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1.6 Ausblick: Migration und Demografie
Es wird von der UN angenommen, dass internationale Migration auch in den nächsten Jahren und Jahrzehnten weltweit zunehmen wird. Ein Grund dafür ist die weltweite demografische Entwicklung. So wird geschätzt, dass die Bevölkerungszahlen in den hochentwickelten Ländern des Globalen Nordens stagnieren und teilweise zurückgehen, während sie in den weniger entwickelten Länder des Globalen Südens steigen werden. Allein in Afrika und Asien, wo heute bereits die höchsten Geburtenraten verzeichnet werden, ist abzusehen, dass die Bevölkerung bis 2050 auf fast acht Milliarden Menschen ansteigen wird (UN 2013, S.16). Dabei werden in den zwei bevölkerungsreichsten Ländern der Welt, China und Indien, jeweils ca. eineinhalb Milliarden Menschen leben, wobei Indien China als bevölkerungsreichstes Land der Welt überholen wird. Nigerias Bevölkerung könnte bis zum Jahr 2050 auf fast eine halbe Milliarde Menschen ansteigen und damit die USA (rund 400 Millionen Einwohner*innen bis 2050) als drittbevölkerungsreichstes Land überholen (UN 2019). Nach der „World Population Clock“ der UN, die die Weltbevölkerung sekündlich zählt, leben gegenwärtig fast 7,8 Milliarden Menschen auf der Welt.1 Im Jahr 1989 waren es noch 5,2 Milliarden. Die UN prognostiziert, dass es im Jahr 2050 rund 9,7 Milliarden Menschen geben wird (UN 2020).
Aufgrund dieser stark wachsenden Bevölkerungszahlen im Globalen Süden und den gleichzeitig stagnierenden Einwohner*innenzahlen – und der damit einhergehenden Verknappung an Arbeitskräften für die alternden Gesellschaften der Länder des Globalen Nordens – wäre es eine logische Folge, wenn die Süd-Nord-Migration in Zukunft weiter zunehmen würde. Sollte dies nicht geschehen, oder die Migration im Globalen Norden sogar zurückgehen, so würde dies unweigerlich in einen Bevölkerungsrückgang in diesen Regionen münden. Die nachfolgende Abbildung verdeutlicht dies am Beispiel eines Null-Nettozuwanderungsszenarios in den verschiedenen Weltregionen. Während die Regionen Ozeanien, Nordamerika und Europa zum Teil deutlich an Bevölkerung verlieren würden, wüchse die Bevölkerung bei ausbleibender Auswanderung in den bisherigen Auswanderungsregionen. Auch das Durchschnittsalter der Bevölkerung würde bei geringer oder ausbleibender Zuwanderung in den Regionen des Globalen Norden deutlich steigen.
Aber auch die Migration in sog. Schwellenländer, die sich weiter entwickeln werden, wird aller Voraussicht nach weiter zunehmen. Hier werden zunehmend hochqualifizierte Arbeitskräfte gesucht, die bereits in hochentwickelten Ländern knapp sind, so dass es um diese Migrant*innengruppe in Zukunft einen großen Wettbewerb geben wird (IOM 2014). Zudem ist von einem Anstieg der Geflüchtetenzahlen auszugehen, der von Konfliktherden und Kriegen, wie im Nahen und Mittleren Osten oder in Teilen Afrikas, noch zusätzlich beschleunigt werden kann. Internationale Organisationen gehen deshalb davon aus, dass die weltweite Migration bis zum Jahr 2050 auf über 400 Millionen ansteigen wird, was dann einem Anteil von über vier Prozent der Gesamtbevölkerung entsprechen würde (IOM 2018).
Abbildung 15:
Prognostizierte Bevölkerungszuwächse und -abnahmen bis 2070 bei einem Null-Nettozuwanderungsszenario in den verschiedenen Weltregionen (in %)
Quelle: UN, International Migration Report 2019.
