Читать книгу: «Pepe S. Fuchs - Schatzjäger», страница 2

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Schüsse! Instinktiv rollte sich Pepe aus dem Bett, knallte auf den Boden, mitten zwischen die Ameisen. Hatte er geträumt? Früher, vor allem kurz nach seiner Verwundung, hatte ihn die Erinnerung an den Hinterhalt in Afghanistan oft nachts gequält und er war schweißüberströmt aufgeschreckt. Doch heute war etwas anders. Da! Kein Traum. Das waren tatsächlich Schüsse, nicht in unmittelbarer Nähe, aber nah genug, um sie deutlich hören zu können. Pepe robbte zum Wohnwageneingang hinüber. Die Tür stand noch offen. Eine leichte Brise wehte den Geruch des nahe liegenden Sees herein. Die Abenddämmerung hatte eingesetzt und es hatte sich merklich abgekühlt.

Vorsichtig, den Kopf dicht über der Schwelle, spähte Pepe hinaus. Die Ameisen liefen rechts und links an ihm vorbei. Ein besonders großes Exemplar blieb auf Augenhöhe stehen und drehte sich zu ihm um, als wolle es fragen, was denn der Quatsch hier solle. Das wusste Pepe selbst nicht. Er zwinkerte dem Insekt entschuldigend zu, stand auf und zuckte sofort wieder zusammen. Schnelle, kurz aufeinanderfolgende Salven schallten durch den Wald. Nicht weit entfernt wurde mit Schnellfeuergewehren geschossen.

Seit einem Wasserunfall, bei dem er unfreiwillig ein Bad im Jadebusen genommen hatte, war Pepes Handy nicht mehr betriebsbereit. Bis jetzt hatte er nicht für Ersatz gesorgt, da ihn zurzeit der Gedanke reizte, komplett von der Bildfläche zu verschwinden. Mit aktiviertem Telefon war es unmöglich, sich unsichtbar zu machen. Selbst ausgeschaltete Handys waren ortbar. Irgendjemand hatte einen immer auf dem Schirm. Gut, dass seines komplett den Geist aufgegeben hatte.

Sollte er zur Rezeption gehen, die Polizei anrufen und den Vorfall melden? Vielleicht hatte auch nur jemand seinen Fernseher laut gedreht und schaute einen Schweiger-Tatort. Nein, die Schüsse waren real. Die Intensität nahm jetzt sogar zu. Anscheinend war ein größeres Feuergefecht im Gange, mitten im beschaulichen Mecklenburg. Nur zwischen wem? Rivalisierende Bootsverleiher? Hatte Oberbootsmann Schulze ihn deswegen hierhergelockt?

Es gab nur einen Weg, das herauszufinden. Pepe rückte den Klauenhammer an seinem Gürtel zurecht und trat auf den überwucherten Pfad, der zum Campingplatz führte. Aus der leichten Brise war in der Zwischenzeit ein kräftiger Wind geworden. Die knorrigen Kiefern wankten beunruhigend, knarzten und warfen irritierende Schatten. Unwillkürlich wurde Pepe an seinen Einsatz an der Eisenacher Wartburg erinnert, bei dem er beinahe den Bundespräsidenten verloren hatte. Der Sturm war damals zwar bedeutend stärker gewesen, die Bäume hatten sich jedoch nicht weniger bedrohlich gebärdet.

Die Schüsse kamen aus nördlicher Richtung. Im Freien war deutlicher zu hören, dass sie mindestens einen Kilometer entfernt waren. Aus wie vielen Waffen gefeuert wurde, konnte Pepe nicht eindeutig unterscheiden. Mindestens fünf, eher jedoch zehn. Er atmete tief durch und lief los. Auf dem Zeltplatz schien sich niemand für die Ballerei zu interessieren. In vielen Wohnmobilen flimmerten hinter geschlossenen Türen riesige Fernseher. Vor anderen saßen sich Pärchen stumm gegenüber und starrten mit gesenkten Köpfen auf ihre Smartphones. Nur an dem roten Bus, dem rollenden Hotel, herrschte reges Treiben. Während einige Gäste bereits ihre Schlafsachen aus auf der Wiese abgestellten Koffern kramten, verspeisten andere an langen Biertischgarnituren sitzend die Reste des Abendbrotes. Bei dem Anblick wurde Pepe bewusst, dass er auch schon lange nichts mehr gegessen hatte. Zuerst musste er allerdings der Schießerei auf den Grund gehen. Warum kümmerte das denn sonst niemanden?

