Читать книгу: «Vermintes Gelände. Eine Streitschrift gegen den Mainstream der deutschen Integrationsdebatte», страница 2

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Du sollst meinen Namen nicht nennen (und Dir schon gar kein Bildnis von mir machen)

Ein ähnliches Paradox im Umgang mit ethnisch-kulturellen Zuschreibungen betrifft die Frage der Roma-Zugehörigkeit von Personen, im konkreten Fall von im Rahmen der EU-Arbeitnehmerfreizügigkeit nach Deutschland zugewanderten bulgarischen und rumänischen Staatsangehörigen.

Im Vorfeld einer Feldstudie zu deren Lebenssituation in der besagten nordrhein-westfälischen Großstadt hat der Autor an einer Vortrags- und Diskussionsveranstaltung zur Entrechtung, Verfolgung und Diskriminierung der Roma-Gruppe teilgenommen. Im Rahmen dieser Veranstaltung hielt ein Vertreter einer nordrhein-westfälischen Roma-Jugendselbstorganisation einen sehr differenzierten und informierten Vortrag zur Art und Weise, wie Roma-Jugendliche in ihrem Selbstbild und ihrer Außenpräsentation mit ihrer Roma-Herkunft umgehen. In der Gewissheit, es hier mit einem höchst kompetenten Ansprechpartner zu tun zu haben, hat der Autor anschließend mit Blick auf die geplante Studie die Frage an ihn gestellt, ob und in welcher Form man in einer solchen Studie Roma-Zugehörigkeit der Befragten erheben solle.

Die zumindest für den Autor verblüffende Antwort darauf war die, dass Roma-Zugehörigkeit überhaupt nicht erfasst werden solle, da diese Zugehörigkeit keinerlei Einfluss auf die Einstellungen und das Handeln der befragten Personen nehme. Die Perplexität des Autors angesichts dieser Einschätzung war selbstverständlich deshalb so ausgeprägt, weil diese (ihm schon bekannte) Position von einer Person vertreten wurde, die wenige Minuten vorher umfangreich und differenziert darüber berichtet hatte, wie das Selbstbild und das Handeln von Roma-Jugendlichen entscheidend von ihrer Roma-Herkunft beeinflusst werden.

Überraschter war der Autor noch darüber, dass dieser offenkundige Widerspruch ansonsten niemandem in der Zuhörerschaft aufgefallen zu sein schien. Vielmehr teilten bis auf eine Ausnahme alle Diskutanten (einschließlich der anwesenden Vertreterin des zuständigen NRW-Ministeriums) die Meinung des Referenten, es sei nicht notwendig und darüber hinaus auch nicht statthaft, in sozialwissenschaftlichen Untersuchungen Roma-Zugehörigkeit zu erheben. Letzterem normativen Argument wurde von einer der Diskutantinnen besonderes Gewicht durch den Hinweis darauf gegeben, dass man ja erlebt habe, zu welchen unheilvollen Konsequenzen ‚ethnische Etikettierung‘ in der deutschen Geschichte geführt habe, und man mit der Verwendung solcher Zuschreibungen fortexistierenden und wiederbelebten rassistischen Vorurteilen gegenüber der Roma-Gruppe in die Hände spiele. Gegenüber dieser argumentativen ‚Keule‘ hat wiederum keiner der Anwesenden den Autor in Schutz genommen und so war er nach dieser Veranstaltung tatsächlich ziemlich ‚geplättet‘. Klar geworden ist ihm aber durch dieses Erlebnis endgültig, wie ‚vermint‘ dieses Gelände angesichts der deutschen Geschichte ist.

