Читать книгу: «Vermintes Gelände. Eine Streitschrift gegen den Mainstream der deutschen Integrationsdebatte»

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ibidem Verlag, Stuttgart

Einen Menschen aber, der die Wissenschaft einem nicht aus ihr selbst (wie irrtümlich sie immer sein mag), sondern von außen, ihr fremden, äußerlichen Interessen entlehnten Standpunkt zu akkommodieren sucht, nenne ich „gemein“. (Karl Marx 1861-1863: 771)

Es handelt sich um ein Thema, das mit Ängsten und manchmal auch mit Abwehrhaltungen verbunden ist, die mehr oder weniger irrational unseren öffentlichen Diskurs verwirren. … Und darum ist es wichtig, dass wir eine rationale, auf Fakten gestützte Debatte zur Norm machen. (Joachim Gauck 2013 in Bezug auf die Zuwanderung aus Bulgarien und Rumänien)

Inhaltsverzeichnis

Einleitende Bemerkungen

Wer schreibt?

Warum eine Streitschrift? Warum ein Essay?

An und gegen wen richtet sich der Text?

Was sind die zentralen Anliegen des Textes?

I. Does culture matter? Dogmen, Paradoxien und Fehlschlüsse der Kulturalismuskritik

Interkulturelle Belange ohne Kultur?

Du sollst meinen Namen nicht nennen (und Dir schon gar kein Bildnis von mir machen)

Terminologischer Exkurs: zur Definition zentraler Begriffe

Ethnisierung online und offline oder von der Scheinheiligkeit von Integrationsdiskursen

Ein etwas schlichtes Weltbild oder: die Alleinverantwortlichkeit des Sozialen

Den Wald vor lauter Bäumen nicht oder von Äpfeln und Birnen

Wie man’s macht, macht man’s falsch: integrationsrelevante Gruppendefinitionen zwischen Pauschalisierung und ethnisch-nationaler Spezifizierung

Kind mit dem Bade: weitere Dekonstruktionsversuche

Dogmen, Fehlschlüsse und Paradoxien ‚erster Ordnung‘

II. Schuld ist immer die Mehrheitsgesellschaft: Was sein soll, muss auch sein

Zwei Einseitigkeiten machen noch keine Zweiseitigkeit

In der Nacht der Ethnisierungsthese sind alle Zuwanderer grau, oder: hausgemachte Probleme der Mehrheitsgesellschaft?

Der Umgang mit den Tatsachen: von der Ausblendung und Selektion zur Verfälschung von Forschungsergebnissen

Höhere Kriminalitätsraten einzelner Zuwanderergruppen – auch eine Konstruktion der Mehrheitsbevölkerung und ihrer Institutionen?

Armutszuwanderung – Mythos und/oder Wirklichkeit? Oder von der interessengeleiteten Auswahl und Verfälschung der Tatsachen

Überall nur Diskriminierung und Vorurteile? Oder: der Umgang der Mehrheitsgesellschaft mit Zuwanderung

(Fast) alle Antiziganisten? Zum politischen Missbrauch wissenschaftlicher Forschungsergebnisse

Täter und Opfer im Integrationsdiskurs, oder: die Vernebelung des Denkens durch generalisierte Schuldgefühle

Alles Rassismus? Zum inflationären Gebrauch eines Terminus

Vorurteile gegenüber Vorurteilen, oder: ihre Unvermeidbarkeit und ihr möglicher wahrer Kern

Worum ging es und was folgt daraus?

Nachwort: Cancel culture oder der Umgang eines renommierten deutschen Wissenschaftsverlags mit unliebsamen Thesen

Literaturverzeichnis

Einleitende Bemerkungen
Wer schreibt?