Am Ende des Campingareals führte ein Weg direkt am Ufer des Sees entlang in den Wald. Pepe wünschte, er hätte eine Taschenlampe dabei. Es wurde zunehmend dunkler, die Schüsse immer lauter. Wenige Meter hinter einem Bootsanlegesteg bog der Pfad im rechten Winkel ab. Der Mischwald schluckte jetzt den letzten Rest Tageslicht, sodass Pepe sein Tempo verlangsamen musste, um nicht über Wurzeln oder Zweige zu stolpern. Nach einhundert Metern gelangte er an eine T-Kreuzung und wandte sich nach links. Von dort waren es nur wenige Schritte, bis sich der Wald vor einer großen, gemähten Wiese öffnete. Pepe trat hinaus und hechtete sofort hinter einen immensen Findling. Vor ihm tobte ein Feuergefecht, wie er es seit Afghanistan nicht mehr gesehen hatte. Augenblicklich fühlte er sich in den Hinterhalt am Hindukusch zurückversetzt. Sein Herz raste, kalter Schweiß trat ihm aus allen Poren. Schwer atmend lehnte er mit dem Rücken an dem rauen Stein, zog seine Knie an den Oberkörper. Erst sah er Sterne, dann wurde ihm schwarz vor Augen. Die Schüsse und Schreie nahmen kein Ende. Pepe presste seine Hände auf beide Ohren, biss sich auf die Lippe, bis er Blut schmeckte. Beißender Pulvergeruch lag in der Luft. Trotzdem passte nichts. Er hatte nur einen kurzen Blick auf das Schlachtfeld werfen können und sein Gehirn brauchte einen Moment, um die erfasste Information zu verarbeiten. Ganz langsam beruhigte sich Pepes Atmung. Obwohl sein Herz noch wie der Flügel eines Kolibris schlug, nahm seine Panik allmählich ab.

»Reiß dich zusammen!«, schimpfte er sich selbst und schlug mit beiden Fäusten auf die staubige Erde.

Vorsichtig rappelte er sich auf und lugte hinter dem Findling hervor. Nicht weit von ihm entfernt hatte sich im Schutze einer kleinen Baumgruppe eine schwarz uniformierte Kampfeinheit eingegraben. Ein schweres Maschinengewehr nahm eine Gruppe Soldaten unter Feuer, die sich gegenseitig Deckung gebend über das freie Feld auf die Baumstellung zustürmten. Im Feuer des Maschinengewehrs lichteten sich die Reihen der Angreifer stetig. Einer nach dem anderen stürzte wild mit den Armen fuchtelnd zu Boden. Erst jetzt fielen Pepe die merkwürdigen Helme auf, die sie trugen. Stahlhelme der polnischen Infanterie zur Zeit des Zweiten Weltkrieges. Dazu passten auch die Karabiner, mit denen sie auf das Maschinengewehrnest feuerten.

Plötzlich kam ein offener olivgrüner Kübelwagen, auf dem groß und deutlich die Insignien der deutschen Wehrmacht prangten, von rechts den Feldweg entlanggerast, eine dichte Staubfahne hinter sich herziehend. Der Fahrer bremste mit blockierenden Rädern kurz hinter Pepes Findling. Ein hochgewachsener Mann mit schlohweißen Haaren in der schwarzen Uniform der Waffen-SS richtete sich auf dem Beifahrersitz auf und beobachtete durch einen schweren Feldstecher das Geschehen auf der Wiese vor ihm.

»Was ist denn hier los, spinnen die denn alle?«, entfuhr es Pepe, während das schwere Maschinengewehr eine weitere Salve den Hügel hinaufjagte.

»Ich verstehe das auch nicht«, entgegnete der Mann im Kübelwagen ruhig, ohne sich umzusehen oder das Fernglas herunterzunehmen. »Eine Zangenbewegung. Es hätte nichts weiter gebraucht als eine Zangenbewegung. Verdammte Amateure!«

Seine Stimme war über den Lärm des Feuergefechts kaum zu vernehmen. Trotzdem, als ob die polnischen Soldaten ihn gehört hätten, stoben sie plötzlich nach zwei Seiten auseinander. Während eine Gruppe weiter das Maschinengewehrwäldchen unter Dauerfeuer nahm, rannte die andere auf den Weg zu, den der Kübelwagen zuvor genommen hatte. Durch den leichten Abfall des Geländes waren sie hier vor dem Kugelhagel aus dem schweren MG einigermaßen sicher.

