zwei Monate im Schulaustausch nach Madagaskar.«

Madagaskar also.

»Und der Sieger stand schon vorher fest«, schlussfolgerte ich.

Sie nickte. »Keiner konnte so gut schreiben wie Gregory.«

»Aber er hat nicht gewonnen?«

Sie schluckte laut. »Nein. Felix war der Sieger.«

»Was hat Ihr Bruder dann gemacht?«

»Er war enttäuscht. Saß tagelang in seinem Zimmer, fing an zu trinken. Und dann … war er tot.« Ihr Gesicht verzerrte sich, und es kullerten erneut Tränen aus den müden blauen Augen.

Bender schien diesen Umstand nicht bemerkt zu haben. »Wann war das?«, fragte er, etwas mutiger als eben.

Ich merkte, dass Ella Weeber nicht genau wusste, was Bender meinte. »Der Wettbewerb«, konkretisierte ich.

»Ungefähr zwei Wochen vorher.« Ella Weeber schlug ihre Hände vors Gesicht. Dann nahm sie das dünne Brillengestell von ihrer Nase und wischte sich mit einem neuen Taschentuch trocken. Ihre Trauer wirkte ehrlich.

»Erlauben Sie mir noch eine Frage, Frau Weeber?«

Ich wartete ihre Reaktion ab.

Sie nickte mit leicht bebenden Lippen.

»Können Sie sich vorstellen, was der Grund für das im Schülerkalender notierte Treffen der beiden gewesen sein könnte?«

»Nein.«

Ihre Antwort kam schnell. Ich hakte nach.

»Keine Idee?«

»Es kann alles gewesen sein. Fußball spielen, schwimmen … Ich weiß es nicht.« Sie putzte lautstark ihre triefende Nase.

»War Gregory eifersüchtig auf Felix Riegen wegen des Wettbewerbs?«, fragte ich, nachdem wieder Ruhe eingekehrt war.

Ihr Gesicht erstarrte, als überlegte sie, ob sie mir tatsächlich eine Antwort auf meine Frage geben wollte. »Er war enttäuscht. Er war aber nicht aggressiv, wenn Sie das meinen.«

»Wenn er tagelang enttäuscht in seinem Zimmer saß, kann er da nicht was ausgebrütet haben?«

Sie zuckte die Schultern. »Weiß nicht. Ich weiß es wirklich nicht.« Sie legte ihre Hände vors Gesicht und brach dahinter erneut in Tränen aus.

Die Konfrontation mit den Ereignissen von damals machte ihr mehr zu schaffen, als ich im Vorfeld angenommen hatte. Ich entließ sie und bedankte mich für ihr Erscheinen. Sie sicherte mir zu, noch bis übermorgen zu bleiben, sollten bis dahin noch Fragen aufkommen. Dann verließ sie niedergeschlagen das Vernehmungszimmer und trottete auf das Großraumbüro zu, durch das sie nach draußen gelangen konnte.

Derweil schlug ich den Weg in die Küche ein. Ich war noch in Gedanken bei ihrem Schicksal, als ich von hinten Vanderhagens gehässiges Lachen hörte. Als er sich meiner Aufmerksamkeit sicher war, drehte er übertrieben seine Fäuste vor den Augenhöhlen und senkte die Mundwinkel theatralisch nach unten, als würde er heulen.

Dieser Idiot! Er muss sie durch das Fenster beobachtet haben.

Ich zwang mich zur Selbstkontrolle. »Wussten Sie von dem Kurzgeschichtenwettbewerb?«

»Ja klar. Haben wir schon ermittelt.« Eine widerliche Selbstzufriedenheit prangte in seinem Gesicht.

Bleib ruhig. Es gibt jetzt Wichtigeres!

»Wo sind die Reisetickets, die der Gewinner bekommen sollte?«

»Die Tickets wurden nie gefunden.«

»Vielleicht wurden die Tickets registriert«, wandte Bender ein.