30 Jahre Leben in bi-kulturellen familiären Zusammenhängen und 15 Jahre Leben und Arbeiten in einem anderen europäischen Land haben die Beziehungen zwischen Angehörigen verschiedener Herkunftsgruppen zum ‚Lebensthema‘ des Autors dieses Textes werden lassen. Mehr als 25 Jahre wissenschaftliche Beschäftigung mit solchen Beziehungen haben dieses Thema darüber hinaus auch zu seinem beruflich dominierenden Betätigungsfeld gemacht: In unterschiedlichen nationalen/regionalen Kontexten und in Bezug auf unterschiedliche Herkunftsgruppen hat er sich sowohl grundlagentheoretisch als auch empirisch intensiv mit diesem Thema befasst. Auf Basis solcher lebensgeschichtlichen Erfahrungen und wissenschaftlichen Studien hat er unvermeidlich Grundüberzeugungen darüber entwickelt, welche Rolle solche Beziehungen im Zusammenleben von Menschen spielen und welche Faktoren Einfluss auf sie nehmen.

Warum eine Streitschrift? Warum ein Essay?

Diese Grundüberzeugungen sind mit der Zeit immer deutlicher in Gegensatz zu den in seinem beruflichen und privaten Umfeld vertretenen Überzeugungen geraten, was Anlass für vielfältige Diskussionen und einschlägige Publikationen gegeben hat. Die Resonanz auf diese Interventionen war durchweg enttäuschend: Entweder wurden sie überhaupt nicht wahrgenommen oder trafen bei den Adressaten auf keinerlei Bereitschaft, die eigenen Überzeugungen zu überprüfen. Wenn man über Jahrzehnte hinweg dieselben aus der eigenen Sicht überzeugenden Argumente ins Feld führt und auf derartige Reaktionen stößt, baut sich unvermeidlich einiger Ärger auf, dem im Folgenden in entsprechendem Ton öffentlicher Ausdruck gegeben werden soll – selbstverständlich auf Basis der Annahme, dass die gelieferten Argumente jenseits eines solchen persönlichen Ärgers auch für andere mit diesem Thema Befassten zu einem besseren Verständnis der Probleme und Perspektiven von Integrationsprozessen beitragen.

Dass die daraus hervorgegangene ‚Streitschrift‘ die Form eines Essays angenommen hat, hängt mit den spezifischen Möglichkeiten zusammen, die dieses literarische Genre bietet. In gedrängter Form erlaubt es eine Entfaltung und Zuspitzung von Thesen, ohne in jedem Fall einen umfassenden und systematischen empirischen Beleg (in diesem Fall an der Literatur- und Diskussionslage) erbringen zu müssen1. Tatsächlich hätte eine im strengen Sinne wissenschaftlich-akademische Beschäftigung mit der Vielfalt der angesprochenen Aspekte des Integrationsdiskurses den Rahmen einer einzelnen Publikation mit Sicherheit gesprengt. Wenn sie doch leistbar gewesen wäre, hätte sie darüber hinaus allenfalls das engere Fachpublikum erreicht; dies wäre dem Charakter einer Streitschrift, die auf ein möglichst breites Publikum zielt, nicht gerecht geworden. (Allerdings geht der Autor davon aus, dass die von ihm gelieferte Beschreibung des Diskussionsstandes in einem umfassenderen Kontext auch einer systematischen Überprüfung standhalten würde.)

Nicht zuletzt erlaubt es der Verzicht auf eine streng wissenschaftliche Vorgehensweise auch, persönliche Forschungserfahrungen mit dem Thema einzubringen, Erfahrungen, die grundlegend für die Anliegen des Essays waren und diese häufig besser veranschaulichen können als auf Allgemeingültigkeit zielende Argumentationen.