Da das geplante Projekt schließlich durchgeführt worden ist, hatte die Auseinandersetzung über die Erhebung und Interpretation von Roma-Zugehörigkeit kein Ende. Vielmehr fand die oben skizzierte Debatte (auch aufgrund partieller personeller Überschneidungen zu der oben dargestellten Diskussionsveranstaltung) im Beirat des Projektes eine Neuauflage. Erneut wurden von der einen Seite die schon bekannten Argumente ins Feld geführt: Zum einen erbringe die Berücksichtigung der Roma-Zugehörigkeit der zu Befragenden keinen wissenschaftlichen Mehrwert, weil sie keinerlei Erklärungskraft für deren Verhalten und Einstellungen besäße; zum anderen sei sie auch politisch-normativ hoch problematisch, da sie auf dem Hintergrund des Genozids an der Roma-Bevölkerung im nationalsozialistischen Deutschland und der weiter in der Bevölkerung gegenüber den Roma bestehenden massiven Vorurteile und Diskriminierungen eine Verstärkung dieser Abwertung und Benachteiligung darstelle. Entgegengehalten wurde dem – vor allem von einem Teil der anwesenden Wissenschaftler –, dass dieser historische und politische Kontext zwar durchaus zu berücksichtigen sei, aber allein eine Benennung der Roma-Zugehörigkeit und eine diese berücksichtigende empirische Auswertung noch nicht mit solchen schwerwiegenden Folgen verbunden sei; darüber hinaus seien die vorgebrachten Bedenken kein hinreichender Grund dafür, für eine wissenschaftliche Untersuchung der Lebenssituation dieser benachteiligten Gruppe möglicherweise relevante Daten nicht zu erheben. Dies gelte schließlich nicht nur in wissenschaftlich-akademischer, sondern auch in handlungs- und förderbezogener Hinsicht: Nur die Kenntnis der spezifischen Potenziale und Probleme benachteiligter Gruppen ermögliche eine gezielte, gegebenenfalls auch kultursensible politische Einflussnahme im Sinne der Verbesserung der Situation dieser Gruppe (und schließlich auch die Einwerbung von geeigneten Fördermitteln aus den für spezifische Gruppen vorgesehenen nationalen und internationalen Programmen – die sich nicht selten speziell auf die Gruppe der Roma beziehen)3.

Resultat dieser intellektuell und emotional hoch intensiven Diskussion war die mehrheitliche Einigung darauf, Roma-Zugehörigkeit ausschließlich aus der Perspektive der Befragten zu erheben, d.h. nur dann zu konstatieren, wenn sich die Befragten auf eine allgemeine Anfrage nach einer eventuellen Zugehörigkeit zu einer ethnisch-kulturellen Gruppe ausdrücklich als Roma bezeichnen würden4. (Dieser Kompromiss hat dazu geführt, dass sich die beiden Vertreter der nordrhein-westfälischen Roma-Selbstorganisationen unter Protest aus dem Beirat zurückgezogen haben.)

Auf Basis dieses Votums des Projektbeirats ist in den Projektfragebogen eine entsprechende offene Frage eingefügt worden. Im Verlauf der Befragung ist zumindest bei den rumänischen Befragten deutlich geworden, dass sie ganz offen mit ihrer Roma-Zugehörigkeit umgehen, während die bulgarischen Befragten sich in der überwiegenden Mehrzahl einer auf bulgarischem Territorium lebenden türkischen Minderheit zuordneten.

So boten die Rohdaten eine gute Basis für eine Interpretation der Befunde auch entlang des Merkmals ‚Roma-Zugehörigkeit – Nicht-Roma-Zugehörigkeit‘. Der Weg hin zu einer entsprechenden Auswertung war damit keineswegs geebnet. Der für die Auswertung zuständige Projektmitarbeiter, der in den vorangegangenen Diskussionen ebenfalls für die Erhebung von Roma-Zugehörigkeit plädiert hatte, war in einem ersten Schritt nicht dazu zu bewegen, dieses Merkmal auch tatsächlich auszuwerten, also anhand der Befragungsergebnisse zu überprüfen, ob es systematische Unterschiede in den erhobenen Merkmalen zwischen Befragten mit und ohne Roma-Hintergrund gebe. Eine schlüssige Antwort auf die Frage, warum dieses Merkmal überhaupt erhoben worden sei, wenn es anschließend nicht ausgewertet werden solle, konnte er nicht geben. Erst aufgrund des Insistierens der Projektleitung ist eine entsprechende Auswertung vollzogen worden, die in mehreren wesentlichen Merkmalen deutliche Differenzen zwischen Befragten mit und ohne Roma-Zugehörigkeit (in vielen anderen Hinsichten aber keine solchen Unterschiede) erbrachte.