Vanderhagen schaute ihn abfällig an. »Wurde damals schon überprüft. Die Tickets wurden nie benutzt. Da haben wir die Bestätigung der Fluggesellschaft.«

»Womit wurde der Abgleich gemacht, wenn die Tickets nicht gefunden wurden?«, prüfte ich seine Aussage. Ich wollte auf Nummer sicher gehen.

»Mit der Bestellbestätigung natürlich«, erwiderte er gereizt. »Da standen die Ticketnummern drauf.«

»Und trotzdem glauben Sie, dass Felix Riegen nach Afrika ausgewandert ist?«

Seine Augen zogen sich eng zusammen. »Denken Sie wirklich, der Junge ist so blöd und benutzt die Tickets? Der hat einfach andere gekauft.«

»Was? Auch für Madagaskar?«, fragte ich erstaunt.

»Ach«, winkte er ab. »Was weiß ich, was der Knabe gemacht hat.«

»Mit Behauptungen kommen wir hier nicht weiter. Haben Sie Belege dafür?«, fragte ich, erntete dann aber ein zähneknirschendes Kopfschütteln.

Innerlich machte ich es ihm nach. Ich konnte es nicht leiden, wenn Menschen lose Behauptungen ohne Fundament in die Welt setzten und damit nicht nur ihre, sondern auch meine Zeit vergeudeten.

»Prüfen Sie bitte bei den Behörden in Madagaskar, ob dort jemals ein Felix Riegen eingereist ist!«, sagte ich streng. Mit ernster Miene zog Vanderhagen Richtung Schreibtisch ab. Einen Augenblick danach entfernte sich auch Bender, um seinen Block mit Notizen zu füllen.

Ich nutzte die kurze Pause, um mir ein Glas Wasser einzuschenken. Während ich trank, lehnte ich im Türrahmen. Meine Aufmerksamkeit fiel auf Ella Weeber, die ich durch die Scheibe im Großraumbüro sehen konnte. Zu meiner Verwunderung kauerte sie am Boden und hielt ein Blatt Papier in der Hand, das offenbar zusammen mit anderen heruntergefallen war. Ihre Augen wirkten groß und ließen vermuten, dass sie etwas Schreckliches sahen. Ich wollte zu ihr, fragen, was los war. Doch noch bevor ich die Tür erreicht hatte, lief sie hinaus in Richtung Treppenhaus.

Ich eilte ihr hinterher, doch ich kam zu spät. Ich konnte nur noch beobachten, wie ihre Beine einknickten und ihr Körper seitlich gegen die Wand prallte. Sie knallte mit den Knien auf den Boden. Ihr Mund war weit aufgerissen, brachte aber keinen Laut hervor. Ihre Arme lagen schwach in ihrem Schoß.

Dann brach sie in lautes Schluchzen aus.

»Wenn ich an ihn denke, habe ich oft dieses Bild vor Augen.«

Es war das Erste, das Ella Weeber sagte, nach mehreren Minuten, in denen ich versucht hatte, sie zu beruhigen.

Die angenehme Kühle im Treppenhaus hatte ihr offenbar gutgetan.

»Er sitzt am Küchentisch, turnt auf der Eckbank rum und isst zwischendurch Cornflakes. Die Originalen. Er liebte sie. Aber sosehr er sie geliebt hat, er ließ immer einen in der Schüssel liegen. Als wäre dieser eine kleine Cornflake zu viel. Ich musste darüber immer lachen.«

Sie unterbrach sich, weil sich eine Wespe, die sich ins Treppenhaus verirrt hatte, in ihre blonden Locken setzte. Sie zog ihre spitze Nase hoch und schlug das kleine Tier im nächsten Moment mit der Hand beiseite. Dann holte sie tief Luft und versuchte aufzustehen. Doch noch bevor sie den ersten Schritt tun konnte, sackte sie erneut zusammen. Ich fing sie auf und hielt sie fest in den Armen.

»Ich muss los«, erklärte sie dennoch überstürzt.