Tatsächlich bilden solche persönlichen Erfahrungen in der Forschung zu interkulturellen und Integrationsfragen den Ausgangspunkt und das Rückgrat des Textes. Dies hat unvermeidlich zur Folge, dass dieser Text immer wieder von konkreten Personen und Institutionen und nicht nur von theoretischen Positionen und Forschungsergebnissen handeln wird. Dort wo die dargestellten Positionen und Diskussionen öffentlich dokumentiert sind, werden die jeweiligen Autoren2 und ihre Texte benannt. In Bezug auf informelle Stellungnahmen und Debatten wird hingegen das mögliche Höchstmaß an Anonymisierung gewahrt: In diesem Fall werden die Namen der Beteiligten nicht genannt und nur die für den Nachvollzug der Sachlage notwendigen Informationen geliefert. Das schließt nicht aus, dass für ‚Insider‘ der Debatte aufgrund dieser Informationen auch in solchen Fällen erschließbar ist, um welche Personen bzw. Institutionen und um welche Forschungszusammenhänge es jeweils geht. Für diesen Fall kann nur unterstrichen werden, dass es dem Text nicht in erster Linie um die Zuschreibung persönlicher oder institutioneller Verantwortlichkeiten geht, sondern die beschriebenen Fehlleistungen strukturelle Defizite des Integrationsdiskurses betreffen. Eine der Thesen des Textes besteht ja gerade darin, dass diese Defizite den Integrationsdiskurs personen- und institutionenübergreifend charakterisieren.

An und gegen wen richtet sich der Text?

Neben Motivation und Genre des Textes ist seine Zielgruppe zu klären: Welches sind die Akteure des genannten ‚Mainstreamintegrationsdiskurses‘, über die berichtet und mit denen gestritten werden soll, die also sowohl Objekte als auch Adressaten der nachfolgenden kritischen Überlegungen sind?

Aufgrund der unterschiedlichen Berufsfelder, in denen sich der Autor bewegt hat, reicht das Spektrum hierbei von Akteuren aus dem wissenschaftlich-akademischen Bereich über eher anwendungsorientierte Wissenschaftler bis hin zu publizistischen und politischen Diskutanten dieses Themas. Dabei wird davon ausgegangen, dass die beschriebenen und kritisierten argumentativen Muster und Umgangsformen mit wissenschaftlichen Forschungsergebnissen in all diesen Feldern der Beschäftigung mit der Thematik gleichermaßen auftreten3.

Dass solche Vorgehensweisen den Integrationsdiskurs zunehmend und hegemonial bestimmen, kann ein Essay wie dieser nicht zweifelsfrei belegen; dazu bedürfte es einer umfassenderen und bibliografisch vollständiger abgesicherten Studie. Der Text geht allerdings davon aus (und beansprucht, dies auch zu belegen), dass die kritisierten Vorgehensweisen in relevanten theoretischen Arbeiten zu Integrationsfragen und einflussreichen empirischen Studien zu diesem Thema immer wieder zu identifizieren sind. Gerade die Sichtung der neueren Literatur zum Thema hat darüber hinaus gezeigt, dass die kritisierten Argumentationsmuster in der Debatte über Integrationsfragen zunehmend an Gewicht gewinnen4. (Insbesondere für die jüngere Forschergeneration scheinen sie tatsächlich immer mehr den Charakter eines konsolidierten und insofern nicht mehr in Frage zu stellenden Basiswissens der Integrationsforschung anzunehmen.)

Persönlich hat der Autor schließlich die Erfahrung gemacht, dass in jeder Debatte zu Integrationsfragen, an denen er (in ganz unterschiedlichen institutionellen Kontexten) im Verlauf seiner Beschäftigung mit diesem Thema teilgenommen hat, früher oder später eine der kritisierten Vorgehensweisen (meist sogar in Kombination mit anderen) vehement und mit weitgehender Zustimmung des Publikums ins Gespräch gebracht worden ist.

Auf diesem Hintergrund spricht einiges für die Annahme, dass die kritisierten Argumentationsmuster sich im Mainstream der Integrationsdebatte etabliert haben (und dass sich dieser Prozess fortsetzen wird)5.

Was sind die zentralen Anliegen des Textes?