Abbildung 16:
Prognostizierte Entwicklung des Durchschnittsalters bis 2070 bei einem durchschnittlichen Nettozuwanderungsszenario der letzten 20 Jahre und einem Null-Nettozuwanderungsszenario in den verschiedenen Weltregionen (in Jahren)
Quelle: UN, International Migration Report 2019.
Weiterführende Fragen und Literatur
Drei Fragen zum Weiterdenken
Wie könnten sich die weltweiten Migrationsbewegungen in den nächsten Jahren verändern? Wird sich z.B. Asien von einem überwiegenden Auswanderungskontinent zu einem Einwanderungskontinent entwickeln?
Welche Folgen hat die zunehmende Urbanisierung der Migration? Sollten Städte mehr Mitbestimmungsrecht in der internationalen Migrationspolitik erhalten?
Welche Rolle spielt der demografische Wandel für das weltweite Migrationsgeschehen in den nächsten Jahrzehnten?
Drei Bücher zum Weiterlesen
UN (2019): International Migration Report 2019. New York.
Zentraler Bericht zum weltweiten Migrationsgeschehen, auf dem dieses Kapitel weitgehend fußt. Diese Quelle eignet sich für eine differenziertere Auseinandersetzung mit Daten zu internationaler Migration. Er umfasst auch Angaben zur aktuellen Migrationspolitik. Der Bericht erscheint jedes Jahr, so dass hier die aktuellsten Daten zu finden sind.
IOM (2019): World Migration Report 2019. New York.
Der Bericht der Internationalen Organisation für Migration der UN bietet noch differenziertere Daten zum weltweiten Migrationsgeschehen. Er wird wie der UN-Bericht jedes Jahr neu aufgelegt.
Jochen Oltmer (2016): Globale Migration. Geschichte und Gegenwart. München: C.H. Beck.
Kompakte Darstellung der globalen Migration in Geschichte und Gegenwart.
Online-Quellen:
https://migrationdataportal.org.
Hier finden sich alle Daten aus den Berichten zum Download und zur weiteren Vertiefung. Es gibt auch Analysen zu einzelnen Aspekten von Migration und Migrationsarten.
2 Migrationstheorien1
Warum migrieren Menschen und wie versucht die Politik Migration zu steuern? Während andere sozialwissenschaftliche Disziplinen, wie Soziologie, Geographie und Ethnologie, sich bereits früh mit diesen Fragen beschäftigt haben, kam die Politikwissenschat relativ spät zu diesem Themenfeld. Wie wir sehen werden, bedarf es für eine tiefergehende Analyse von Migration interdisziplinärer Zugänge. Dieses Kapitel gibt einen Überblick über das weite Feld der Migrationstheorien mit Schwerpunkt auf der politischen Dimension.
2.1 Sozialwissenschaftliche Migrationstheorie
Die Anfänge der Migrationstheorien gehen auf den Geografen Ravenstein zurück, der im 19.Jahrhundert erste statistische Untersuchungen zur Binnenmigration in Großbritannien durchführte. Er wertete dafür Daten zu Binnenwanderungen auf Basis der Zensuserhebungen zwischen 1871 und 1881 aus. Dabei kam er zu verschiedenen Ergebnissen, die er in allgemeinen ‚Migrationsgesetzen‘ formulierte. So kam er zu dem Ergebnis, dass Wanderungen zumeist über kürzere Distanzen und in Etappen erfolgten, wobei Frauen kürzere Distanzen zurücklegten als Männer. Weiterhin erkannte er, dass das Wachstum in den Städten primär auf Zuwanderung zurückzuführen sei (und nicht auf natürliches Bevölkerungswachstum). Zudem war Migration damals schon auf wirtschaftliche Zentren ausgerichtet (Ravenstein 1885/89). Ravensteins veröffentlichte ‚Migrationsgesetze‘ sahen also schon damals eine starke ökonomische Bedingtheit von Migration, scheinen aus heutiger Sicht aber viel zu eindimensional und deterministisch.