»Sie müssen sich jetzt erst mal erholen«, entgegnete ich.

»Pierre. Mein Sohn.«

»Was ist mit ihm?«

»Sie könnten ihn nicht abholen?«

Ihre Augen waren gerötet von den Tränen.

»Sicher. Wo ist er denn?«

Sie schluchzte, leiser als vorhin. »In Trier, am Pfadfinderheim Pater Damian. Um achtzehn Uhr.«

»Ich werde einen Kollegen schicken«, versicherte ich.

»Danke. Ich werde ihm schreiben, dass ein Polizist kommt«, sagte sie erschöpft.

Wieder war es ein paar Minuten still. Dann richtete sie sich mühsam auf. Ich stützte sie, aber nur kurz. Denn diesmal konnte sie allein stehen. Sie starrte mir in die Augen.

»Ich habe sie noch nie gesehen.«

»Wen oder was?«, fragte ich leise.

Ella Weeber schluckte laut. »Die Bilder.«

10

Nachdem ich meine Kollegen über die Ereignisse informiert hatte, brachte ich Ella Weeber zur psychologischen Betreuung. Mit der Gewissheit, dass sie dort gut aufgehoben war, begab ich mich schließlich zurück ins Präsidium. Dort hörte ich die Stimmen bereits, als ich das Treppenhaus betrat. Je näher ich dem zweiten Stock kam, desto lauter wurden sie.

»Was für ein asozialer Kerl sind Sie überhaupt?«, knurrte Lechat.

Sein Hals war derart angeschwollen, dass ich fast sehen konnte, wie das Blut durch seine Adern gepumpt wurde. Vanderhagen antwortete nicht, sondern verkroch sich hinter seinem Bildschirm.

»Was ist hier los?«, fragte ich.

Lechat atmete laut und sah mich kopfschüttelnd an. »Der hat den Jungen zusammengeschissen wie ein Irrer.« Lechats Blick bewegte sich zur Tür, durch die Bender offensichtlich verschwunden war. »Der Junge hat die Akte offen liegen lassen, und die Bilder sind runtergefallen. Meine Güte! Das kann doch mal passieren.«

Ich hatte das schon oft mit ansehen müssen, und immer war es eine leidvolle Erfahrung gewesen: Die beste Ausbildung mit Uni-Abschlüssen und Probeeinsätzen bringt nichts, wenn die Erfahrung in der Realität fehlt. Junge Polizisten haben noch nicht das Gespür für potenzielle Gefahrenquellen. Im besten Fall macht man Fehler nur einmal und lernt daraus, aber manchmal enden diese Fehler tragisch.

»Wo ist er denn jetzt?« Ich stellte die Frage so, dass beide Streithähne sich angesprochen fühlen konnten.

Lechat starrte wütend auf den Boden, während Vanderhagen immer tiefer in seinen Stuhl rutschte.

»Der ist einfach rausgerannt«, sagte Vanderhagen schließlich kleinlaut.

Lechats Gesicht wurde noch roter. »Zur Sau gemacht hat er ihn! Auf übelste Art.«

Ich merkte, dass auch ich wütend wurde über das Umsichschlagen von Vanderhagen, das diesmal das schwächste Glied in unserer kleinen Mannschaft getroffen hatte. Sicher, Bender hätte achtsamer sein und die Akte beim Verlassen des Tisches schließen müssen. Allerdings war es auch ein blöder Zufall gewesen, dass die Bilder offenbar genau in dem Moment heruntergefallen waren, als Ella Weeber vorbeiging. Aber egal wie man argumentierte, Vanderhagens Verhalten war inakzeptabel.

»Ich möchte, dass Sie Bender anrufen und sich bei ihm entschuldigen.«

Wer sich wie ein Kind benimmt, soll auch wie eins behandelt werden.

Vanderhagen führte seine Maus von links nach rechts. Dann folgte eine kurze Auf-und-ab-Bewegung seines roten Kopfes, die ich als Zustimmung deutete.