»Na bitte, gleich haben sie sie!«

Pepe sah zu, wie ein Drei-Mann-Team direkt auf ihn zu gerannt kam. Die Männer waren keine Soldaten. Nicht nur, dass sie während des Laufens ihre Karabiner wie Holzprügel trugen – bei einem schleifte sogar der Lauf über den Boden –, es war auch um ihre körperliche Fitness nicht besonders bestellt. Schon nach wenigen Metern hatte sich die kleine Gruppe weit auseinandergezogen. Während der erste Infanterist noch einen ganz ordentlichen Eindruck machte, als er schwer atmend an Pepes Findling vorbeistolperte, lösten die letzten beiden den starken Impuls bei ihm aus, die Sanitäter zu rufen. Ihre Gesichter glühten vor Anstrengung und hatten die Farbe eines frisch gekochten Hummers angenommen. Einer riss seinen Mund so weit auf, dass ihm Pepe sogar im Vorbeilaufen die Mandeln hätte rausnehmen können. Bei jedem Schritt rutschte ihm der Stahlhelm über die Augen. Der andere, für sein Gewicht viel zu kleine Soldat blieb neben dem Kübelwagen stehen und stützte sich schwer auf seinem Karabiner ab, wobei sich das offene Laufende tief in den Dreck bohrte.

In die Stellung in der Baumgruppe kam jetzt ebenfalls Bewegung. Ein großer Kerl riss das schwere Maschinengewehr hoch und schwenkte auf die drei Angreifer um, richtete damit die Waffe auch direkt auf Pepe. Blitzartig ließ der sich hinter seinen Findling fallen, während das Gewehr losbellte. Das deutsche MG 42 konnte bis zu eintausendfünfhundert Schuss pro Minute abfeuern und klang dabei wie eine elektrische Kettensäge. Schon allein in der Schrecksekunde, die Pepe brauchte, um die Bedrohung zu erkennen und in Deckung zu gehen, hätten ihn auf die Entfernung von knapp einhundert Metern fünfundzwanzig Kugeln treffen müssen. Doch er spürte nichts. Sicherheitshalber tastete Pepe seinen Oberkörper ab. Kein Blut, kein aufgerissenes Fleisch, keine herausquellenden Eingeweide, was ein oder mehrere Volltreffer aus einem Maschinengewehr hervorgerufen hätten. Hier stimmte etwas nicht. Trotzdem erhob sich Pepe erst wieder, als die Schüsse verstummten. Vor ihm lag der dicke Infanterist auf dem Rücken. Sein Brustkorb sah von Weitem normal aus, außer dass er sich hob und senkte wie der Blasebalg in einer Hufschmiede. Kein Blutstropfen weit und breit.

Mit einem Mal war es totenstill. Selbst der Wind hatte sich gelegt. Erst als das Dröhnen des Feuergefechtes in Pepes Ohren vollständig abklang, konnte er das feine Sirren einer Drohne über sich hören. Im schwindenden Licht sah er den Quadrokopter erst auf den zweiten Blick. Er schwebte über der Baumgruppe, in der sich die schwarz uniformierte Einheit eingegraben hatte. Der erste der polnischen Angreifer hatte sie eben erreicht und legte seinen Karabiner auf den MG-Schützen an, der breitbeinig und grinsend vor ihm stand. Selbst aus der Entfernung konnte Pepe sehen, wie er den Abzug erneut durchzog und hören, wie der Schlagbolzen ins Leere klickte. Keine Munition mehr. Das Grinsen fror nur kurz ein. Dann warf der Große das Maschinengewehr beiseite, zückte ein Kampfmesser und stürzte sich heulend wie ein Indianer auf den Polen. Der schoss sofort, schien aber die breite Brust seines Kontrahenten selbst auf die kurze Entfernung verfehlt zu haben. Unbeeindruckt stürmte der weiter nach vorn, schlug dem polnischen Infanteristen den Karabiner aus der Hand und verpasste ihm einen mächtigen Kinnhaken, dass der mit beiden Füßen vom Boden abhob und krachend hintüber fiel. Noch ehe er voll aufschlug, war der Große bereits über ihm und hielt ihm sein Messer an die Kehle. Reflexartig hatte Pepe den Hammer aus seinem Gürtel gezogen, holte aus und war zum Wurf bereit, als der MG-Schütze in dem Moment lachend aufstand und seinem Gegner die Hand reichte. Der griff nicht zu, sondern drehte sich zitternd zur Seite.