Zum einen war der Anteil an Roma-Angehörigen an den rumänischen Befragten deutlich höher als an den bulgarischen und die soziale Situation der rumänischen Zuwanderer im Heimatland genauso wie im Einwanderungskontext deutlich schlechter als diejenige der bulgarischen; zum anderen war unter den Befragten mit Roma-Hintergrund die Kinderzahl deutlich höher als bei denjenigen ohne Roma-Hintergrund; schließlich waren alle Personen in der Gesamtstichprobe ohne jegliche Schulerfahrung Roma und der deutlich überwiegende Teil von ihnen weiblich.

Hier soll es nicht um die Aussagekraft solcher Befunde im Sinne einer ursächlichen Beziehung zwischen problematischen Befragtenmerkmalen und ihrer Roma-Zugehörigkeit gehen. Allein schon wegen des geringen Stichprobenumfangs der Befragung kann eine solche kausale Interpretation methodisch in Frage gestellt werden. Der Sache nach können die aufgewiesenen Unterschiede zwischen der bulgarischen und der rumänischen Gruppe und innerhalb der rumänischen Gruppe durchaus auch auf andersartigen, nicht-ethnischen Gründen beruhen. Beispielsweise konnte im Projekt nicht abschließend geklärt werden, ob die große Kinderzahl der befragten Roma mit ihrer Roma-Herkunft oder mit ihrer Mitgliedschaft in einer religiösen Gemeinschaft mit sehr rigiden Regeln in Bezug auf Empfängnisverhütung zusammenhängt.

Kaum bezweifelbar ist die Tatsache, dass solche Unterschiede in der Wirklichkeit beider Gruppen existieren und diese für eine weitere Untersuchung der für sie verantwortlichen Bedingungen zunächst einmal empirisch festgehalten werden müssen – will man sich nicht aus politisch-normativen Vorentscheidungen schon im Ausgangspunkt wichtige Erkenntnismöglichkeiten verschließen.

Wie sich gezeigt hat, existiert diesbezüglich eine mehrfache ‚Verweigerungshaltung‘, die beginnt bei der Datenerhebung, sich fortsetzt in Bezug auf die Auswertung der existierenden Daten und schließlich auch in einem instrumentellen Umgang mit alternativen Erklärungen Ausdruck findet.

In den Blick geraten spezifische Merkmale von Roma-Zuwanderern und ihrer Lebenssituation meist nur, wenn es darum geht, die Vorurteile der Mehrheitsgesellschaft und deren mediale Inszenierungen in Bezug auf diese Gruppen kritisch zu hinterfragen. Inwieweit solche ohne Zweifel auf Seiten der Mehrheitsgesellschaft vorhandenen vereinseitigenden Sichtweisen in tatsächlich existierenden Problemen im Zusammenleben mit diesen Gruppen ihren Ausgangspunkt und Nährboden finden, bleibt regelmäßig ausgeblendet5.

Terminologischer Exkurs: zur Definition zentraler Begriffe

Um gerade in diesem ‚verminten Gelände‘ Missverständnisse allein schon aufgrund der Wortwahl zu vermeiden, ist es notwendig, einige der im Text verwendeten Termini zu erläutern.