»Jetzt gleich!«

Bender war ein ängstlicher, unsicherer Polizist, dessen Selbstbewusstsein gestärkt werden musste. Statt ihn mit Ausrastern zu demotivieren, sollten wir ihm Mut zusprechen. Je eher, desto besser.

Mein eben erst abgekühltes Hemd war aufgrund der Hitze im Büro schnell wieder schweißnass geworden. Ich merkte, dass ein strenger Geruch von mir ausging. Im Augenwinkel sah ich, dass Lechat sich inzwischen im Türrahmen postiert hatte und mit seinem Autoschlüssel spielte.

»Kommen Sie, ich zeig Ihnen Ihre Unterkunft.« Er hatte sich wieder einigermaßen beruhigt.

Bevor ich ihm ins Treppenhaus folgte, blickte ich zurück und beobachtete, wie Vanderhagens Hand nach dem Telefonhörer griff.

»Sie war damals erst fünfzehn.«

Lechat hatte Probleme, in der scharfen Linkskurve den Wagen auf der Straße zu halten. Meine Hand umklammerte den Türgriff.

»Zu jung, um die verstümmelten Körper ihrer Mutter und ihres Bruders zu sehen, an denen Köpfe, Füße und Hände fehlen.«

Ich fragte mich, ob man dafür jemals alt genug war.

»Wie wurden die Opfer identifiziert?«

»Wir haben ein DNA-Matching mit den eigenen Haarresten der Opfer und mit der DNA der Blutsverwandten machen lassen«, sagte Lechat schnaufend.

»Warum wurden die Glieder eigentlich nie gefunden?«

Lechat zog seine linke Lippenhälfte samt Schnauzer hoch. »Heming, dieses kranke Schwein, hat das Versteck nie verraten.«

Wenn Gregory Weeber und Felix Riegen sich vor den Morden getroffen hatten, hatte Heming Felix vielleicht noch gesehen. Diese Chance konnten wir nicht ungenutzt lassen.

»Wir sollten zu ihm!«

Lechat ließ sich Zeit. Er zündete sich eine Gauloises an und hauchte Qualmringe aus.

»Machen wir. Er sitzt in Lantin. Das ist nicht weit. Aber ich warne Sie: Der Typ ist krank, und er wird uns nicht helfen.«

Während meiner Arbeit in Brüssel hatte ich eine Vielzahl übler Gestalten getroffen. Mehrere davon saßen in Lantin. Aber ich wusste: In jedem Menschen, selbst wenn er noch so böse war, schlummerte eine Sehnsucht, für die er bereit wäre, alles stehen und liegen zu lassen. Sei es, um die Familie wiederzusehen, den Mount Everest zu besteigen oder einfach nur, um in Freiheit zu leben. Unsere Aufgabe würde sein, die Sehnsucht des Köpfchensammlers herauszufinden und ihn damit zu ködern.

Aber davor gab es noch Wichtigeres.

Vanderhagen rief an. Ich glaubte in seiner Stimme eine gewisse Demut zu erkennen. Er berichtete, dass seit 2003 kein Flugzeug mit einem Passagier namens Felix Riegen in Richtung Madagaskar geflogen sei. Die Überprüfung der anderen Passagierdaten und alternativer Transportwege in dieser Zeit laufe noch. Viel Hoffnung habe er aber nicht, da Felix Riegen bereits in der Interpol-Datenbank erfasst worden war und das System mitsamt den automatischen Suchabläufen eine Meldung geben würde, sobald ein Treffer erfolgte. Aus Erfahrung wusste ich aber, dass die Synchronisierung der ländereigenen mit den internationalen Daten nicht immer hundertprozentig übereinstimmte.

Möglicherweise war er ja auch als blinder Passagier oder mit einem Privatboot mitgefahren. Was macht man als junger Typ mit wenig Geld, der einfach nur verschwinden will? Trampen, jobben, anheuern, sich durchschlagen. Darüber würden wir niemals Daten finden. Das war die Stecknadel im Heuhaufen.