»Da sind sie kolossal gescheitert. Schon wieder«, murrte der Mann mit dem Feldstecher im Kübelwagen und Pepe realisierte erst einen Augenblick später, dass er tatsächlich mit ihm gesprochen hatte. »Da kann man wer weiß wie viele Taktiklehreinheiten durchführen, das Vorgehen siegreicher Feldherren erklären und vorbeten, aber nein, die begreifen es einfach nicht! Alles Dummköpfe! Das kommt davon, weil der Gorzka nicht auf mich hören will. Schauspieler hätte er engagieren sollen. Oder wenigstens einige meiner Studenten. Das wäre wahrhaft gelebte Geschichte. Doch wer nicht hören will, muss fühlen, besser gesagt, sich mit minderwertiger Filmqualität zufriedengeben.«

Das musste also der Geschichtsverein sein, von dem der Junge an der Anmeldung gesprochen hatte. Brave Familienväter, die sich nach Feierabend als Weltkriegssoldaten verkleideten und nachgeahmte Schlachten schlugen.

Pepe kam nun komplett hinter seiner Findlingsdeckung hervor, klopfte sich Staub von seiner Hose und ging auf den Mann in der SS-Uniform zu.

»Sind die Waffen entmilitarisiert?«, fragte er und hob den Karabiner auf, der neben dem noch immer schnaufenden, polnischen Hobby-Infanteristen lag.

»So gut wie«, kam lachend die Antwort. »Die Munition auf jeden Fall. Alles Platzpatronen und trotzdem nicht leicht zu bekommen. Obwohl ich mir oft wünschte, dass sie scharf schießen würden. Dann wären sie mit Sicherheit ernster bei der Sache.«

Pepe sah sich den Mann genauer an. Er war groß und hager, hatte ein strenges Gesicht mit einem harten Zug um die Mundwinkel. Seine Haare waren etwas zu lang für sein Alter. Obwohl Pepe kein Auge dafür hatte, schätzte er den Mann auf Ende siebzig oder sogar Anfang achtzig.

»Fast hätten wir sie gekriegt!«

Der Dicke war wieder auf die Beine gekommen. Er hielt sein Gewehr mit beiden Händen fest und trat mit dem Fuß gegen den Lauf, um Sand und Steine herauszuschütteln.

»Nicht mal annähernd«, entgegnete der Alte spöttisch.

Dabei blitzten seine hellblauen Augen wie die der Eiskönigin.

»Ihr wart viel zu langsam, habt euch zu spät für die Zangenbewegung entschieden und den Vorstoß nicht konsequent genug umgesetzt. So kann man eine Stellung der Waffen-SS nicht ausschalten.«

Obwohl der Mann seine Worte bewusst wählte, ruhig und bestimmt sprach, war Deutsch wohl nicht seine Muttersprache. Pepe konnte den Akzent nicht zuordnen, tippte aber auf nordische Vorfahren.

»Das kann man wohl sagen, ihr Flachzangen!«

Der Maschinengewehrschütze kam zum Kübelwagen herüber. Ein hämisches Grinsen zog sich über sein grobschlächtiges Gesicht. Er war an die zwei Meter groß – gut und gerne überragte er Pepe um zwei Köpfe – und ihm sofort unsympathisch. Es gab nicht viele Leute, die das von sich behaupten konnten.

»Du sei still!«, schnauzte ihn der Grauhaarige an. »Wer denkst du, dass du bist? Rambo, oder wer? Niemand und ich wiederhole das ausdrücklich, kein ernsthafter Soldat hebt ein Maschinengewehr vom Boden auf und schießt damit auf seinen Gegner. Mit scharfer Munition hättest du nicht einen Treffer gelandet. Die Waffe hat in alle Richtungen verrissen. Das Ding hat nicht umsonst zwei Füße, mit denen du es sicher im Boden verankern kannst.«

Wie vorhin fror dem Großen sein debiles Grinsen ein, dieses Mal jedoch für länger. Vom Hals her kroch rote Farbe wie eine Horde Ameisen über sein Gesicht. Dazu schwoll eine Ader über seiner linken Augenbraue drohend an und pulsierte hektisch.

»Aber ich habe ihn erwischt!«, entgegnete er nicht halb so selbstsicher, wie er wahrscheinlich klingen wollte.

»Du hast ihn erwischt? In deinen Träumen! Pawel, du bist tot! Dein Munitionsgurt war leer und er hat dich aus zwei Metern Entfernung mit seinem Karabiner voll getroffen. Wäre da keine Platzpatrone drin gewesen, könnte ich jetzt durch deinen Brustkorb hindurch bis Jürgenshof schauen!«

Unwillkürlich senkte der Große seinen Kopf und begutachtete seine Brust. Auch Pepe sah auf die angesprochene Stelle. Es war tatsächlich kein Loch drin.

