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Читать книгу: «Gemeinsam einsam durch die Welt», страница 5

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Blumenmädchen

Juni 1998

Mein gesamter Körper tut unbeschreiblich weh. So lange musste ich bis jetzt definitiv noch nie still sitzen. Nach einem Zwischenstopp in London und zwei etlichen lang Flügen kommen wir am Indira Gandhi International Airport an. Indien. Unser nächstes Reiseziel. Ein Land, in das ich schon immer einmal reisen wollte. Meine Oma hat mir früher, als ich kleiner war, immer viele Geschichten aus Indien erzählt. Manchmal saß sie abends an meinem Bett und hat mir noch ein bisschen von ihren Abenteuern erzählt. Ich kann mich gut an ihre Worte erinnern, auch wenn diese Gutenachtgeschichten schon Jahre her sind.

„Ach, Liebes. Es gibt so viele wunderschöne Orte auf der Welt. Man sollte niemals seine Zeit verschwenden und sein Leben nur an einem Ort verbringen. Diese Menschen verpassen die bezaubernde vielfältige Welt.“ Sie fing meistens mit diesen Sätzen an. Damals habe ich noch nicht ganz verstehen können, was sie damit meint. Jetzt, nachdem sie gestorben ist und ich dabei bin, ihre Lieblingsorte zu besuchen, verstehe ich langsam, was sie mit diesen Worten sagen wollte. Oft hat sie von der Vielfältigkeit Indiens erzählt, von den bunten Straßen, den Elefanten und dem scharfen Essen geschwärmt und auch die bedrückende Armut erwähnt. Mit großen Augen habe ich sie als Kind angeschaut und ihr fasziniert zugehört. Ich bin gespannt, wie Indien jetzt ist, wenn ich das Land nun mit eigenen Augen sehe.

Wir laufen die langen Gänge des Flughafens entlang. Eigentlich folgen wir nur den Menschenmassen, die mit uns aus dem Flugzeug geströmt sind. Irgendjemand wird schon wissen, wohin wir müssen. Ich bin sehr froh, dass die ausgehängten Schilder nicht nur auf Indisch sind, sondern auch alles auf Englisch darunter steht. Indisch kann ich leider genauso wenig sprechen wie Isländisch.

Nachdem wir unsere Koffer gefunden haben, gehen wir lange Zeit durch die Eingangshalle und bleiben alle zwei Sekunden stehen, da jemand vor uns zum Stehen kommt. Es ist so unfassbar überfüllt hier. Ich kann nicht mehr und will auch nicht mehr. Der Flug war schon total anstrengend, da mindestens drei kleine Kinder um uns herumsaßen, die nicht damit einverstanden waren, was ihre Eltern wollten. Auch irgendwie verständlich. Wer will schon als kleines Kind das machen, was die doofen Eltern wollen? Also haben sie durchgängig geschrien. Mein Kopf dröhnt noch immer davon. Und jetzt geht es nicht voran, da viel zu viele Menschen unterwegs sind. Ich kann die ersten Eindrücke von Indien überhaupt nicht genießen und auch nicht wirklich wahrnehmen. Ich will einfach nur noch in unser Hotel.

* * *

Die ersten gesammelten Eindrücke von Indien sind irgendwie nicht wirklich positiv. Es ist eine unglaublich erdrückende Hitze hier. Kilian und ich sitzen nebeneinander im Taxi und ich starre schwitzend aus dem Fenster. Wir verlassen das Flughafengelände und schon kurze Zeit später bemerkte ich, dass die Verkehrsregeln hier nicht die gleichen sind wie bei uns in Deutschland. Auf den Straßen hier herrscht einfach nur ein unglaubliches Chaos. Ich habe das Gefühl, dass jeder fährt, wie er will, und jedes Auto alle drei Sekunden hupt.

Außerdem herrscht eine unfassbare Lautstärke. Meine Kopfschmerzen werden dadurch nicht wirklich gelindert. Grundsätzlich gilt, dass Lastwagen und die Autos, die die größten Hupen haben, Vorfahrt haben. Auch fahren auf zwei Fahrstreifen irgendwie nicht nur zwei Autos, sondern manchmal auch drei Autos. Haben die Leute hier schon einmal etwas von Verkehrsregeln gehört? Gleich nachdem ich mir diese Frage gestellt habe, könnte ich mir schon wieder an den Kopf greifen. Wieso sitzen da vier Personen auf einem Motorrad? Was ist nur los mit diesen Menschen? Indien wäre definitiv kein geeigneter Wohnort für mich. Ich brauche Ordnung in meinem Leben. Und wenn ich mir diese Straßen anschaue, wissen die Menschen wahrscheinlich nicht einmal, dass das Wort Ordnung existiert.