Im zweiten Motto des Essays ist das wesentliche Anliegen des Textes schon aus höchstberufenem Munde benannt: Gerade wegen der enormen emotionalen Besetzung und politischen Instrumentalisierung des Integrationsthemas bedarf es hierbei einer „rationalen, auf Fakten gestützten Debatte“6. Grundannahme des Essays ist, dass die zu diesem Thema in Deutschland geführte Debatte in dieser Hinsicht vieles zu wünschen übrig lässt. Dies gilt nicht nur für diejenigen, die „Ängste und Abwehrhaltungen“ gegenüber der zunehmenden ethnisch-kulturellen Pluralisierung der deutschen Gesellschaft zeigen, sondern immer wieder auch für diejenigen, die diese zunehmende Vielfalt akzeptieren oder sogar begrüßen. Und leider betrifft auch das erste Motto damit manche derer, die das wissenschaftliche Rüstzeug für eine solche akzeptierende Haltung bereitzustellen versuchen; eine zentrale These des Textes wird gerade darin bestehen, dass die vom Marxschen Diktum beschriebene Form der „Gemeinheit“ auch in diesem Personenkreis verbreitet ist.

Aufgrund der persönlichen Forschungserfahrungen des Autors richtet sich der Text ausschließlich auf und an letzteren Personenkreis und nicht auf und an diejenigen, die der wachsenden Multikulturalität der deutschen Gesellschaft abwehrend gegenüberstehen7. Wie hoffentlich an jeder Station des Textes klar werden wird, ist mit der an ersterer Gruppe geübten Kritik an keinem Punkt eine Zustimmung zu den Positionen des zweiten Personenkreises verbunden. Eine selektive und verfälschende Inanspruchnahme der präsentierten Argumente durch fremdenfeindliche und rechtspopulistische Positionen ist allerdings kaum auszuschließen, kann nach Meinung des Autors aber keinen Grund dafür darstellen, sie aus der Debatte auszuklammern.

Das wesentliche Anliegen des Textes besteht darin, durch die Offenlegung und Kritik theoretisch und empirisch nicht haltbarer und dogmatisch verfestigter Annahmen in Bezug auf das Zusammenleben von Gruppen mit unterschiedlicher ethnisch-kultureller Herkunft zu der erforderlichen rationalen und empirisch fundierten Debatte beizutragen. Der Text besitzt also in erster Linie kein ‚politisches‘ Anliegen, sondern wird sich ausschließlich am Leitwert der ‚Wahrheit‘ (verstanden als logische Stimmigkeit und empirische Triftigkeit) orientieren. Im Hintergrund steht allerdings die Annahme, dass ein weniger ‚ideologisch‘ geprägter Umgang mit dem Integrationsthema es auch ermöglichen könnte, falsche politische Frontstellungen aufzuweichen, und insofern auch im politischen Bereich zu einem rationaleren Umgang mit dem Thema beitragen könnte. Diese Annahme betrifft auch die politische Wirksamkeit rationaler Argumente und empirischer Befunde zu Schwierigkeiten im Integrationsprozess in Bezug auf die o.g. fremdenfeindlichen und rechtspopulistischen Positionen: Es wird davon ausgegangen, dass eine argumentativ unstimmige, vereinseitigende und beschönigende Präsentation solcher Befunde auf lange Sicht keineswegs zu einer Schwächung solcher Positionen führt, sondern sie tatsächlich sogar stärkt, indem sie ihrer Kritik am Mainstream der Integrationsdebatte ein Stück weit an Legitimität verschafft.

Der Text wird sachlich weitgehend um zwei Fragestellungen kreisen, die aber im kritisierten Integrationsdiskurs durchaus in einem systematischen Zusammenhang stehen:

 Zum einen geht es um die Frage der Relevanz, die ethnisch-kulturellen Unterschieden und Gemeinsamkeiten für die Beziehung von Gruppen mit unterschiedlicher ethnisch-kultureller Herkunft zukommt. Dabei wird davon ausgegangen, dass die hierbei diagnostizierten Fehlschlüsse, Paradoxien und Dogmen auch damit zusammenhängen, dass die Soziologie – als zentrale Bezugswissenschaft für die Beschäftigung mit diesem Thema – die Relevanz ethnisch-kultureller Einflussfaktoren für die Erklärung der Beziehungen zwischen sozialen Gruppen immer wieder grundsätzlich in Frage gestellt hat8. Größerer Einfluss wird der ‚Verminung‘ dieses Feldes in der deutschen Debatte zugeschrieben werden, wie sie sich aus der spezifischen Inanspruchnahme rassistischer Argumentationsmuster und Praktiken in den dunkelsten Zeiten der deutschen Geschichte ergeben hat.

