Читать книгу: «Belgische Finsternis», страница 4

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»Der Junge hat wenig Schulisches eingetragen, war wohl nicht der Fleißigste. Aber hier und da sind geheimnisvolle Kürzel vermerkt. Wir haben sie zwar noch nicht entschlüsselt, aber sie könnten interessant sein. Besonders der Eintrag, den er am Tag seines Verschwindens gemacht hat.«

Lechat parkte den Wagen und zog die Handbremse.

»GW«, sagte er und schaute mich mit seinen hervortretenden blauen Augen so an, als sei bereits alles gesagt.

»Ja und? Gibt es jemanden, auf den die Initialen passen?«, fragte ich, nachdem wir uns fünf Sekunden lang stumm angeschaut hatten.

»Ja. Gregory Weeber.«

»Wo ist das Problem? Laden wir den Jungen vor!«, sagte ich, während mir einfiel, dass der Junge mittlerweile wohl ein Mann sein musste.

»Das geht leider nicht. Der Junge ist tot.«

7

Die Temperatur in dem Großraumbüro des Polizeipräsidiums betrug siebenunddreißig Grad Celsius, sofern die digitale Wetterstation nicht log. Von der Mittagssonne aufgeheizte Luft drückte durch die weit geöffneten Fenster ins Gebäude. Sie brachte einen Geruch nach Chemie mit, ein Gemisch aus Öl und Bitumen, wahrscheinlich vom erhitzten Flachdach des Nachbargebäudes. Die Dimensionierung des Büros war ein Relikt aus Jahren, in denen Akten noch ausschließlich in Papier angelegt worden waren. Dunkelbraune Schränke standen ringsum an den Wänden und ragten bis zu der vergilbten Stuckdecke. Insgesamt wirkte das Büro abweisend und viel zu groß für die wenigen Personen, die hier angestellt waren. Jeder meiner Schritte auf dem grau gesprenkelten Linoleumboden aus den Achtzigern wurde von einem unangenehmen Quietschen begleitet.

Bender und Vanderhagen saßen sich gegenüber, jeder klebte vor seinem Bildschirm. Bender sprang auf, als er uns sah, und rieb nervös die verschwitzten Hände an seinen hinteren Hosentaschen trocken.

»Möchten Sie Kaffee?«, fragte er.

»Nein danke, für mich nicht.«

Allein der Gedanke an Heißgetränke wirkte bei mir wie ein doppelter Aufguss in der Sauna.

»Wir setzen uns jetzt gemeinsam an den großen Tisch«, ordnete Lechat an und zeigte auf einen ovalen Eichentisch, der weiter hinten im Büro stand.

»Sie auch!«, ließ er Vanderhagen wissen. Gleichzeitig wies er mir den Platz gegenüber von sich zu.

Vanderhagen blickte Lechat missmutig hinterher und griff nach einer der grünen Mappen, die seinen Schreibtisch säumten.

»Glauben Sie, dass wir nichts Besseres zu tun haben, als uns um einen Fall zu kümmern, der seit fünfzehn Jahren im Schrank liegt?« Während Vanderhagen sprach, gab er vor, in die Akte vor sich vertieft zu sein, und blieb an seinem Schreibtisch sitzen. Abwartend beobachtete Lechat, wie Bender ihm zunächst Kaffee einschenkte und dann neben ihm Platz nahm. Kaum saß er, sprang er wieder hastig auf und flüsterte mir zu: »Sie wirklich nicht?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Letzten Freitag wurde bei den Weigels eingebrochen. Das hat jetzt erst mal Priorität«, murmelte Vanderhagen. Nervös tippelte er mit dem Zeigefinger auf der Computermaus herum.

Lechat schaute ihn nicht an. Seine leicht hervortretenden Augen richteten sich auf das Blatt Papier vor ihm. Er las jedoch nicht, er überlegte, das spürte man. Dann, nachdem er noch einmal tief Luft geholt hatte, erhob er seine schleppende Stimme.

»Sie kommen jetzt, oder ich schließe Sie von den gesamten Ermittlungen aus!«

Hat er mich nicht gerade den Verantwortungswisch unterschreiben lassen?

Egal. Ich merkte, dass Lechats Fokus auf etwas Wichtigerem lag. Auf dem, was er uns gleich erzählen wollte. Das damals Geschehene schockierte ihn offenbar noch heute.

Mürrisch kam Vanderhagen zu uns an den Tisch und zerrte den Stuhl neben mir so rabiat zurück, als wollte er den Boden umpflügen. Dann setzte er sich, ohne die grimmige Miene abzulegen.