Wir verlassen die großen Straßen und biegen in eine kleinere Seitengasse ein. Es ist nicht mehr weit bis zu unserem Hotel. Ich beobachte die Menschen, die auf den Gehwegen unterwegs sind. Viele liegen am Straßenrand. Schon jetzt bemerke ich, was meine Oma mit der bedrückenden Armut meinte. Nicht nur Erwachsene liegen auf den Wegen, sondern auch kleine Kinder – eingerollt in schmutzigen Decken. Ich muss schlucken. Es ist erschlagend, wie die Menschen hier leben. Doch auch wenn es noch so erschütternd ist, dass die Menschen hier in einer solchen Armut leben müssen, habe ich den Eindruck, dass sie trotzdem stolz und glücklich aussehen. Sie laufen aufrecht und mit Würde durch die Straßen und sehen nicht sonderlich bekümmert aus, dass sie eigentlich nichts haben. Das beeindruckt mich sehr.

Weiter vorne kann ich eine Kuh erkennen, die mitten auf der Straße steht. Wieso steht dort eine Kuh auf der Straße? Es ist so ein kleiner Spalt zwischen Lachen und Weinen. Lachen, weil dieses verwirrende Chaos schon manchmal lustig aussieht, und Weinen, weil diese Armut einen extrem schafft.

Ein paar Hundert Meter weiter hält das Taxi und wir steigen aus dem Auto. Unser Hotel ist ungefähr fünf Meter entfernt. Ich schaue mich um. Es stehen noch zwei weitere Taxis vor unserem Hotel, die ebenfalls Leute aus dem Auto lassen. Ein kleiner Junge kommt auf uns zu gerannt. Er trägt eine kurze Hose und ein T-Shirt. Schuhe hat er nicht an. Seine Sachen sind staubig. Ich schätze, dass er vielleicht sieben Jahre alt ist. Er grinst über das ganze Gesicht und fragt uns etwas. Der kleine Kerl ist wirklich süß. Ich wünschte, ich könnte ihn verstehen. Ich versuche, ihm klarzumachen, dass ich ihn nicht verstehen kann. Auch Kilian schaut ihn fragend an.

Der Junge legt seine Hand auf seine Brust und sagt: „Bodhi.“

Ich verstehe. Sein Name. Ich zeige erst auf mich und sage ihm langsam und deutlich meinen Namen, dann mache ich das Gleiche mit Kilian. Nachdenklich nickt der Junge und wiederholt unsere Namen. Er spricht sie lustig aus, aber im Groben stimmen sie. Er deutet hinter sich und ich versuche, seinem Finger zu folgen. Er zeigt auf eine kleine Gruppe von Kindern, die um einen Ball herumstehen. Wahrscheinlich wollen sie, dass wir mit ihnen spielen. Wie gerne ich ihm diesen Gefallen machen würde, doch ich bin so geschafft. Ich muss dringend in mein Bett. Ich zeige auf unser Hotel und die Koffer und erkläre ihm auf Englisch, dass wir erst einmal unsere Sachen auspacken müssen. Ich bezweifle, dass er mich versteht, doch er lächelt mich immer noch an, winkt uns und geht zurück zu seinen Freunden. Putziger Kerl.

Auch hier am Hotel liegen Menschen am Straßenrand. Wir müssen über einen Mann steigen, der den Weg zum Eingang versperrt. Ich schaue ihm ins Gesicht. Er hat die Augen geschlossen und seine Haare sind verfilzt. In seinem Gesicht ist nichts als Dreck. Er hat weder eine Decke noch sonst irgendetwas um sich herum. Ich schaue zu Kilian, der ebenfalls stehen geblieben ist. „Ich hoffe, er schläft einfach nur“, meint er nachdenklich und geht weiter. Darüber habe ich bis jetzt gar nicht nachgedacht. Ein Schauer geht mir über den Rücken. Was ist, wenn diese Menschen nicht nur schlafen, sondern nicht mehr leben und sie einfach niemand weggeschafft hat? Die Vorstellung ist grausam. Ich versuche, sie schnell aus meinem Kopf zu bekommen, doch so ganz funktioniert das nicht. Meine Knie sind weich geworden und ich schwanke etwas, als ich meinen Koffer weiter hinter mir herziehe und Kilian nachtrotte. Mein erster Eindruck: Indien ist grausam.