 Zum anderen wird sich der Text mit den argumentativ fehlerhaften und häufig ideologisch motivierten Annahmen zur Beziehung zwischen Mehrheitsgesellschaft und Minderheitengruppen in der Integrationsdebatte und deren Folgen für eine verzerrte und manchmal sogar die Tatsachen verfälschende Wahrnehmung dieser Beziehung befassen.

Insgesamt soll zwar diese kritische Intention im Vordergrund stehen; anknüpfend an den Aufweis, wie das jeweils anstehende Thema sinnvollerwiese n i c h t angegangen werden sollte, wird der Text aber auch konzeptionelle und forschungsstrategische Hinweise dazu geben, in welche Richtung eine angemessenere Behand-

lung des Themas anzugehen wäre. Schließlich sollen zumindestpunktuell auch offene Fragen formuliert werden, die im Rahmen eines solchen alternativen Zugangs zum Thema vertiefend zu behandeln wären.

1 Die Literaturbelege für die formulierten Thesen werden von daher nur exemplarisch sein und kein vollständiges Bild der Literaturlage zu der jeweiligen These liefern. Genauso wenig können einzelne Argumentationsstränge innerhalb der inzwischen unüberschaubar gewordenen Literatur zum Thema systematisch nachgezeichnet werden.

2 Zur besseren Lesbarkeit des Textes wird hier und im Folgenden ausschließlich die männliche Form der Personenbezeichnungen verwendet. Weibliche und anderweitige Geschlechteridentitäten sind dabei ausdrücklich mitgemeint.

3 Die im Folgenden kritisierten Positionen finden sich inzwischen unter dem Titel einer ‚reflexiven Migrationsforschung‘ versammelt. Siehe hierzu Nieswand/Drotbohm 2014. Der vorliegende Text zielt demnach auf eine Metareflexion dieses Gesamtprogramms.

4 Für einen breiter angelegten Zugang zu Migrations- und Integrationsfragen in Deutschland siehe zum Beispiel Bertelsmann Stiftung 2014. Im Folgenden werden sowohl typische Beispiele für die Verwendung der kritisierten Argumentationsmuster als auch über diese hinausweisende Ansätze benannt.

5 Erheblichen Einfluss auf diesen Prozess wird voraussichtlich der im Januar 2021 veröffentlichte Bericht der Fachkommission der Bundesregierung zu den Rahmenbedingungen der Integrationsfähigkeit nehmen. Nicht nur aufgrund des Auftragsgebers dieses Berichts, sondern auch durch die breite und kompetente Zusammensetzung dieser Kommission werden seine analytischen und politisch-normativen Stellungnahmen zu den Bedingungen und Perspektiven von Integration die weitere Debatte in Deutschland mit Sicherheit stark mitbestimmen – ähnlich wie das seinerzeit (2001) der Bericht der sogenannten Süssmuth-Kommission für die nachfolgende Debatte (und Gesetzgebung) zu Integrationsfragen getan hat. – Aufgrund der im Januar 2021 anstehenden Drucklegung des vorliegenden Textes konnte dieser Bericht hier nicht mehr systematisch berücksichtigt werden und wird nur punktuell herangezogen werden. Obwohl sich dabei zeigen wird, dass der Bericht immer wieder die im Folgenden kritisierten Argumentationsmuster auch teilt, ist davon auszugehen, dass er insgesamt zu einer Versachlichung und größeren Differenziertheit der Debatte beitragen wird.

6 Als Plädoyer für einen faktenbasierten Bezug auf die Welt und zu dessen Relevanz für einen angemessenen politischen Umgang mit sozialen Problemen siehe Rosling et al. 2020.