Dennoch können viele von ihm untersuchte Prozesse und Verhaltensmuster auch in der heutigen Migration beobachtet werden. Insbesondere die Beobachtungen, dass Arbeitsmigration (immer noch) zu den wesentlichen internationalen Migrationsformen zählt und sich Migrationen zunächst regional vollziehen, zeigen eine verblüffende Parallele zu den damaligen Erkenntnissen (Samers 2010, S.54ff.). Auch in der späteren Migrationsforschung werden Ideen von Ravensteins Forschung aufgegriffen und weitergeführt. So unterschied Ravenstein bereits verschiedene Arten der Migration, die in der heutigen Migrationsforschung verwendet werden. Die ‚stage migration‘ wird zum Beispiel von späteren Theorien aufgegriffen. Auch seine Thesen zu Wanderungsbewegungen finden sich in der gegenwärtigen Migrationsforschung wieder, so zum Beispiel die große Bedeutung urbaner Zentren für internationale Migrant*innen, die von Frey (1998) mit dem Begriff „Immigrant gateway cities“ und von Sassen (1991) mit der „Global City-Hypothese“ → 1 Grundbegriffe und aktuelle Trends) aufgegriffen wurden.
Die gleich noch zu diskutierenden Push- und Pull-Faktoren gehen ebenfalls auf Ravensteins Analyse zurück und sind seitdem durch mehrere ökonomisch geprägte Migrationstheorien weiterentwickelt worden (insbesondere durch Lee 1966). Der Grundgedanke dabei ist, dass bestimmte Faktoren, wie ein hohes Bevölkerungswachstum, Armut oder bewaffnete Konflikte Migrant*innen aus einem Land ‚wegdrücken‘, während sie von Jobmöglichkeiten, höherem Lebensstandard oder Schutz vor politischer Verfolgung in einem anderen Land ‚angezogen‘ werden (Samers 2010, S.56ff.). Bei aller Kritik an Ravensteins wissenschaftlicher Methode bilden seine Forschungsergebnisse daher die Basis der modernen Migrationstheorien und beeinflussen die Migrationsforschung nachhaltig. Gerade auch der von Ravenstein geprägte methodologische Individualismus in der Migrationsforschung, mit dem das Individuum als zentrale Untersuchungseinheit etabliert wurde, beeinflusst moderne Ansätze, auf die wir als nächstes eingehen, noch heute.
2.1.1 Theorien auf der Mikroebene
Nach der Geografie haben sich vor allem Ökonom*innen der Erforschung von Migrationsprozessen angenommen. Dies geschah sowohl auf Makro- als auch auf der Mikro-Ebene. Auf der Mikro-Ebene wurde das Individuum vor allem als ökonomisch nutzenmaximierend betrachtet, das sich für die Migration entscheidet, wenn es im Aufnahmeland bessere Beschäftigungschancen und höhere Löhne (Lohndifferentialhypothese) erwarten kann (Todaro 1976). Entscheidend sind hierbei sog. ökonomische Push- und Pull-Faktoren: Die schlechte Wirtschaftslage im Heimatland gibt den Anstoß zur Migration (push), während die Auswahl des Ziellandes aufgrund der als am günstigsten wahrgenommenen Bedingungen (pull) erfolgt.