»Vom 7. Februar bis zum 30. Juni 2003 trieb in Raaffburg ein Monster sein Unwesen. Ivo Heming schlug insgesamt fünfmal zu. Fünfmal Mutter und Sohn. Mit einer Axt trennte er den Opfern Kopf, Hände und Füße ab. Danach versteckte er die Körperteile.«

Lechat sprach nüchtern wie ein Nachrichtensprecher. Den Kopf gesenkt, die Hände flach auf dem Tisch liegend. Er trank geräuschvoll aus seiner Tasse, bevor er mit verzogenem Gesicht weitersprach.

»Sie wurden nie gefunden. Die Körperstümpfe der Opfer platzierte der Perversling in Löffelchenstellung in der freien Natur. Die Mutter hinten, der Sohn vorne. Mit den Kleidungsstücken der Opfer bedeckte er teilweise ihre Oberkörper.«

In Lechats Ton lag tiefe Abscheu. Ich schaute hinüber zu Bender, der seinen langen Körper zu Lechat hin krümmte. Mit offen stehendem Mund schob er die eckige blaue Brille zurecht und faltete dann seine Hände zurück in den Schoß.

»Gregory Weeber und seine Mutter Marie Weeber waren eines der Opferpaare. Das letzte.«

Lechat zwängte seine Hände in dünne Plastikhandschuhe, die er zuvor aus der Ledertasche zu seinen Füßen gekramt hatte. Dann zog er ein kleines hellblaues Buch hervor, befreite es von der Klarsichtfolie, in die es eingehüllt war, und legte es zwischen seine Hände auf den Tisch.

»Die Spurensicherung hat außer den Fingerabdrücken von Felix keine verwertbaren Spuren an dem Kalender gefunden. Die Handschuhe sind nur eine reine Vorsichtsmaßnahme von mir«, sagte er, bevor er schwer schluckte.

»Wo hat der Mörder seine Opfer überwältigt?«, fragte ich.

Lechat räusperte sich. »Beim ersten Mal hat er abends auf offener Straße zugeschlagen. Die drei Paare danach suchte er bei Nacht zu Hause auf. Und Gregory und seine Mutter fuhren mit dem Rad durch den Wald, als er sie überfiel.«

»Warum hat er nach drei Morden hinter verschlossener Tür wieder die Öffentlichkeit gewählt?«, fragte ich.

»Das ist jetzt eigentlich nicht so wichtig«, betonte Lechat höflich.

»Ich weiß. Trotzdem interessiert es mich. Warum ging er das Risiko ein?«

Lechat rümpfte die Nase. »Wir vermuten, dass ihm die Morde draußen einen größeren Kick gaben.«

»Den Kick, möglicherweise beobachtet zu werden?«

»Zum Beispiel.«

»Und wo wurden die Rümpfe gefunden?«

»Auf Wiesen oder im Wald«, erklärte Lechat trocken.

Plötzlich brummte Vanderhagens Stimme auf. »Damals sind ein Dutzend Jungs abgehauen. Die hatten alle Schiss vor dem Scheißpsychopathen!«

»Blödsinn!«, erwiderte Lechat. »Drei Familien sind weggezogen. Alle drei sind wieder zurückgekehrt, nachdem Heming gefasst war.«

Lechats Hand hatte sich zu einer Faust verkrampft, die über den Tisch quietschte. Verärgert schüttelte er den Kopf. Vanderhagen, der schwitzend neben mir saß, würdigte er dabei keines Blickes.

»Felix Riegen war der Einzige, der Raaffburg allein verlassen hat. Und das Wichtigste in unserem Fall: der Einzige, von dem wir bis zum heutigen Tag weder etwas gesehen noch gehört haben.«

Er blätterte in dem hellblauen Büchlein. Auf einer Seite am Ende des Buches legte er den behandschuhten Zeigefinger auf den Eintrag, der am 30. Juni 2003 mit kräftiger Bleistiftmine hineingeschrieben worden war. Sein Finger lenkte meinen Blick zu den Initialen GW.

»Nun stecken Sie das lächerliche Buch weg! Da hält uns doch wieder jemand zum Narren!«, blaffte Vanderhagen, bevor er sich mit verschränkten Armen zurück in den Stuhl lehnte.

»Wissen Sie, was ›konstruktiv‹ bedeutet?«, fragte ich Vanderhagen.