7 Als Text, der eine vergleichbare ‚versachlichende‘ Motivation in Bezug auf dieses Segment der Integrationsdebatte und seine im Vergleich zu den im Folgenden kritisierten Einseitigkeiten und Verfälschungen deutlich massiveren ‚Mythenbildungen‘ besitzt, siehe Haller 2019.

8 Zu diesem „Versagen der Soziologie“ siehe beispielsweise und für die soziologische Debatte in Deutschland einflussreich Hondrich 1992.

But people depend on community in ways that go beyond … economic and security benefits. They need a common culture and particularly a common language even to have personalities, … we can only have the thoughts, and ambitions, and convictions that are possible within the vocabulary that language and culture provide, so we are all, in a patent and deep way, the creatures of the community as a whole.

(Ronald Dworkin 1989: 488)

I. Does culture matter?1 Dogmen, Paradoxien und Fehlschlüsse der Kulturalismuskritik

Nicht überraschenderweise stellt die Relevanz herkunftsbestimmter kultureller Unterschiede zwischen Gruppen mit unterschiedlicher ethnisch-nationaler Herkunft eine der Grundfragen in der Beschäftigung mit den Beziehungen zwischen solchen Gruppen (und somit auch für die Integrationsperspektiven zwischen ihnen) dar. Häufig wird die Beantwortung dieser Grundfrage in paradoxer Form vorgenommen oder wird dieses auf den ersten Blick wesentliche Element des Zusammenlebens solcher Gruppen auf Basis unterschiedlicher Fehlschlüsse in seiner Bedeutung relativiert, wenn nicht gar geleugnet.

Interkulturelle Belange ohne Kultur?

Der Autor war lange Zeit in einer nordrhein-westfälischen Großstadt für seine Abteilung in der Verwaltung dieser Stadt als eine Art ‚Ombudsmann für interkulturelle Angelegenheiten‘ tätig. Diese institutionelle Figur ist vermutlich einzigartig in der kommunalen Landschaft der Bundesrepublik; ihre Aufgabe besteht darin, in den Ämtern und Abteilungen der Stadtverwaltung als Ansprechpartner für Missverständnisse, Probleme und Konflikte zur Verfügung zu stehen, die sich zwischen Mitarbeitern oder zwischen ihnen und der jeweiligen Leitung aus ihrer unterschiedlichen kulturellen Herkunft ergeben.

Zur Wahrnehmung dieser Funktion gehört ein regelmäßiger Austausch zwischen diesen ‚Ombudsmännern‘ (die tatsächlich doch häufiger ‚Ombudsfrauen‘ waren) zu entsprechenden Erfahrungen in ihren Ämtern und Abteilungen und zu sozialen, politischen, rechtlichen und kulturellen Fragen, die das Zusammenleben unterschiedlicher Herkunftsgruppen im Allgemeinen betreffen. Daraus ist im Laufe der Jahre ein intensiver, weitgefächerter und fruchtbarer Austausch über solche Fragen entstanden.

Ein keineswegs marginales Thema für diesen Arbeitskontext hat dabei über die Jahre hinweg immer wieder zu ‚Schlagabtäuschen‘ und einer für den Autor höchst unbefriedigenden Dynamik geführt, nämlich die Rolle, die kulturellen Differenzen für die Beziehung zwischen unterschiedlichen Herkunftsgruppen zuzuschreiben ist.

Solange sich die Auseinandersetzung um konkrete Probleme des Zusammen-, Nebeneinander- oder Gegeneinanderhandelns von Beschäftigten drehte, wie sie aus ihrem unterschiedlichen ethnisch-kulturellen Hintergrund hervorgehen, erbrachte die Diskussion regelmäßig interessante Hinweise für ein besseres Verständnis der zugrunde liegenden Beziehungsmuster. Sobald die Debatte sich von da aus aber der grundsätzlichen Bedeutung eines solchen Hintergrunds für die Einstellungen und das Verhalten der Betroffenen zuwandte, nahm die Diskussion regelmäßig eine für den Autor überraschende Wende: Auf dieser programmatischen Ebene wurde die Relevanz ethnisch-kultureller Differenzen für unterschiedliches und immer wieder auch konflikthaftes Handeln (und in der Folge auch die Sinnhaftigkeit einer begrifflichen Unterscheidung und Datenerhebung entlang solcher Differenzen) vehement in Frage gestellt. Auf dieser Ebene wurden dann eher andersartige soziale oder betriebsbedingte Hintergründe für die existierenden Probleme und Konflikte verantwortlich gemacht.