Everest Lee unterscheidet vier Kategorien von Wirkungsfaktoren, die eine individuelle Migrationsentscheidung hervorrufen bzw. die Ursache von Migration erklären sollen: Faktoren in Verbindung mit dem Herkunftsgebiet, Faktoren in Verbindung mit dem Zielgebiet, sogenannte intervenierende Hindernisse („intervening obstacles“) sowie persönliche Faktoren (Lee 1966). Die maßgebliche Hypothese des neoklassischen Push/Pull-Modells lässt sich darin nach Haug (2000) zusammenfassen, als „[…] dass je mehr offene Stellen an einem Zielort im Vergleich zum Herkunftsort sind, je größer die Einkommensdifferenz ist und je mehr Migranten bereits an diesen Zielort gewandert sind, desto stärker wird die Tendenz zur Migration sein“ (Haug 2000, S.3). Unter den Push-Faktoren werden alle Faktoren des Herkunftsortes verstanden, die Migrant*innen ‚wegdrücken‘. Beispiele hierfür liegen in der Arbeitsmarktlage des Herkunftslandes, aber auch in der Diskriminierung oder Verfolgung ethnischer Minderheiten, in Naturkatastrophen oder kriegerischen Konflikten. Die (Migrant*innen ‚anziehenden‘) Pull-Faktoren werden nach Lee in den Merkmalen des Zielortes gesehen, die zur Immigration in ein Land bzw. eine Region motivieren. Klassische Beispiele hierfür liegen in besseren Arbeitsbedingungen, der Achtung von Menschen- und Bürgerrechten (u.a. Glaubensfreiheit) und politischer Stabilität (Lee 1966).
In der soziologisch gewendeten Theorie der rationalen Entscheidung (rational choice) werden die ökonomischen Anreize um soziale und psychologische Aspekte erweitert. Der Behaviorismus legte dabei ein spezielles Augenmerk auf Kognitionsprozesse in der Entscheidungsfindung. Forschende wie Mueller (1981) und Clark (1986) haben die psychologischen Hintergründe von Migrationsentscheidungen untersucht, um herauszufinden, warum Migrant*innen an bestimmte Orte auswandern bzw. warum sie überhaupt emigrieren. Im Gegensatz zu neo-klassischen Vertreter*innen sind Behaviorist*innen, wie Wolpert (1965), auch an ‚irrationalen‘ Aspekten im Entscheidungsprozess interessiert, die Migrant*innen beeinflussen. Soziale und emotionale Faktoren, etwa im Zielland lebende Verwandte, können sich ebenso auf die Auswahl des Migrationsziels auswirken wie ökonomische Faktoren (Samers 2010, S.62f.). Entscheidend für die Migration ist demnach die Produktsumme aus ökonomischem, sozialem und psychischem Nutzen für den homo oeconomicus (Massey et al. 1993; Faist 1995).
Wie schon bei Ravenstein liegt der Fokus dieser Ansätze auf dem Individuum. Die Neue Ökonomie der Arbeitsmigration weist diesen engen Begründungszusammenhänge als zu einseitig und lückenhaft zurück und betont vielmehr, dass die Agierenden in der Migration nicht allein entscheidend seien, sondern auch Beziehungsnetzwerke eine Rolle spielen. Dabei werden Familien als wesentliche, kollektive Akteure der Migration betrachtet, weshalb der maßgebliche Bestimmungsgrund der Arbeitsmigration sich vor allem in der Diversifizierung des Familieneinkommens finden lässt (Stark 1984). Während klassische Theoreme wie das Push/Pull und andere neoklassische Theorien (u.a. Stadt-Land-Migration nach: Todaro 1969; Borjas 1989) stets die Lohndisparitäten und die individuelle Nutzenmaximierung als zentrale Motivatoren einer Migrationsentscheidung herausstellten, findet hier eine Einbindung der gesamten Familiensituation Eingang in die Gesamtbetrachtung (Stark 1984; 1991).