»Du hast geschummelt«, meldete sich der polnische Infanterist zu Wort, der von dem harten Fausthieb zu Boden gegangen war. »Und bei mir ist jetzt ein Zahn locker.«

Um seine Feststellung zu unterstreichen, riss er seinen Mund weit auf und wackelte mit dem Zeigefinger an seinem rechten Schneidezahn.

Die Ader des Großen war mittlerweile dicker als Pepes Zeigefinger. In der linken Hand hielt er noch immer das Kampfmesser. Seine Faust hatte sich so sehr darum verkrampft, dass die Knöchel weiß hervortraten. Pepe wechselte den Hammer von rechts nach links und wieder zurück.

»Geht mir bloß aus den Augen, ihr Versager!«, setzte der Grauhaarige seine Tirade fort. »Alle miteinander! Herr Daras, fahren Sie!«, schloss er, setzte sich auf den Beifahrersitz und verschränkte die Arme vor der Brust.

Der Angesprochene ließ die Drohne heranschweben. Nachdem sie kurz in der Luft gehalten und sich einmal um sich selbst gedreht hatte, landete sie präzise auf der Rücksitzbank des Cabriolets. Erst dann startete der Fahrer den Wagen und fuhr in Richtung Jürgenshof davon, streifte dabei den Großen, den der Grauhaarige mit Pawel angesprochen hatte. Der starrte dem Kübelwagen mit zusammengebissenen Zähnen hinterher. Pepe erwartete, sein Messer jeden Moment hinter dem Cabrio herfliegen zu sehen. Stattdessen drehte sich Pawel abrupt um und stapfte an Pepe vorbei in den Wald. Auch die übrigen Wochenendkrieger trudelten nach und nach vom Schlachtfeld her ein. Sie scherzten und lachten miteinander, schlugen sich anerkennend auf die Schultern, als hätten sie tatsächlich einen Sieg errungen. Nur der Kerl mit dem losen Zahn schaute nicht sehr glücklich drein.

Pepe ließ die Gruppe passieren. Was für ein merkwürdiger Verein. Er wünschte ihnen, dass sie niemals in die Verlegenheit eines richtigen Feuergefechtes gerieten. Ein wackelnder Schneidezahn wäre dann ihre geringste Sorge.

Die Sonne war jetzt vollständig hinter dem Horizont verschwunden. Pepe stieg den kleinen Hügel hinauf, vorbei an der amateurhaften Maschinengewehrstellung. Von dort konnte er über eine kleine Bucht hinweg zu einer etwa siebenhundert Meter entfernten Häuseransammlung sehen. Selbst aus der Distanz sahen die Gebäude sehr mondän aus, wie Strandhäuser an der französischen Riviera. Eines schien sogar einen Landeplatz zu besitzen. Außerdem lagen in einer kleinen Marina teuer aussehende Boote vertäut. In diesem Teil Mecklenburgs war anscheinend Geld zu Hause.

In der einsetzenden Dunkelheit zeichneten sich die roten Rücklichter des Kübelwagens deutlich in der Ferne ab. Sie schienen plötzlich an einer Stelle zu verharren und erloschen auf einen Schlag. Der Wagen hatte angehalten, direkt vor einer der Villen.

3

Mit einem Mal war es Nacht geworden. Über den See kroch kalte Luft den Hügel hinauf. Pepe warf einen letzten Blick in Richtung der Häuseransammlung, von der nur ein schwacher Lichtschimmer die Finsternis zu durchdringen suchte. Dann drehte er sich um und lief den Weg zum Zeltplatz zurück. Im Wald konnte er buchstäblich seine Hand nicht vor Augen sehen. Rechts und links des kaum als helleren Streifen auf dem Boden zu erkennenden Pfades raschelte es. Zweige knickten um, Äste schlugen gegeneinander, trockene Blätter knisterten, als sich etwas durch sie hindurchbewegte. Der Wind rauschte in den Bäumen, ließen sie knarzen und ächzen.