Er seufzte verächtlich und neigte seinen roten Kopf zu mir. »Natürlich, Herr Professor.«

Auf Lechats Hals trat eine Ader hervor. Sie zuckte. Seine Hände faltete er vor Schnauzer und Mund zusammen. Ich versuchte, die Lage zu entschärfen, und lenkte den Fokus wieder auf den Fall. »Sie glauben, dass Felix Riegen vor seinem Verschwinden noch Gregory Weeber gesehen hat?«

Lechat schaute mir ernst in die Augen und überlegte kurz, bevor er antwortete. »Der Eintrag ist keine Garantie dafür. Aber die Möglichkeit besteht, ja.«

»Vielleicht hat Gregory Felix bei seiner Flucht geholfen.« Ich musste zweimal hinsehen, bis ich glauben konnte, dass Bender gerade gesprochen hatte. Mit ängstlicher Stimme. Den Blick starr auf den Schülerkalender gerichtet.

Doch bevor ich etwas sagen konnte, schlug Vanderhagen mit seiner rot behaarten Faust auf den Tisch. »Ja, oder Felix hat die beiden umgebracht und sie dem Köpfchensammler untergejubelt. Mein Gott, wacht auf!«

Was mache ich nur mit diesem Idioten?

Am liebsten hätte ich ihn rausgeschmissen. Das hätte ihm sicherlich gefallen. Aber so schwer es mir auch fiel, ich blieb ruhig. Aus Erfahrung wusste ich, dass bewusstes Ignorieren in so einem Fall oftmals Wunder bewirkte. Ich kam also wieder auf den Fall zurück und versuchte, Lechat aus der Reserve zu locken. »Wenn Gregory Weeber und seine Mutter Marie tot sind, was ist die Spur dann wert?«

»Gute Frage, Professor«, lobte Vanderhagen mich und bewegte seinen roten Kopf mehrmals auf und ab, was wohl ein zustimmendes Nicken sein sollte. »Das ist doch alles sinnlos!«

Entweder hatte Vanderhagen zu viel Wodka getrunken, oder sein ohnehin rotes Gesicht hatte zu lange in der Sonne geschmort. Lechats Ader pulsierte nun schneller als vorhin. Die Glupschaugen zogen sich zusammen und zeigten tiefe Verachtung. Dann beugte er seinen Körper nach vorne und packte Vanderhagen am Kragen.

»Sie Trottel, hauen Sie bloß ab!«

Erst war ich zusammengezuckt, derart furchteinflößend hatte Lechats Stimme geklungen. Dann sprang ich auf, legte meine Arme um Lechats Schultern und zog ihn von Vanderhagen weg. Lechat schnaufte und tupfte mit einem Stofftaschentuch seine Stirn ab. Vanderhagen blieb schockiert stehen.

»Ella Weeber wird gleich hierherkommen«, wandte Lechat sich schwer atmend an mich. »Sie ist Gregorys Schwester. Damals durfte sie nicht verhört werden, weil ihr Therapeut dagegen war. Sie ist unsere Chance.«

Vanderhagen verzog sich zu seinem PC. Lechat sah ihm geringschätzig hinterher und seufzte. »Unsere letzte.«

»Die Menschen hier waren nicht immer so mürrisch, wie Sie sie heute vorfinden. Das kam erst mit dem Köpfchensammler«, erklärte Lechat, der sich inzwischen wieder beruhigt hatte. Er und ich hatten das Präsidium kurz verlassen, weil sein Zigarettenvorrat aufgefüllt werden musste, wie er sagte. Der wahre Grund war natürlich, dass er Vanderhagens Visage nicht mehr ertrug.

»Erst waren die Leute verängstigt. Vor allem die Jungs aus dem Ort trauten sich nicht mehr vor die Tür. Öffentliche Partys wurden abgesagt. Ab und zu wurde privat gefeiert, auch das war aber eher selten. Einige kauften sich einen Hund, andere installierten Alarmanlagen oder legten sich nachts mit einem Baseballschläger auf die Lauer. Das Schlimmste aber war, dass die Leute sich gegenseitig verdächtigten. Die Presse spielte das Spielchen munter mit. Aus jedem Gerücht machte sie eine Story. Und wenn es sein musste, erfand sie eine«, erzählte Lechat, während er in periodischen Abständen sein Feuerzeug aufflammen ließ. »Die Menschen spielen verrückt, sobald sie mehr Aufmerksamkeit bekommen, als sie gewohnt sind. Und bei Verbrechen ist das ganz besonders so.«

Ich fragte mich, worum es hier eigentlich ging und wofür ich hierhergekommen war. Karls hatte verheißungsvoll von einer neuen Spur gesprochen. Ein Schülerkalendereintrag, der auf eine Person verwies, die seit Jahren tot war, fühlte sich jedoch eher an wie der Fund eines Kieselsteins in einem Steinbruch. Absolut nichts Besonderes. Und soeben hatte ich erfahren, dass die Schwester des Toten quasi die letzte Hoffnung auf weitere Informationen war. Was, wenn sie nichts wusste? Wenn sie nichts zu sagen hatte? Ich ballte die Fäuste in meinen Hosentaschen. Immer fester drückten meine Finger zu.