Nach dem Gespräch mit Vanderhagen überlegte ich, wie wir in dem Fall vorankommen konnten.

»Welche anderen Quellen könnten wir noch anzapfen?«

Ich stellte die Frage laut, in der Hoffnung, dass Lechat mit überlegte.

Mir kam das Bild des gebrochenen Mannes wieder in Erinnerung, dessen Gesicht der Sahara glich. »Wann kommt der Vater von Felix Riegen?«

»Wie?« Lechat schaute mich verdutzt an. »Ins Präsidium, meinen Sie?«

Ich nickte.

»Der kommt nicht.« In seiner Antwort lag nicht viel Wille, den Umstand zu ändern.

»Warum?«

»Der hasst uns.«

»Aber wir müssen ihn befragen.«

Als Vater des Jungen war er eine wichtige Informationsquelle. Wenn er selbst auf der Suche nach seinem Sohn war, verfügte er vielleicht über Hinweise, die uns bisher verborgen geblieben waren.

»Der Kerl ist besessen davon, dass sein Sohn lebt.«

Lechat brauchte seine Behauptung nicht zu erläutern. Entlang der Hauptstraße waren in regelmäßigen Abständen Plakate von Felix angebracht. Doch mit dem Bild, das wirkte, als wäre es aus einem alten Computerspiel kopiert, würde er den Jungen sicher nie finden.

»Ein Grund mehr, ihn vorzuladen.«

»Das Problem ist, dass die Presse bei jedem Pieps, den der Riegen macht, aufspringt wie ein Känguru und ein Feuerwerk veranstaltet. Und das auf unsere Kosten.« Lechat klopfte genervt auf das Lenkrad. »Sie wollen nicht wissen, was passiert, wenn die Presse erfährt, dass wir bei ihm waren.«

»Die Presse wird wohl keine Vollzeitdetektive auf ihn angesetzt haben. Oder?«

Lechat blieb stumm und schaute auf die Straße.

»Wir fahren morgen zu ihm – alles andere wäre fahrlässig«, bekräftigte ich.

Widerwillig schüttelte er den Kopf, während er die Zigarette ausdrückte. Nur um sich gleich eine weitere anzuzünden. Dabei verwandelte sich sein eben noch betrübt wirkendes Gesicht in ein zufriedenes Schmunzeln. »Sie sind hartnäckig, das gefällt mir. Aber ich warne Sie. Sie wissen gar nicht, wie einfallsreich die Presse sein kann.«

Es war achtzehn Uhr, als wir auf den Parkplatz der Schule fuhren. Mein Magen knurrte laut. Kein Wunder, hatte ich doch bis auf das kleine Baguette mit Ardenner Schinken noch nichts gegessen.

Hoffentlich findest du gleich noch einen Imbiss.

Die Schule war ein großer Komplex aus roten Backsteinziegeln, die offensichtlich kürzlich gesandstrahlt worden waren. Die Fensterrahmen bestanden aus Holz und wirkten etwas vernachlässigt. Da von vorne nichts zu sehen war, vermutete ich den Schulhof im hinteren Bereich. Wir gingen auf das Nebengebäude der Schule zu, das in ähnlichem Stil gebaut war. Allerdings war das Grundstück durch einen Maschendrahtzaun abgegrenzt. Darin war ein Eingangstörchen. Es war nicht abgeschlossen. Da keine Klingel zu erkennen war, betrat ich den Vorgarten, in dem zahlreiche Mohnblumen und Hortensien blühten. Doch dann erstarrte ich. Ein schwarzer Schäferhund hechelte direkt auf mich zu. Er war knapp vier Meter entfernt. Ich suchte nach einem Baum, auf den ich flüchten konnte. Zu meiner Rechten sah ich eine Birke, zu der ich augenblicklich rannte.

Doch ich war zu langsam.

Der Hund packte mich am Schuh. Er knurrte vor Wut, während sich seine scharfen Zähne in meiner Hose verhakten.