Folgte ihm jemand? Pepe blieb abrupt stehen, schloss die Augen, schärfte sein Gehör. Unwillkürlich hatte er nach dem Hammer gegriffen. Wie so oft in den letzten Tagen, wünschte er sich, seine Dienstpistole dabeizuhaben. Oder wenigstens ein Taschenmesser. Da! Pepe schnellte herum. War das ein Schatten hinter ihm? Hatte sich jemand blitzartig zu Boden geworfen? Wieso hatte er denn nur keine Taschenlampe dabei, oder wenigstens eine Panzerfaust. Ein Windstoß ließ Pepe frösteln. Nicht nur deswegen stellten sich plötzlich seine Nackenhaare auf. Er hob den Hammer, bereit, wie Thor einen Angriff abzuwehren. Etwas kam rasend schnell auf ihn zu! Im letzten Moment konnte er sich wegducken, als ein großer Vogel, mindestens genauso erschrocken einen Protestschrei ausstoßend, über ihn hinwegrauschte und das Weite suchte. Erst jetzt atmete Pepe erleichtert aus.

»Verdammtes Mistvieh!«, schimpfte er dem Raben hinterher und ging mit schnellen Schritten weiter. Bis zum Zeltplatz war es nicht mehr weit. Das Gefühl, verfolgt zu werden, blieb. Beständig blickte er über seine Schulter. Schon nach wenigen Schritten blieb Pepe erneut stehen. Vor ihm flackerte ein Lichtschimmer, als ob jemand eine Laterne schwenkte. Er ging in die Knie und lauschte. Hinter ihm schrie ein Käuzchen. Dann hörte er fröhliche Stimmen, von einer Windböe herübergeweht. Verdammt, war er paranoid geworden? Dort hinten feierte jemand am Seeufer eine Party. Über sich selbst den Kopf schüttelnd stand Pepe auf und lief vorwärts. Als er sich dem Ufer näherte, standen die Bäume weiter auseinander. Ließen mehr Restlicht durch. Am Bootssteg kurz vor dem Eingang zum Campingplatz, angestrahlt von einer im Wind schwankenden Lampe, hatte sich eine kleine Gruppe versammelt. Pawel, der Maschinengewehrschütze in der SS-Uniform, stach nicht nur durch seine Körpergröße heraus. Er hatte die Jacke ausgezogen, sodass sich seine bleiche Haut vor dem dunklen Seewasser deutlich abzeichnete. Sein ausgelassenes Lachen hallte weit. Immer wieder streckte er seine Hand nach einer Frau aus. Dieser schien das nicht zu gefallen. Sie schlug seinen Arm beiseite, versuchte auszuweichen, doch Pawels Kriegsspielkameraden hatten einen engen Kreis um sie gebildet und stießen sie Mal für Mal feixend zurück auf den Großen zu.

»Lasst mich in Ruhe, ihr Säue!«, brüllte sie.

Pepe erkannte die Stimme der jungen Frau vom Spielplatz, wenn auch etwas verzerrt. Wie hieß sie nur gleich? Ingrid? Ingeborg? Isabella! Isa!

»Lasst sie in Ruhe, ihr Wichser! Ich reiße euch den Arsch auf!«

Wo kam der denn her? Wie ein Kugelblitz schoss plötzlich Isas Sohn aus dem Gebüsch. Er rannte zwischen den Männern hindurch und stürmte direkt auf Pawel zu. Er prallte von ihm ab, als wäre er gegen eine Litfaßsäule gelaufen, fing sich aber schnell. Nachdem er sich kurz geschüttelt hatte, trommelten seine kleinen Fäuste pausenlos auf den Oberschenkel des Großen ein.

»Hau ab, du Zwerg!«, schnauzte der unwirsch und verpasste dem Kleinen eine gewaltige Ohrfeige, sodass der sich einmal um sich selbst drehte und vom Bootssteg ins Wasser stürzte.

In drei Schritten war Pepe bei ihm und zerrte ihn ans Ufer. Über ihm brüllte Isa wie ein Tier und sprang auf Pawels Rücken. Sie klammerte sich mit ihren Schenkeln fest und kratzte und schlug ihm von hinten ins Gesicht.

»Du Schwanzlutscher! Du miese, verdreckte Kackbratze! Ich kratz dir die Augen aus, du dämlicher Polacke!«

Was war nur mit der freundlichen Isabella vom Nachmittag geschehen? Wie konnte sie sich in so kurzer Zeit von einer liebevollen Mutter in eine fluchende Furie verwandeln? Selbst bei dem schwachen Licht sah Pepe, dass sie sich auch äußerlich verändert hatte. Die Grübchen waren verschwunden, genau wie der Zopf. Stattdessen hingen ihr die Haare strähnig im Gesicht, verdeckten zornig zusammengekniffene Augen und gefletschte Zähne.

»Alles klar bei dir, Kleiner?«, fragte Pepe.

»Meine Wange tut weh. Und die Daumen«, antwortete Isas Sohn.

»Zeig mal.«

Pepe nahm die Finger des Kleinen in seine Hände, strich sanft darüber und bewegte jeden einzelnen.