Wie naiv warst du, hierherzukommen? Und dafür Liv wieder einmal zu vernachlässigen?

Lechat schien von meinen Zweifeln nichts mitzubekommen. »Vor einigen Jahren, es müssen sieben oder acht sein, ging bei uns die Meldung einer alten Frau ein. Sie berichtete, ein Junge hätte vor ihr gestanden und behauptet, er wäre seit Jahren vermisst. Sie sollte ihm helfen, hatte er gebeten, war dann aber seltsamerweise losgelaufen. Die Frau sagte, sie hätte noch ›Halt!‹ geschrien, doch der Junge ging weiter. Die alte Frau, die einen Rollator benötigte, blieb hilflos zurück. Ehe sie weitere Fragen stellen konnte, war der Junge bereits um die nächste Ecke und für immer von dannen.«

»Felix«, sagte ich hoffnungsvoll.

»Wir ließen ein Phantombild anfertigen, das aber nicht aussagekräftig war. Die Alte war sich unsicher. Das Bild, das dabei rauskam, ähnelte eher Frankenstein als dem vermissten Felix.« Lechat lächelte zaghaft.

»Aber er könnte es doch trotzdem gewesen sein?«

»Nein.« Lechat überlegte lange, ehe er fortfuhr. »Vanderhagen ging damals der Spur nach und hielt es für eine gute Idee, die Presse in den Fall zu involvieren. So erhielten wir mehrere Hinweise. Dumm nur, dass der Junge bezahlt worden war, und zwar von der ›Klick‹. Die hatte ihre helle Freude, das können Sie mir glauben! Der Junge gestand letztendlich seine Schauspieleinlage und erhielt eine Verwarnung – das war’s. Davon hatte die Oma leider nichts mehr. Sie starb einige Wochen nach dem Zwischenfall. Nachdem ein Dutzend Presseteams sie über mehrere Tage hinweg tyrannisiert hatten.«

Lechat fuhr sich durch sein graues trockenes Haar, als gäbe er sich selbst die Schuld an dem Verlauf der Geschichte.

»Das heißt, Felix Riegen wurde nach seinem Verschwinden nie mehr gesehen«, resümierte ich.

»Richtig.«

Wir waren an einem Kiosk angekommen, der mit Graffiti von hässlichen schreienden Gesichtern besprüht war. Er wirkte etwas deplatziert direkt vor dem Eingang eines Spielplatzes. Lechat wollte gerade die Bestellung aufgeben, als er plötzlich erschrocken zur Seite trat. Ein schneeweißer Husky suchte etwas zwischen seinen Schuhen. Die Leine verhedderte sich dabei in Lechats Beinen. Ein hübsches braunhaariges Mädchen, ungefähr zwölf Jahre alt, eilte herbei.

»Zeno, sitz!«

Sie stampfte mit einem Fuß auf den Teerboden.

Lechat versuchte währenddessen umständlich, sich zu befreien.

»Was machst du hier, Kleine? Kannst du deinen Hund nicht an der Leine halten?«

Das Mädchen blinzelte gegen die Sonne zu uns herauf. »Ich bin nicht klein«, bemerkte sie und machte eine kurze Pause, bevor sie fortfuhr. »Ich dressiere Zeno und warte auf meine Mutter.«

»Na gut, dann nimm den Hund mal wieder mit.«

Lechats Blick richtete sich sehnsüchtig auf den Kiosk, wo seine Zigaretten auf ihn warteten.

»Kann man dich denn keine zwei Minuten aus den Augen lassen? Lass den Kommissar arbeiten. Der hat einen schweren Fall zu lösen.«

Die Stimme kam vom Spielplatz und klang fürchterlich schrill. Sie gehörte einer kleinen braun gebrannten Frau, deren Lieblingsfarbe unverkennbar Pink war. Als sie uns erreicht hatte, zog sie ihre Tochter ruckartig zu sich. Gestenreich entschuldigte sie sich und verabschiedete sich dann.

Als ich mich von der Frau abwandte, stand Lechat bereits am Kiosk. »Das meinte ich.« Verärgert knallte er ein paar Euromünzen auf den Tresen.

»Ich verstehe nicht ganz?«

»Na, Pia Lehnens blöde Anspielungen auf den Fall.«

»Na ja, so dramatisch fand ich das jetzt nicht. Aber woher kennt sie Sie überhaupt?«, fragte ich.