Gemäß dieser Überlegung wird z.B. in dem sog. „Household“-Ansatz die Entscheidung zur Migration nicht isoliert, sondern innerhalb eines Haushalts oder einer Familie betrachtet. Migration ist demnach eine kollektiv beschlossene, rationale Strategie, welche die innerhalb einer Familie vorhandenen Ressourcen zum Zwecke der Einkommenssteigerung einsetzt (Massey 1990). Auch kann die Migration zur Risikodiversifizierung eingesetzt werden, um das Risiko eines Einkommensausfalls in einem Haushalt zu senken. Migration ist demnach kein individueller Prozess, sondern das Resultat komplexer Gruppen- und Netzwerksstrukturen. Die Strategien können sich dabei im Laufe der Jahre durchaus wandeln: Wurden beispielsweise auf den Philippinen zunächst vorwiegend männliche Arbeiter ins Ausland gesandt, setzen zahlreiche Haushalte mittlerweile bevorzugt auf die Migration von weiblichen Angehörigen. Diese gelten als zuverlässiger und senden regelmäßigere und höhere Anteile ihres Einkommens an die Familien im Heimatland (Semyonov und Gorodzeisky 2004). Auch ist es möglich, dass durch die Migration anderer der eigene Wunsch ebenfalls zu migrieren, erst geweckt bzw. vergrößert wird. Da Migration oftmals mit einem Einkommenszuwachs verbunden ist, wächst auch bei anderen Familien der Wunsch, in den Genuss höherer Einkommen zu kommen, insbesondere dann, wenn sich die Menschen „im Verhältnis zur sozialen Referenzgruppe in ihrer Herkunftsregion“ (Pries 2010, S.15) benachteiligt sehen (relative Deprivation).
2.1.1 Theorien auf der Makroebene
So wichtig der Fokus auf die individuelle Ebene ist, so lässt sich auch argumentieren, dass diese Entscheidungen letztlich durch die Makroebene beeinflusst sind, etwa durch das kapitalistische Weltsystem, das den Druck zur Migration erst hervorruft. Strukturelle Ansätze haben in der Migrationsforschung daher ebenfalls eine große Tradition und großes Gewicht. Sie gehen zumeist auf (neo-)marxistische oder historisch-soziologische Theorien zurück. Dieses Bündel von Ansätzen lässt sich nicht eindeutig (nur) den Migrationstheorien zuordnen, so gibt es starke inhaltliche Überschneidungen mit den Bereichen Kapitalismus, Kolonialismus, Imperialismus und Neoliberalismus. Die Entstehung der strukturellen Theorien ist eng mit der in den 1970er und 1980er Jahren stattfindenden Arbeitsmigration aus ehemaligen Kolonien nach Nordamerika, Europa und Südafrika verbunden.
Politisch-ökonomische Ungleichheiten zwischen diesen Ländern bilden daher einen Analyseschwerpunkt in Bezug auf Migration. Im Gegensatz zu den Ansätzen der Mikroebene fokussieren strukturelle Ansätze, wie die Weltsystemtheorie oder Dependenztheorie, auf die Makroebene und beschäftigen sich mit den Rahmenbedingungen und Kontextfaktoren von Migration, wobei das Wirtschaftssystem eine zentrale Rolle einnimmt (Samers 2010, S.67; Smoliner et al. 2013, S.14). Im Folgenden werden einige strukturelle Ansätze vorgestellt, um ihre Unterschiede und Vielfalt herauszustellen.
Die Theorie der ‚Articulation of modes of production‘ geht auf das Konzept der Produktionsweise nach Marx zurück und beschreibt die unterschiedlich starke Einbindung in das kapitalistische System zwischen einzelnen Regionen bzw. Ländern. Die Entwicklung des Kapitalismus in Regionen mit vorkapitalistischen Strukturen hat einen zerstörerischen Effekt auf landwirtschaftliche und soziale Netzwerke gehabt (Portes und Walton 1981), sodass die Menschen in kapitalistische (Arbeits-)Strukturen gezwungen werden und schließlich in reichere Länder (zumeist in den Globalen Norden) emigrieren (Samers 2010, S.68f.).
Auf dieser Grundprämisse bauen auch neomarxistische Ansätze wie die sog. Weltsystemtheorie auf, zu deren Begründern Immanuel Wallerstein gehört. Diese Theorie geht von einem komplexen weltweiten System internationaler Arbeitsteilung und Machtstrukturen innerhalb des kapitalistischen Weltsystems aus (Wallerstein 2004). In diesem Weltsystem (das nicht zwangsläufig die gesamte Welt umfassen muss, aber in sich geschlossen ist) findet eine Umverteilung von Ressourcen von der Peripherie ins Zentrum statt. Während die früheren „Weltreiche“ nur ein Zentrum hatten, finden sich in der heutigen „Weltökonomie“ mehrere Machtzentren, die miteinander konkurrieren. Diese Machtzentren werden durch das zwischenstaatliche System in Balance gehalten, wobei Staaten zeitweise durchaus hegemoniale Führungsrollen einnehmen können. Zwischen Zentrum und Peripherie finden sich zudem oft autoritär regierte Staaten der „Semi-Peripherie“, die das System weiter stabilisieren.