Dies betrifft zunächst die verwendeten Bezeichnungen für die an Integrationsbeziehungen beteiligten Gruppen. Aus Sicht des Autors ist die einzige begriffliche Differenzierung, welche die in Beziehung zu setzenden zwei Großgruppen angemessen erfasst, diejenige zwischen Personen mit und Personen ohne Migrationshintergrund6. Allerdings ist die durchgängige Verwendung einer derart schwerfälligen Formulierung aus sprachlichen Gründen ausgeschlossen. Im Folgenden werden von daher Personen, die selbst nach Deutschland zugewandert sind oder ein zugewandertes Elternteil, also im gängigen Sinne einen Migrationshintergrund besitzen, mit dem im strengen Sinn unkorrekten Terminus ‚Zuwanderer‘ bezeichnet; Personen, deren beide Elternteile schon in Deutschland geboren sind, die also keinen Migrationshintergrund mehr aufweisen, werden als ‚Einheimische‘ bezeichnet. Die Frage der Staatsangehörigkeit der betreffenden Personen genauso wie die des angemessenen Umgangs mit der dritten Zuwanderergeneration wird damit ausgeblendet. Insbesondere in Bezug auf die Angehörigen der dritten Zuwanderergeneration ist zu fragen, inwiefern sie oder zumindest Teile von ihnen nicht in vielerlei Hinsicht größere Gemeinsamkeiten zu den Mitgliedern der ersten und zweiten Generation ihrer Herkunftsgruppe aufweisen als zu den sonstigen Personen ohne Migrationshintergrund. Für die Identifikation von sich über Generationen zu ethnisch-kulturellen Minderheiten verfestigenden Zuwanderergruppen ist der Begriff des Migrationshintergrunds demnach nicht geeignet. Als weitere Gruppenbezeichnung wird im Folgenden der Begriff ‚Mehrheitsbevölkerung‘ verwendet: Er zielt auf diejenige mehrheitliche Gruppe unter den ‚Einheimischen‘, die durch die traditionellen Werte und sozialen Netzwerke des jeweiligen Einwanderungslandes geprägt sind; im Regelfall gehören hierzu Personen, deren Vorfahren schon seit vielen Generationen im Einwanderungsland leben7. Mehr oder weniger synonym hierzu wird der Begriff der ‚Mehrheitsgesellschaft‘ verwendet, obwohl hier auch die institutionellen Formen, die sich die Mehrheitsbevölkerung gegeben hat, mitgedacht sind8.

Ein besonderes Risiko von Missverständnissen ist mit der Verwendung des für den Text grundlegenden Terminus ‚ethnisch-kulturell‘ und des von ihm abgeleiteten der ‚ethnisch-kulturellen Gruppe‘ verbunden. Gerade angesichts der im Text selbst kritisierten Ausweitung einer ‚rassismusbezogenen‘ Terminologie ist auf den grundlegenden Unterschied der mit einer ethnisch-kulturellen Begrifflichkeit bezeichneten sozialen Tatbestände zu biologistisch basierten Argumentationsmustern hinzuweisen9. Um diesen Unterschied von vornherein zu markieren, ist im Text das im angelsächsischen Sprachraum gebräuchliche Wortfeld um den Begriff der ‚Ethnie‘ um den kulturellen Aspekt erweitert worden (der allerdings im Ethniebegriff immer schon mitgedacht war). Damit soll ausdrücklich darauf hingewiesen werden, dass die unter dieser Begrifflichkeit zusammengefassten Merkmale und Gruppen eine genuin kulturelle Grundlage besitzen. Solche Grundlagen sind nicht in gemeinsamen genetischen Merkmalen der Gesellschaftsmitglieder verankert und werden nicht durch biologische Prozesse der Vererbung weitergegeben, sondern bilden sich in sozialen und kommunikativen Zusammenhängen heraus und werden in Prozessen der kulturellen Tradierung, z.B. über gruppenbezogene frühkindliche und lebenslange Sozialisationsprozesse, weitergegeben. Es handelt sich hierbei um kulturelle Merkmale wie Sprache, Religion und Wertorientierungen, die in ‚ethnisch-kulturellen Gruppen‘ geteilt werden.