»Weil Nadja, die Kleine von gerade eben …«, begann Lechat, bevor er zwei Päckchen der blauen Gauloises bestellte und sich dann wieder mir zuwandte, »… den Schülerkalender des Jungen gefunden hat.«

»Die Kleine mit dem Hund?«, fragte ich erstaunt.

»Ja, sag ich doch. Nadja Lehnen.«

»Solange die beiden die Angelegenheit diskret behandeln, ist doch alles gut. Ich denke, wir sollten das Ganze nicht überbewerten«, versuchte ich ihn zu beruhigen.

Lechat stoppte unvermittelt, baute sich vor mir auf und fixierte meine Augen. »Ich fürchte, ich muss Ihnen was erklären.«

Sosehr ich Lechat in der kurzen Zeit auch schätzen gelernt hatte, nach einer Standpauke von einem pensionierten Kleinstadtpolizisten stand mir wirklich nicht der Sinn. Mein Blick wanderte unweigerlich wieder zu seinen orangegelben Barthaaren, die sich mit seinen Lippen auf und ab bewegten.

»Was glauben Sie, warum wir hier sind? Weil wir so tolle Ermittler sind? Kann sein. Aber das ist nicht der Hauptgrund. Ich sag Ihnen, warum wir hier sind: weil den Job sonst niemand machen wollte. Wir sollen in dem Fall ermitteln, klar. Aber in erster Linie sollen wir hier kein Trara machen. Damit hier nicht wieder zwanzig Pressewagen antanzen. So wie das alle paar Jahre geschieht, wenn die Haarspange eines Opfers gefunden wird.«

Das war deutlich.

Was ich befürchtet hatte, war also tatsächlich wahr: Der Fall war gar kein Fall.

Danke, Ron, du Penner!

Mir blieb nur Galgenhumor.

»Wir sind also die Trottel vom Dienst«, resümierte ich.

»Wenn Sie mir einen Vergleich mit der Tierwelt erlauben, Herr Donker: Raaffburg ist eine ausgeschlachtete Sau, zu der die Aasgeier auf ihrer Sommerlochroute immer wieder gern zurückkommen. Die Einwohner Raaffburgs sind so oder so die Leidtragenden.«

Die Skepsis gegenüber Fremden hatte ich im Bistro ja bereits am eigenen Leib erfahren dürfen.

»Was hat Karls Ihnen erzählt? Dass das ein großer Fall ist? Es ist ein großer Fall. Aber nur, wenn wir den Jungen finden. Tot oder lebendig.«

Ich war also mehr Krisenmanager als Kriminalermittler.

Der Krisenmanager von Raaffburg.

Wäre ich nicht selbst betroffen gewesen, ich hätte laut aufgelacht. Stattdessen setzte ich mich auf eine Bank und starrte benommen auf den Boden. Die kleinen rauen Kieselsteine waren ein Abbild meines Seelenzustands. Zerbrochen in kleine Stücke.

Ich, der ehemalige Fels in der Brandung.

Zuerst die Trennung auf Zeit von Elise. Dann, inmitten des Auszugs und des ständigen Auf und Abs zwischen Verlustangst und Hoffnung, starb mein Kollege Tim. Und die Zerschlagung des algerischen Clans gleich mit ihm. Den Gipfel der Enttäuschung und Bitternis bescherte mir dann aber wieder Elise. Sie vögelte mit einem wildfremden Typen, unsere Ehe war kaputt. Und wenn es ganz schlecht für mich lief, würde ich auch noch meine Tochter verlieren.

Als wäre das alles nicht genug, schickten meine tollen Chefs mich ins Sankt Obernimmerland, wo ich den Parkplatzwächter spielen durfte.

Was für eine Scheiße!

Kopfschüttelnd hielt ich den Blick gesenkt. Doch je länger ich die Steine anschaute, desto wütender wurde ich.

Verdammt! Du bist nicht umsonst hergekommen!

Ich hatte die Schnauze voll davon, mich selbst zu bemitleiden.

»Lassen Sie uns den verfluchten Jungen finden!«, raunte ich.

Lechat blickte mich verwirrt an, als ich aufstand.

»Und lassen Sie die Leute tuscheln. Darauf haben wir sowieso keinen Einfluss.«

Lechat nickte und presste entschlossen seine Lippen zusammen. Dann warf er die noch qualmende Zigarette in den Kies.

»Wir werden ihn finden«, sagte er schließlich, als wollte er sich dadurch selbst ermutigen.