»Tut das weh?«, fragte er.

»Es geht.«

Anscheinend war nichts gebrochen.

»Du darfst die Daumen nicht in die Faust stecken, wenn du zuschlägst.«

»Warum denn nicht?«

»Na weil du dir die dann brechen kannst.«

»Warum denn?«

»Erklär ich dir später. Ich werde mal besser nach deiner Mutter sehen.«

Über ihnen drehte sich Pawel wie ein rumänischer Zirkusbär und versuchte, Isa von seinem Rücken zu schleudern. Dabei schlug er mit beiden Händen hinter sich, doch Isabella blieb unbeeindruckt. Die anderen Männer standen um das Paar herum und krümmten sich vor Lachen.

»Holt sie endlich mal von mir runter, ihr Affen!«, rief Pawel und schlug Isa erneut mit der flachen Hand hinter sich ins Gesicht.

Viel Wucht war allerdings nicht dahinter, sodass die junge Frau weiter festhielt und ihm einen tiefen, blutenden Kratzer quer über die Wange verpasste.

Pepe war jetzt um den Steg herum und lief auf die Gruppe zu. Zwei von Pawels Kumpanen stellten sich ihm sofort in den Weg. Einer von ihnen war der mit dem lockeren Zahn.

»Das ist eine Privatparty«, empfing der ihn und deutete mit seinem Zeigefinger auf Pepe. Dabei zeigte sein Daumen nach oben, so wie Kinder mit ihren Händen eine Pistole nachahmen. Pepe schnappte sich blitzschnell den hochstehenden Daumen. Seine rechte Hand war vom vielen Motorradfahren außergewöhnlich kräftig. So schlossen sich seine Finger wie ein Schraubstock um den gegnerischen Pistolendaumen. Ein kräftiger Ruck und der fleischige Daumen wurde aus der Gelenkpfanne gehoben. Dann kurz und heftig gegen die natürliche Bewegungsrichtung biegen und fertig. Ausgekugelt.

Der Mann schrie auf, als hätte ihm Pepe den Daumen abgerissen. Er versuchte, Pepes Finger mit seiner freien Hand zu lösen, doch der hielt eisern fest und erhöhte den Druck. Die Augen des Mannes wurden immer größer, seine Schreie lauter. Und als er glaubte, es könnte nicht schlimmer werden, legte Pepe prompt eine Schippe drauf. Das folgende Schmerzensgeheul ließ sogar Pawel kurz innehalten und auch Isa schaute von seinem Rücken interessiert herüber. Nun machte der zweite Anstalten, einzugreifen und seinem Kumpel aus der Not zu helfen. Als Pepe kurz den Kopf schüttelte und seinen Gegner erneut aufschreien ließ, hob der jedoch entschuldigend die Hände und drückte sich auf dem schmalen Steg schnell an beiden vorbei. Seine polternden, rennenden Schritte hallten lange nach.

Pepe hatte derweil den Daumen weiterhin fest im Griff und führte den dazugehörigen, auf Zehenspitzen tänzelnden Mann bis an den Rand der Anlegebrücke. Er ließ den Finger zurück ins Gelenk schnappen. Die Bänder waren wahrscheinlich überdehnt und würden sich eventuell entzünden. Mit etwas Glück war die Kapsel heil geblieben. Sofort klappte der Mann vornüber und presste sich beide Hände wimmernd zwischen die Schenkel. Pepe tippte ihm mit dem Zeigefinger gegen die Stirn und stieß ihn rückwärts ins Wasser. Jetzt waren noch Pawel mit Isa auf dem Rücken und zwei Hobby-Soldaten übrig. Alle vier starrten Pepe verdutzt an. Isabella war als Erste wieder bei sich. Sie ließ sich von Pawel heruntergleiten und lief rückwärts zu Pepe hinüber.

»So ihr Fotzen, jetzt versohlen wir euch den Arsch!«, brüllte sie und ballte ihre Fäuste.

Pepe sah sie von der Seite an. Was war denn mit der los? Sie schien eine komplett andere Person als heute Nachmittag zu sein. Auf jeden Fall hatte ihre Ansage die anderen ebenfalls aus ihrer Starre gerissen. Pawel schlug seinen Kumpanen auf deren Rücken und schob sie auf Pepe und Isa zu.

»Greift sie euch!«, stachelte er sie an, während er sich mit dem Handrücken Blut aus dem Gesicht wischte.