Bei diesen Gruppen handelt es sich um einen speziellen Typus von ‚kulturellen Gruppen‘, nämlich abstammungsbasierten (und nicht um beispielsweise durch gemeinsame soziale Herkunft gebildete Gruppen und ihre ‚Klassenkulturen‘). Solche Gruppen sind dadurch definiert, dass sich ihre aktuellen kulturellen Gemeinsamkeiten aus der (tatsächlichen oder geglaubten10) Zugehörigkeit zu Abstammungsnetzwerken ergeben. Ausgegangen wird dabei davon, dass solche genealogischen Netzwerke aufgrund ihrer primären Sozialisations- und Vergesellschaftungsfunktion ein hohes Ausmaß an kultureller Gemeinsamkeit herstellen; in keinem Fall wird hierbei die Herausbildung von Merkmalen und ihre Tradierung selbst als genetisch gesteuerter Prozess unterstellt. Insofern ist also eine strenge Trennlinie zwischen den Konzepten der ‚Rasse‘ und der ‚Ethnie‘ zu ziehen, die, wie noch zu sehen sein wird, in aktuellen Debatten immer wieder verwischt wird.

‚Ethnisch-kulturelle Gruppen‘ bilden sich aufgrund solcher kulturellen Gemeinsamkeiten erst dann heraus, wenn solche ‚kategorialen‘ Gemeinsamkeiten von engen und regelmäßigen Sozialkontakten zwischen den Gruppenmitgliedern und einer Wir-Gruppen-Definition der Mitglieder gestützt werden11. Der Text wird sich im Weiteren auf die ‚kategoriale‘ Ebene der kulturellen Gemeinsamkeiten konzentrieren12.

Ethnisierung online und offline oder von der Scheinheiligkeit von Integrationsdiskursen

Vor einigen Jahren hat der Autor im Auftrag der schon genannten NRW-Stadt eine Befragung zum Stand der Integration zwischen Einheimischen und Zuwanderern in dieser Stadt koordiniert13. Im Fragebogen wurde nicht nur nach dem Migrationshintergrund der Interviewten gefragt, sondern auch nach ihrem Herkunftsland bzw. demjenigen ihrer Eltern. Geplant war auf dieser Basis eine Auswertung der Daten nach nationalen Herkunftsgruppen, um so ein möglichst hohes Maß an Gruppendifferenzierung zu erreichen.

Von Mitgliedern der Projektgruppe selbst, aber vor allem von Seiten der städtischen Auftraggeber sind allerdings schwerwiegende Bedenken gegenüber einem solchen Vorgehen formuliert worden: Die Berücksichtigung der nationalen Herkunft der Befragten lege diese auf ihre ethnisch-nationale Prägung fest, stelle ein Präjudiz für eine Ursachenzuschreibung an eine solche Prägung dar und führe auf diesem Weg zu einer Verfestigung ethnischer Vorurteile und Stereotype. Ergebnis langer Diskussionsprozesse (bei denen aus ersichtlichen institutionellen Gründen von Anfang an klar war, wessen Position sich letztendlich durchsetzen würde) war schließlich die Rücknahme der ursprünglichen Absicht. Ausgewertet wurden in der Folge nicht mehr die Herkunftsländer der befragten Zuwanderer, sondern ihr Rechtsstatus als Ausländer, Eingebürgerte und Aussiedler.

Abgesehen davon, dass diese Differenzierung auch zu aussagekräftigen Ergebnissen geführt hat, war das Nachspiel des Diskussionsprozesses vielsagend: Im selben Gespräch zwischen Projektmitarbeitern und Auftraggeberin, in dem diese Umorientierung definitiv entschieden wurde, fand nach Beendigung des formellen Teils der Sitzung eine intensive Diskussion zwischen den teilnehmenden deutschen, türkeistämmigen und italienischen Kollegen über die unterschiedliche bzw. gemeinsame Arbeitshaltung von Türken, Italienern und Deutschen (und weitere Unterschiede zwischen ihnen) statt, die den Autor seinen Ohren nicht hat glauben lassen.