Entschlossen hob ich den Kopf. Meine Augen fixierten die schreienden Graffiti-Gesichter, mit denen der Kiosk versehen war. Und mir war, als erkannte ich darin den vermissten Jungen.

8

Sie fuhr nicht gern weite Strecken. Die Fahrt von Köln nach Raaffburg war schon zu lang. Der Stau auf der A 4 und die warme Luft im Auto hatten sie müde werden lassen. Immer wieder klappten ihre Lider zu. Und am liebsten hätte Ella sie ganz zufallen lassen.

Immerhin verlief der Check-in im Hotel problemlos. Lechat hatte alles geregelt. Ella erhielt die Juniorsuite, da alle anderen Zimmer belegt waren. Offenbar fand in der Nachbarstadt eine Handwerkermesse statt.

Während ein Angestellter ihr Gepäck nach oben brachte, nutzte sie die Gelegenheit, vor dem Hoteleingang eine Zigarette zu rauchen. Als sie gerade den letzten Zug nahm und wieder den Weg zurück ins Hotel antreten wollte, erklang aus dem Bushäuschen nebenan plötzlich eine dunkle Stimme.

»Ella?«

Sie schaute sich um und konnte die Stimme einem schwarzhaarigen Mann in Lederjacke zuordnen, der sich mit qualmender Zigarette langsam auf sie zubewegte.

»Ja?«, sagte Ella zögerlich. »Kennen wir uns?«

»Erinnerst du dich nicht?«, fragte der Unbekannte mit einem selbstsicheren Grinsen, während er den Kragen des weißen Hemdes richtete, das er unter der Lederjacke trug. Sein Gesicht schien frisch rasiert, der Bartschatten war jedoch sichtbar. »Marlon Merks.«

»Marlon?«, fragte Ella verdutzt.

Jetzt erkannte sie ihn. Damals war er kleiner und schmächtiger gewesen. Er musste mit siebzehn oder achtzehn noch mal einen Schuss gemacht haben. Früher hatten einige Mädels aus Ellas Klasse Marlon angehimmelt. Mit seinem südländischen Aussehen hatte er bei Mädchen hoch im Kurs gestanden.

Dein Vorhaben, keine Bekannten zu treffen, klappt ja wunderbar!

»Was machst du denn hier?«

Und jetzt stellt er auch noch Fragen …

»Ich musste hier zur Gemeinde wegen einer Formalität«, erwiderte sie.

»Jedenfalls ist es schön, dich mal wiederzusehen. Gut siehst du aus!«, sagte er und zog dabei gekonnt eine dunkle Augenbraue hoch.

Ella fühlte sich geschmeichelt, obschon sie gleichzeitig das Gefühl beschlich, dass er log. Sie hielt sich selbst keineswegs für gut aussehend. Ihr Gesicht empfand sie als zu rund und ihre Brille als zu spießig. Zudem hatten ihre Haare in den letzten Monaten wenig Aufmerksamkeit erhalten und fristeten ein widerspenstiges Dasein.

»Lust, morgen einen Kaffee trinken zu gehen? Wir haben uns sicher viel zu erzählen«, fragte Marlon und blickte Ella erwartungsvoll in die Augen.

Ella konnte sich nicht daran erinnern, jemals mehr als drei Worte mit ihm gesprochen zu haben. Er war damals in dieselbe Klasse wie Gregory gegangen, daher kannte sie ihn.

Los, sag was, bevor er weitere Fragen stellt!

Er kam ihr zuvor.

»Hör zu, da kommt mein Bus. Meine Schicht bei Rehnhof fängt gleich an. Gibst du mir deine Handynummer?«, fragte Marlon und zückte sein Handy.

Tu es nicht!

Der Bus war schon vorgefahren. Unmöglich konnte er ihre Nummer jetzt noch eintippen.

»Ich weiß sie gerade nicht auswendig. Wir treffen uns ja vielleicht mal so irgendwo«, rief Ella ihm hinterher.

»Na dann, bis bald mal«, sagte Marlon, während sich sein Mund verzog. Dann schnippte er die Zigarette weg und stieg in den Bus.

Er steigt ein. Gut so.

Im nächsten Augenblick schloss der Bus seine Türen und fuhr davon. Marlon stand am hinteren Fenster und starrte sie beim Davonfahren weiter an. Lächelnd, aber mit einem seltsam durchdringenden Blick. Hinten auf der Anzeige las Ella die Endstation: Buschberg.

Merkwürdig, dachte sie. Sie wusste, dass Rehnhof in der entgegengesetzten Richtung von Buschberg lag.

Wo auch immer Marlon hinfuhr, zum Fertigkostbetrieb ganz sicher nicht.