Die über Jahre immer wieder aufgeworfene Frage an einen solchen Konsens, worauf unter diesen Voraussetzungen die Legitimation unserer Aufgabe als interkulturelle Ombudspersonen beruht, hat zwar regelmäßig kurzfristige Irritationen erzeugt, aber in keinem Fall zu einer ernsthaften Infragestellung dieses Konsenses geführt. Weitergehend diskutiert wurde diese Frage nie, obwohl sie die Grundfesten der eigenen Arbeit betraf; regelmäßig wurde hingegen im Anschluss an solche Irritationen zur Tagesordnung übergegangen und bei nächster Gelegenheit der offensichtlich nicht im Geringsten erschütterte Konsens mit derselben Selbstverständlichkeit propagiert2.

Nun ist es so, dass der Autor irgendwann dieses Thema von sich aus auch nicht mehr auf die Tagesordnung gesetzt, sondern ‚geschwiegen‘ hat, was zum Teil mit Intuitionen und Befürchtungen hinsichtlich einer zunehmenden Außenseiterposition in der Gruppe zu tun hatte. Ob solche Gefühle und Ängste realitätsangemessen waren, ließ sich aufgrund seines ‚Schweigens‘ nicht definitiv überprüfen.

Der Sache nach deuten sich hier schon zwei ‚Anomalien‘ des Integrationsdiskurses an, die im Weiteren an Beispielen aus der empirischen Forschung und theoretischen Diskussion verdeutlicht und konkretisiert werden sollen:

 zunächst die ‚paradoxe‘ Grundstruktur des Umgangs mit kultureller Differenz: In einem ersten Schritt wird hierbei ethnisch-kulturelle Differenz – als Anlass für vermittelnde

Interventionen und sogar die Schaffung einer institutionellen Figur – als konstitutiv für das eigene Handeln und Denken unterstellt; im zweiten Schritt führt die argumentative Umsetzung dieses Anliegens dazu, die Relevanz eines solchen grundlegenden Elements zu relativieren oder gar vollständig in Frage zu stellen – und sich damit in gewisser Weise den Ast abzusägen, auf dem man sitzt.

 dann der ‚dogmatische‘ Umgang mit den entsprechenden ‚dekonstruierenden‘ Annahmen: Sicherlich kann man die vorgestellte These der Nicht-Existenz bzw. Irrelevanz von kulturellen Unterschieden vertreten, und im Weiteren wird deutlich werden, dass die These, wenn auch in raffinierterer Form, weitverbreitet in der Integrationsdebatte ist. Und natürlich ist es auch durchaus legitim, an seinen entsprechenden Überzeugungen trotz ihrer kritischen Infragestellung festzuhalten. Keineswegs nachvollziehbar ist aber, dass eine solche Infragestellung in keinem Fall (und dies über die Jahre hinweg) zu einer ernsthaften Befassung mit den kritischen Argumenten geführt hat, sondern eher von einer schon fast gebetsmühlenartigen Wiederholung der kritisierten Überzeugungen begleitet war. An die Stelle des Eintritts in einen ergebnisoffenen Diskurs tritt so die hartnäckige und fortgesetzte Weigerung, die eigene Position gegenüber kritischen Argumenten und Daten in Frage zu stellen – und das ganz unabhängig von der Stimmigkeit der Argumente und der Triftigkeit der Daten.

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Возрастное ограничение:
0+
Дата выхода на Литрес:
25 мая 2021
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160 стр. 1 иллюстрация
ISBN:
9783838275277
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Правообладатель:
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