Einige Monate nach der Veröffentlichung der Befragungsergebnisse hat die für die o.g. Entscheidung ausschlaggebende städtische Mitarbeiterin beim Forscherteam die Auswertung der Daten nach den Hauptherkunftsländern angefordert, da diese spezifischere Aussagen unter anderem zur Situation der türkeistämmigen Zuwanderer in der Stadt erlaube. Eine Kommentierung beider Vorgänge im Sinne des Titels dieses Kapitels erübrigt sich vermutlich.

Ein etwas schlichtes Weltbild oder: die Alleinverantwortlichkeit des Sozialen

Die Frage nach der Berücksichtigung nationaler Herkunft der Befragten stellte nicht den einzigen Dissenspunkt zwischen Projektbearbeitern und Auftraggebern dar. In der Studie waren einige klassische Items zu Erziehung, Geschlechterbeziehungen und zur Bedeutung von Religion abgefragt worden, um die Befragten in Bezug auf die ‚Modernität‘ bzw. ‚Traditionalität‘ ihrer Wertorientierungen einzustufen.

Dabei hatten sich deutliche Differenzen zwischen den Einheimischen und den Zuwanderern ergeben: In allen Items wiesen die Einheimischen ‚modernere‘ Wertorientierungen auf als die Zuwanderer. Dieser offensichtliche empirische Zusammenhang hatte die Projektmitarbeiter dazu verleitet, hier auch eine ursächliche Beziehung zu unterstellen: Einheimischen wurde aufgrund ihrer Eigenart als Einheimische, Zuwanderern aufgrund ihrer Zuwanderereigenschaft ein unterschiedlicher Grad an kultureller Modernität zugeschrieben. Und dies wurde fälschlicherweise ohne die Berücksichtigung andersartiger Unterschiede zwischen beiden Gruppen (etwa unterschiedlicher Bildungsvoraussetzungen) getan.

Der von Seiten des Auftraggebers mit der Supervision des Projekts beauftragte wissenschaftliche Mitarbeiter (inzwischen ein renommierter Islamwissenschaftler) monierte diese kausale Interpretation sofort, keineswegs aber mit einer methodischen Kritik am Vorgehen, sondern mit einer alternativen Ursachenzuschreibung: Es könne kein Zweifel daran bestehen, dass die aufgewiesenen kulturellen Unterschiede zwischen Einheimischen und Zuwanderern nichts mit ihrem unterschiedlichen ethnisch-kulturellen Hintergrund zu tun hätten; vielmehr seien sie dadurch erklärbar, dass Zuwanderer in der Regel einen geringeren Sozialstatus besäßen und Personen mit einem geringeren Sozialstatus in der Regel traditioneller orientiert seien. Eine empirische Überprüfung dieser These (durch eine multikausale Analyse der Daten) hielt er seinerseits aber ebenfalls nicht für nötig. (Leider wäre eine solche multikausale Analyse dann auch nur höchst eingeschränkt möglich gewesen, weil entscheidende Drittvariablen wie z.B. der familiäre soziale und bildungsmäßige Hintergrund der Befragten nicht erhoben worden war.)

Deutlich wird hier erneut die oben schon angedeutete festgefügte Überzeugung, für Unterschiede zwischen Mitgliedern verschiedener nationaler Herkunftsgruppen seien im Regelfall nicht ethnisch-kulturelle, sondern andersartige, vor allem soziale Faktoren ausschlaggehend – aber auch der Fehlschluss, der im Hintergrund dieser Überzeugung wirksam ist.

Zwar lassen sich gute Argumente und triftige empirische Belege für den Einfluss sozialer Faktoren auf solche Unterschiede beibringen: Dass beispielsweise die Herkunft aus ländlichen Gegenden, die Sozialschicht und das Bildungsniveau der Eltern einen erheblichen Einfluss auf die Wertorientierungen ihrer Kinder nehmen und diese Einflussfaktoren meist ungleich verteilt sind zwischen Gruppen mit unterschiedlicher nationaler Herkunft, lässt sich kaum bestreiten. (Und auszuschließen ist auch nicht, dass von Zuwanderern erlittene oder selbst vollzogene soziale Ausgrenzungen im Einwanderungsland zu einer Verfestigung herkunftsbasierter traditioneller Werte beitragen können.)