Bevor Ella zu dem Termin im Präsidium fahren würde, zog es sie an den Ort, wo ihr Bruder und ihre Mutter begraben worden waren. Fast auf den Tag genau vor fünfzehn Jahren.

Ella parkte vor der Kirche und machte ein Kreuzzeichen, als sie ausstieg. Sie ging auf den Eingang des kleinen Friedhofs zu, der neben der Kirche lag. Als sie das schwarze, mit Rosenmustern verzierte Tor öffnete und den roten Splitt betrat, kamen die Erinnerungen an schöne Sommertage zurück. Sie musste schmunzeln, als die Bilder wie ein Film in ihrem Kopf abliefen. Wie sie mit Mama und Gregory die Gräber ihrer Großeltern besuchte. Sie rannte Gregory mit ihrer pinken Gießkanne hinterher und versuchte, ihn mit Wasser zu bespritzen. Der ältere Bruder war natürlich schneller als sie. Sie erwischte ihn nur dann, wenn er es wollte – diesmal aber nicht. An seiner Stelle traf sie ausgerechnet die alte Frau Rubin, die von einigen Personen im Ort ernsthaft für eine Hexe gehalten wurde. Frau Rubin ärgerte sich, verpasste Ella mit der flachen Hand eine Ohrfeige und schimpfte: »Habt ihr denn gar keinen Respekt vor den Seelen, die hier liegen?«

Mama hatte alles mitbekommen. Ihre Pupillen weiteten sich, aber sie sagte ganz ruhig: »Respektlos ist der, der Lebenden Leid zufügt.«

Die Rubin stampfte durch den roten Splitt davon und hatte es nach diesem Zwischenfall nie mehr gewagt, irgendein Kind vom Spielen abzuhalten.

Angekommen am Grab, kniete Ella sich hin. Dann drückte sie ihre Brille an die Nase. Der Grabstein aus Marmor war groß. »Ruhet in Frieden«, war mit geschwungener Schrift eingraviert. Vor dem Stein blühten bunte Stiefmütterchen, so wie Ella es bei der Gärtnerei beauftragt hatte. Es machte sie glücklich zu sehen, dass das Grab gut gepflegt war. Aber wenn sie sich vorstellte, dass unter diesen Pflanzen ihre Mutter und ihr Bruder liegen sollten, erschien ihr das surreal.

Sie waren ihr noch so nah.

Mama. Ella erinnerte sich mit solcher Wärme an sie, als wäre sie erst gestern gegangen. Wie sie Lieder gesungen hatte, bis Ella einschlief. Stundenlang, mit tiefer Hingabe. Diese Liebe und Geborgenheit fehlten ihr. Sie war eine solch mutige, lebensbejahende Frau gewesen. Warum musste sie sterben?

Abrupt wurden ihre Erinnerungen durch das Klingeln ihres Handys unterbrochen. In Gedanken hob Ella ab, ohne auf das Display zu schauen.

»Hallo.«

»Hi, Ella, Brit hier. Ich komme gerade vom Kinderarzt. Jonas hat hohes Fieber und am ganzen Körper Ausschlag. Der Arzt vermutet Röteln. Es tut mir leid, aber Pierre kann deshalb leider doch nicht hier schlafen. Kannst du ihn doch selbst abholen heute Abend?«

Ella verarbeitete nur langsam das soeben Gehörte.

»Ja … sicher. Ich kümmere mich drum. Es wird schon irgendwie gehen.«

»Hast du schon das Gespräch geführt?«, fragte Brit.

»Das Gespräch«, wiederholte Ella für sich. Fast hätte sie es vergessen. »Nein, noch nicht.«

»Du musst es tun, Ella. Für dich!«, sagte Brit mit energischer Stimme.

»Ja, das werde ich«, sagte Ella geistesabwesend und legte auf. Das »Gute Besserung an Jonas« sagte sie erst, nachdem sie das Handy bereits wieder in die Hosentasche gesteckt hatte.

Pierre … er muss zu dir!

Plötzlich richtete Ella sich auf. Sie glaubte, eine Stimme gehört zu haben, die ihr bekannt vorkam. Einige Reihen weiter konnte sie diese einer älteren Dame mit grauen Locken zuordnen, die Gebete in die Richtung des Grabes vor ihr sprach. Anschließend machte sie wieder das Kreuzzeichen.