»Lass los, du Biest!«, schrie ich den Hund an.

Erst jetzt bemerkte ich, dass Lechat gar nicht mit in den Garten gekommen war.

Plötzlich ertönte aus dem hinteren Teil des Grundstücks ein lautes Pfeifen.

»Nero, aus!« Die kräftige Stimme gehörte einem Mann in einem grün-braunen Karohemd. Sofort ließ der Hund von mir ab und rannte schwanzwedelnd zu seinem Herrchen.

Gerade noch mal gut gegangen.

»Was machen Sie hier?«

Der Mann hielt in der Hand eine Gartenhacke, die im Sonnenlicht blinkte. Seine Hände waren groß und kräftig. Das linke Auge war nur halb geöffnet. Es schien entzündet zu sein.

»Wir wollen zu Wilma«, hörte ich Lechats Stimme am Eingangstörchen. »Ist sie da?«

Der Mann nickte, während er sich umwandte und schwerfällig in Richtung Hintergarten abzog, mit dem Schäferhund im Schlepptau.

Lechat deutete meinen fragenden Ausdruck richtig. »Das ist André Vissels, der Hausmeister der Schule. Er ist nicht ganz beisammen.«

Ich nahm dies zur Kenntnis, stellte keine Fragen. Zu sehr stand ich noch unter Schock. Eine Entschuldigung seitens des verrückten Hausmeisters wäre aber allemal angebracht gewesen.

Lechat ging strammen Schrittes an dem Haus vorbei. Ich folgte ihm. Auf halbem Weg erwartete uns bereits eine kleine betagte Dame mit grauen Locken, die uns langsam, aber mit offenen Armen entgegenkam.

»Da sind Sie ja. Ich habe Sie schon erwartet.«

Sie lächelte fröhlich, nahm mich am Arm und führte mich zum Eingang des Hauses, der auf der Rückseite lag. Offensichtlich hatte sie von der Hundeattacke gar nichts mitbekommen, und ich wollte keine Umstände machen, also verkniff ich mir einen Kommentar.

»Kommen Sie rein, Herr Kommissar, ich zeige Ihnen Ihr Zimmer.«

Sie bat auch Lechat ins Haus, doch er lehnte dankend ab. Seine Frau habe noch Pläne mit ihm, verriet er augenzwinkernd.

Ich folgte Wilma Ersfeld nach oben in das für mich vorgesehene Zimmer. In dem hohen Treppenhaus aus dunkel gebeizter Eiche hingen mehrere Ölgemälde. Das Knarren der Stufen verlieh meinem Gang etwas Erhabenes. Mein Zimmer befand sich auf dem Dachboden und war komfortabel geschnitten. Die antiken Massivholzmöbel bewirkten, dass ich mir wie auf einer Reise in eine andere Zeit vorkam. Unangenehm war lediglich die drückende Hitze, die mir beim Betreten des Raumes entgegenwuchtete. Unwillkürlich blies ich die Backen auf.

»Furchtbar, diese hohen Temperaturen, nicht? Hier haben Sie einen Ventilator.«

Wilma Ersfeld zeigte zur Decke, wo eine wahre Antiquität hing.

»Vielen Dank, Frau Ersfeld.«

»Nennen Sie mich doch bitte Wilma.«

»Wird gemacht. Ich heiße Piet.«

Sie nickte gutmütig und griff nach dem Geländer. Dann stieg sie vorsichtig die kleinen Stufen hinunter. »Sollte etwas fehlen, Piet, ich bin unten in der Wohnung. Die Tür ist abgeschlossen. Aber wenn Sie klopfen, öffne ich Ihnen.«

Ich war froh, endlich einen Moment für mich zu haben. Ich zog meine verschwitzten Sachen aus und duschte mich kalt ab. Frische Handtücher und Seife lagen bereit.