Keineswegs folgt daraus aber, dass neben diesen sozialen und bildungsmäßigen Herkunftseinflüssen nicht auch spezifisch ethnisch-kulturelle Faktoren eine Rolle spielen könnten – außer man ist der Meinung, dass für komplexe gesellschaftliche Phänomene im Regelfall nur eine Art von Ursachen verantwortlich zu machen ist. Tatsächlich erlaubt es wohl alleine ein solch ‚schlichtes Weltbild‘ (zu dem sich selbstverständlich niemand offen bekennen würde), zu dem gewünschten Resultat einer Irrelevanz ethnisch-kultureller Einflussfaktoren angesichts des Vorhandenseins andersartiger, sozialer Einflussfaktoren zu gelangen14.

Auch der Hinweis darauf, dass die empirischen Sozialwissenschaften ein derart monokausales Weltbild von Anbeginn an in Frage gestellt und inzwischen ein elaboriertes Instrumentarium zur Analyse mehrdimensionaler Verursachungszusammenhänge entwickelt haben, kann solche Überzeugungen und die sie stützenden Hintergrundannahmen kaum erschüttern15; jedenfalls werden sie trotz solcher Hinweise mit der schon beschriebenen Hartnäckigkeit weiter proklamiert. (In Bezug auf die hier interessierende Frage ist anzumerken, dass im Rahmen der gängigen multikausalen wissenschaftlichen Analysen der Unterschiede zwischen Herkunftsgruppen ethnisch-kulturelle Merkmale häufig nicht in differenzierter Form berücksichtigt, sondern meist in der Variable ‚Migrationshintergrund‘ zusammengefasst werden. Diese ist, wie zu sehen sein wird, für die Erfassung solcher Unterschiede nur sehr begrenzt geeignet.)

Mit einem solchen vereinfachten Weltbild versperrt man sich gerade den Zugang zur tatsächlichen Dynamik von Integrationsprozessen: Vieles spricht dafür, dass deren Gelingen oder Misslingen gerade von dem spezifischen Ineinandergreifen sozialer, politischer und kultureller Interaktionsprozesse zwischen den beteiligten Gruppen abhängt. Die Frage, wie eine solche Ko- und Wechselwirkung unterschiedlicher Einflussfaktoren jeweils aussieht (und dementsprechend Integrationsprozesse verlaufen), wird dadurch aber zu einer komplexen Herausforderung an die empirische Forschung: In jedem Einzelfall sind die einflussnehmenden Faktoren, die Art und das relative Gewicht ihres Einflusses und ihre Wechselwirkung zu bestimmen16.

Im Einzelfall kann sich dabei durchaus zeigen, dass ethnisch-kulturellen Faktoren gegenüber andersartigen Bedingungen eine geringe oder auch gar keine Bedeutung zukommt. Diesen Faktoren aber auf Basis des beschriebenen Fehlschlusses von vornherein und pauschal jeglichen Einfluss abzusprechen, widerspricht einer solchen analytischen Orientierung an der Komplexität von Integrationsprozessen und steht eher für eine ideologisch motivierte Reduktion dieser Komplexität.

Die Überzeugung, dass herkunftsbedingten kulturellen Prägungen keine oder bestenfalls untergeordnete Relevanz für das Handeln von Herkunftsgruppen und ihre Beziehungen untereinander zukommt, wird im Integrationsdiskurses mit einer Vielzahl differenzierterer Argumentationsmuster zu unterlegen versucht, um die es im Folgenden gehen wird.

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Дата выхода на Литрес:
25 мая 2021
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160 стр. 1 иллюстрация
ISBN:
9783838275277
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