Erst zweifelte Ella, doch nach zweitem Hinsehen war sie sich sicher. Ella kannte die Frau tatsächlich. Es war Wilma Ersfeld, die alte Schuldirektorin. Die ehemals grazile Dame bewegte ihren rundlichen Körper etwas mühsam auf den geschwollenen Knöcheln vorwärts. Dank der unveränderten Vorliebe für Nickelbrillen und dunkelgrüne Röcke war sie nicht zu verwechseln. Hinter ihr stand ein Mann um die vierzig, der die blonden Haare zu einem Zopf gebunden hatte und einen Schäferhund an der Leine hielt. Er wartete in aller Ruhe, bis Wilma fertig war, dann schritten sie nebeneinander in Richtung Parkplatz. Ella war nun allein auf dem Friedhof.

Mit den Toten.

Nervös schaute sie auf ihr Handy, um die Uhrzeit abzulesen. Vierzehn Uhr achtundvierzig.

Noch zwölf Minuten bis zur Stunde der Wahrheit.

Wenn sie pünktlich im Präsidium sein wollte, musste sie bald losfahren. Bevor sie das Auto erreichte, sendete sie noch schnell eine SMS an Pierre: »Ich komme dich doch abholen. Um 18 Uhr am Pfadfinderheim, ok? Kuss, Mama.«

Dass sie ihn mit nach Raaffburg nehmen musste, wollte sie ihm mitteilen, sobald er im Auto saß.

Die Antwort kam postwendend zurück: »ok«.

Achtzehn Uhr. Schaffst du das überhaupt? Erst zur Polizei, dann in den Feierabendverkehr …

Sie schloss die Augen. Sie musste nachdenken. Aber ihr Kopf ließ keinen klaren Gedanken zu, er hatte zu brummen begonnen. Sie entfernte sich einige Meter von dem Auto und ging auf einem Weg, der entlang der Kirche verlief, auf und ab. Sie musste erst das Durcheinander in ihrem Kopf zähmen, bevor sie den Polizisten begegnen konnte. Die mächtigen Ahornbäume schützten sie vor den stechenden Sonnenstrahlen. Der Blick auf die Uhr verriet ihr, dass sie noch acht Minuten Zeit hatte. Sie hatte sich gerade auf eine Bank gesetzt, als ihr Handy klingelte. Ihr Atem stockte, als sie den Namen las.

»Hallo.«

»Hi, Ella, zum Glück erwische ich dich noch.«

Durch den Hörer vernahm Ella das Rauschen der Autobahn im Hintergrund. »Ich habe nicht viel Zeit.« Obschon sie die Wahrheit sagte, hatte sie ein mieses Gefühl.

»Dann geht’s dir wie mir. Ich bin auf dem Weg zu einem Kunden, aber ich mach’s kurz. Es geht um Samstag. Ich kann leider nicht nach Trier kommen. Wir haben ein wichtiges Event, das ich verschwitzt hatte einzutragen. Tut mir leid.«

Ella blickte um sich, ob auch niemand mithörte.

»Okay, schade.«

Sie hätte gern mehr gesagt, aber sie wusste nicht, was. Zu viele andere Dinge schossen ihr durch den Kopf.

»Hast du Stress auf der Arbeit?«

»Ich habe freigenommen.«

»Ach so. Ist irgendwas?«

Irgendwas? Nein, es ist nicht irgendwas.

»Nein. Alles gut.«

»Nun sag schon!«

Sie kannte die furchteinflößende Eindringlichkeit in der Stimme nur zu gut.

Sag es besser.

»Ich bin in Raaffburg.«

»Wie bitte?« Die Stimme am anderen Ende nahm an Kraft zu.

Bleib jetzt stark!

»Pierre kommt auch.«

»Was? Du verarschst mich!«

»Nein.«

Ella drückte ihre Füße gegen den Teerboden, und ihre Gelenke knacksten leise.

»Bist du bescheuert? Warum bist du hier?«

Bescheuert. Das einzig Bescheuerte ist das ganze Theater, das ich seit Jahren mitspiele.

Ella wollte stark klingen, aber ihre Stimme kam kaum über ein Flüstern hinaus. »Die Polizei hat mich aufgefordert zu kommen. Felix’ Schülerkalender wurde gefunden.«

»Felix’ Schülerkalender?«

Ella machte ein bestätigendes Geräusch.

»Ja und?«

Ella schloss ihre rechte Hand zu einer Faust und richtete sich auf. »Keine Ahnung. Da steht wohl irgendwas über Gregory drin … Ich muss gleich dort sein.«

»Na, das wird ja immer besser. Konntest du dir keine Ausrede einfallen lassen?«

Ella hob den Kopf und blickte durch die Blätter des Ahornbaums. Sie suchte die Sonne, versuchte, sie zu fixieren, aber ihr Licht war zu grell. Dann entdeckte sie einen Marienkäfer, der am Rand eines großen Blattes saß.

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