Nach der erfrischenden Dusche wurde mir wieder ein Problem bewusst: Ich verfügte immer noch nicht über Kleidung zum Wechseln. Und da ich keine Lust auf die alten miefigen Klamotten hatte, schaltete ich den Ventilator ein und legte mich nackt aufs Bett. Es war angenehm kühl. Und beinahe wären mir die Augen zugefallen. Doch ein dumpfes Klopfen hinderte mich daran.

Was zum Teufel …?

Ehe ich begriff, was los war, öffnete sich die Tür bereits einen Spalt. Ich rollte mich zum Fenster hin von der Matratze und schlüpfte blitzschnell in meine abgenutzten Boxershorts, die auf dem Stuhl hingen.

»Hallo, ich störe nur ganz kurz.«

Die Tür öffnete sich, und Wilma kam mit einem Tablett in der Hand herein. Darauf standen ein großer Teller mit ein paar Scheiben Brot, einem guten Stück Ardenner Schinken und einem Viertel weichem Herver Käse, garniert mit Sirop de Liège, sowie zwei Flaschen helles Abteibier aus Aubel. Sie ignorierte, dass ich bis auf die Unterhose nackt war. »Sie haben sicher Hunger nach dem anstrengenden Tag.«

Ich war überwältigt, im wahrsten Sinne des Wortes. Eine ordentliche Portion regionaler Delikatessen zu verspeisen, stand auf meiner To-do-Liste ganz weit oben.

»Vielen Dank, Wilma. Das ist jetzt genau das Richtige.«

»Wenn Sie noch mehr möchten, sagen Sie einfach Bescheid.«

»Passen Sie auf, sonst mache ich Ihnen noch einen Heiratsantrag.«

Sie lachte und warf ihren Kopf dabei leicht in den Nacken. Ihre kleinen braunen Augen strahlten durch die Nickelbrille. »Ist doch gern geschehen. Gute Nacht, Piet«, sagte sie und schlich mit ihren geschwollenen Knöcheln die steile Treppe wieder hinunter.

Ich leerte den Teller in einer Viertelstunde. Es schmeckte vorzüglich. Und das Bier, ein Val-Dieu, passte perfekt dazu. Ich beließ es aber bei einem. Ich war einfach zu müde, außerdem hatte ich den letzten Wochen reichlich Alkohol konsumiert.

Ich warf noch einen kurzen Blick in das Buch über die Töpferkunst Raaffburgs, das Wilma mir auf den Nachttisch gelegt hatte. Über die erste Seite kam ich allerdings nicht hinaus. Erschöpft legte ich mich ins Bett und schlief begleitet vom Surren des Ventilators ein.

Irgendwann wurde ich von einem Geräusch geweckt. Vielleicht ein Stein, der ans Fenster geworfen wurde. Aber draußen war niemand. Ich sah nur den dunklen Garten hinter Wilmas Haus. Auf den vorderen Teil konnte ich von meinem Fenster aus nicht blicken. Ich versuchte, das Fenster zu öffnen, aber es gelang mir nicht. Der Griff war nicht mehr richtig im Rahmen verankert und drehte ohne Widerstand durch. Ich blickte auf die Kirchturmuhr in der Ferne, sie stand auf zwei Uhr. Das Zimmer hatte Saunatemperatur. Ich setzte mich aufs Bett und schaute zur Decke. Und da sah ich es: Der Ventilator war stehen geblieben.

Ich stieg aufs Bett und legte den Schalter von links nach rechts und wieder zurück, ohne Erfolg.

Verdammt noch mal!

Beim Blick auf mein Handy registrierte ich einen verpassten Anruf. Karls hatte versucht, mich um zehn Uhr abends zu erreichen. Sicher wollte er wissen, ob es Neuigkeiten gab. Ich würde ihn gleich am nächsten Morgen zurückrufen.

Ich legte mich aufs Bett und wälzte mich mehrere Minuten lang von links nach rechts, legte die Decke unter, zwischen und letztlich auf die Beine. Doch ich konnte nicht einschlafen. Es war zu warm.

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