Diesen Gedanken hatten bereits die sog. Dependenztheorien in den 1960er Jahren entwickelt und in vielen Studien aufgezeigt, wie sich die Abhängigkeiten (Dependenzen) der Länder in der sogenannten „Dritten Welt“ – heute spricht man eher vom „Globalen Süden“ – von den Industriestaaten des Nordens negativ auf ihre Entwicklung auswirken (für die deutsche Debatte siehe: Senghaas 1974). Wichtig im Kontext der Migrationsforschung ist, dass das Zentrum neben Rohstoffen und Profit aus Investitionen auch von billigen Arbeitskräften aus der Peripherie profitiert. Migrationsbewegungen ergeben sich demnach aus der Funktion der jeweiligen Länder im modernen kapitalistischen Weltsystem. Der „Brain Drain“ (→ 10 Migration und Entwicklung) aus Ländern der Peripherie und Semi-Peripherie ließe sich ebenso mit der Weltsystemtheorie erklären wie etwa die Nachfrage nach philippinischen Hausangestellten in Dubai oder Hongkong (→ 6 Migration und Gender). Kritisiert wird an diesen Theorieansätzen aber vor allem, dass sie dem Individuum kaum Entscheidungsfreiheit zugestehen.
Auf der anderen Seite des Spektrums spielen neo-liberalistische Ansätze im Kontext der Globalisierung eine wichtige Rolle, um die Zusammenhänge zwischen Migration und der Wirtschaftspolitik von Industrieländern, Unternehmen oder internationalen Organisationen (z.B. WTO, IMF) zu erklären. Der Neoliberalismus umspannt dabei verschiedene Politiken, Programme und Diskurse, die sich tendenziell deregulierend auf Arbeitsmärkte auswirken und staatliche Wohlfahrtsprogramme zugunsten einer wettbewerbsorientierten Logik beschränken. In reicheren Ländern werden häufig gezielt hochqualifizierte Immigrant*innen angeworben, um sich auf dem globalen Markt zu behaupten, wobei sich insbesondere die internationale Studierendenmobilität hervorheben lässt. Ärmere Länder erfahren ebenso eine (zum Teil unfreiwillige) strukturelle Anpassung, die durch voranschreitende Liberalisierungen, ausländische Direktinvestitionen und Handel noch verstärkt wird. Durch Rücküberweisungen der Migrant*innen partizipieren auch die Herkunftsorte der Migrant*innen am wirtschaftlichen Fortschritt in den Einwanderungsländern. Auch durch Rückwanderung oder zirkuläre Migration können positive Entwicklungsprozess in den Ausgangsräumen angestoßen werden (sog. Migration-Development-Nexus, Van Hear und Sorensen 2003).
In der Migrationsforschung ist dabei strittig, ob die dargestellte Zunahme der Migration allein durch die Globalisierung hervorgerufen wurde. Während einige Forscher*innen auf die Möglichkeit von Langstreckenreisen und die einfachere Kommunikation mit Personen im Herkunftsland verweisen und uns im Zeitalter der Migration („Age of migration“, Castles et al. 2014) sehen, dessen gewaltiges Ausmaß an internationalen Wanderungsbewegungen ohne die Globalisierung so nicht möglich gewesen wäre (Brettel und Hollifield 2008), bestreiten andere die Neuartigkeit des Phänomens. So verweisen Hirst und Thompson (1996) zum Beispiel auf Parallelen zu Migrationsbewegungen im späten 19.Jahrhundert.