Die Männer waren nicht durchtrainiert, aber anscheinend war das hier nicht ihre erste Prügelei. Ein Straßenkampf unterschied sich grundlegend von einer zigfach durchgespielten Verteidigungs- oder Kampfsportübung. Erstens hielt sich niemand an irgendwelche Regeln und zweitens war unter keinen Umständen vorherzusehen, was im nächsten Augenblick passieren würde. Eine Sache war jedoch bei beidem gleich: Wer den Kampf eröffnete, war im ersten Moment im Vorteil. Also nahm Pepe die Fäuste hoch und fuchtelte wie ein Schattenboxer vor den Gesichtern seiner Gegner herum. Die schienen nicht zu wissen, was sie davon halten sollten und folgten Pepes Bewegungen wie die Zuschauer bei einem Tennismatch. Die Köpfe drehten sich nach links, nach rechts und wieder zurück und keiner der beiden achtete auf Pepes Füße. Er trug zwar keine Kampfstiefel, dafür hatten seine Motorradschuhe einen verstärkten Zehenbereich. Der traf mit voller Wucht das Schienbein des linken Burschen. Pepe war sich nicht sicher, ob er ein Knacken gehört hatte, konnte sich allerdings gut vorstellen, dass zumindest das Schienbein gebrochen war. Erst klappte der Unterkiefer des Mannes nach unten und er riss seine Augen so weit auf, dass zu befürchten stand, sie würden aus ihren Höhlen kullern. Dann schnellte sein verletztes Bein nach oben. Er umklammerte es mit beiden Händen und begann auf dem anderen zu hüpfen wie ein Storch zur Balz.

»Da hast du es!«, brüllte Isa, sprang nach vorn, griff sich beide Ohren des Hobby-Soldaten und warf sich zu Boden. Dabei riss sie den Mann mit sich. Er knallte mit dem Kiefer voran auf den Bootssteg, verdrehte die Augen und blieb bewusstlos liegen. Sofort hockte sich Isa auf seinen Rücken und drosch auf ihn ein wie ihr Sohn nur Minuten vorher auf Pawel. Das Ganze war so schnell geschehen, dass der Partner des Storches eine Schrecksekunde brauchte, um zu realisieren, was geschehen war. Die reichte Pepe aus. Er landete einen perfekten Lebertreffer. Neben dem Schmerz, den ein Leberhaken auslöste, war das plötzliche Abfallen des Blutdruckes ein gewünschter Nebeneffekt. Es funktionierte. Der Hobby-Soldat fing an zu taumeln und kippte anschließend urplötzlich vom Steg, als hätte ihm jemand für einen Seemannsköpfer ein kleines Vermögen geboten. Nur dass unter ihm kein Wasser war. Somit blieb nur Pawel, der Große, übrig.

»Isa!«, rief Pepe.

Doch die hörte nicht. Wie von Sinnen schlug sie unentwegt auf den Rücken des Schienbeinverletzten ein, obwohl der noch immer bewusstlos war. Pepes Unterbewusstsein registrierte, dass auch sie ihre Daumen in den Fäusten hatte.

»Isabella!«, wiederholte Pepe. »Verschwinde hier!«

»Was?«

Isa starrte ihn mit blutunterlaufenen Augen an. Ihre Lippen hatten sich von den Zähnen zurückgezogen und wie sie so über ihrem Opfer hockte, sah sie aus wie ein Vampir, bereit zum tödlichen Biss.

»Verschwinde! Kümmer dich um Mark! Sofort!«

Sie stutzte. Ihre Gesichtszüge wurden plötzlich weicher und sie schaute erschrocken auf den unter ihr liegenden Mann. Dann blickte sie zu Pepe.

»Was ist los?«, fragte sie und war jetzt wieder die Frau vom Spielplatz.

»Du sollst abhauen! Dein Sohn braucht dich!«

»Mark!«, schrie sie auf. »Wo ist er?«

»Hier, Mama, ich bin hier!«

»Ich komme!«

Pepe atmete erleichtert auf, als er die beiden den Weg in Richtung Campingplatz entlangrennen sah.

»Jetzt sind nur noch wir zwei übrig.« Pawel grinste hämisch und zückte ein Bajonett, das länger war als Pepes Unterarm.

Warum waren heutzutage nur alle so verrückt auf Messer?

»Du hättest dich besser mit den anderen verpissen sollen«, blaffte Pawel und strich sich mit der Klinge über seinen Unterarm. Dabei rasierte er ein gutes Büschel Haare von seinem Handrücken.

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Дата выхода на Литрес:
23 декабря 2023
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354 стр. 7 иллюстраций
ISBN:
9783899692440
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