* * *

„Hör auf, mir zu sagen, dass ich süß bin! Das ist alles andere als hilfreich bei dem Versuch, mich nicht in dich zu verlieben.“ Ich höre nur die Worte aus meinem Mund kommen. Habe ich das gerade wirklich gesagt? Ich stocke. Dann werde ich verdammt rot. Kilian schaut mich grinsend an. Dieses Grinsen macht mich wahnsinnig. Ich habe meinen rosa Schlafanzug, der mit vielen Schafen bedruckt ist, angezogen und meine Haare nach oben gesteckt. Als Kilian mich so gesehen hat, meinte er lachend, dass ich total süß aussehen würde. Und dann sind die Wörter einfach so aus meinem Mund gekommen. Wie peinlich! Ich habe das Gefühl, dass ich von Sekunde zu Sekunde röter werde.

„Warum versuchst du denn, zu verhindern, dich in mich zu verlieben, wenn ich fragen darf?“

Nein, das darf er nicht fragen! Oh verdammt, aus der Nummer komme ich nicht mehr heraus. Was soll ich ihm denn jetzt bitte antworten? Ich habe Besseres zu tun, als mich jetzt in einen Chaoten zu verlieben. Ich brauche keinen Freund. Nach dieser Reise gehen wir eh wieder getrennte Wege. Ich beschließe, einfach gar nichts zu sagen.

„Das muss dir nicht peinlich sein. Ich finde dich auch ganz nett“, sagt er lachend.

„Ganz nett?!“, frage ich perplex. Bitte?! Nur ganz nett? Na danke, gleichfalls.

„Na ja, wenn du vielleicht nicht immer ganz so viel reden würdest und öfter so rosa Schafschlafanzüge anziehen würdest, wärst du mir gleich noch viel sympathischer.“

Sein Ernst? Ich drehe mich schmollend von ihm weg. Das kann ich jetzt nicht auf mir sitzen lassen.

„Och, Alicia“, meint er immer noch lachend und kommt auf mich zu. Er dreht mich zu sich herum und umarmt mich. Warum zur Hölle umarmt er mich? Komm schon! Ich will mich nicht in ihn verlieben! Stopp! Diese Nachricht geht an mein Herz: Halt! Stopp! Nicht verlieben!

„Ich gehe jetzt schlafen“, sage ich trocken. Mittlerweile könnte ich zwar auch darüber lachen, dass ich das gesagt habe, aber ich schmolle lieber ein bisschen. Ich gehe zu meinem Bett und will mich gerade hinsetzen, da meint Kilian nur mit hochgezogenen Augenbrauen: „Wie? Du gehst in deinem Bett schlafen? Kommst du nicht kuscheln? Ehekrise!“

Ich muss lachen und ziehe die Decke über meinen Kopf, damit er nicht sieht, dass ich schon wieder rot werde. Ich mag diesen Jungen. Warum auch immer. Und ich weiß genau, dass ich es leider nicht mehr verhindern kann, ihn immer mehr zu mögen. Ich schlafe ein – mit den Gedanken bei Kilian und nicht mehr mit den schrecklichen ersten Eindrücken und Bildern von Indien.

* * *

Wir betreten die Straße. Es ist eigentlich noch total früh, aber es ist trotzdem schon unfassbar warm. Kilian setzt sich seine Sonnenbrille auf. Er sieht verdammt gut aus. Er trägt ein enges T-Shirt und man kann seine Armmuskeln sehr gut erkennen. Ein Kind kommt auf uns zu. Ich erkenne es sofort. Es ist Bodhi. Er lacht uns an und weiß, warum auch immer, unsere Namen noch, die er uns zugleich nennt. Er fasst Kilian bei der Hand und zieht ihn hinter sich her. Ich folge den beiden lachend. Bodhi nimmt uns mit zu den anderen Kindern und fordert Kilian auf, mit ihnen Fußball zu spielen. Erst jetzt fällt mir auf, dass alle diese Kinder ein unfassbar schönes Lachen haben. Eins schöner als das andere. Ich beobachte Kilian. Er kickt den Ball zu einem kleinen Mädchen und freut sich, als sie den Ball annimmt und weiterspielt. Sie kicken den Ball ein paarmal hin und her, dann wird es Kilian wahrscheinlich zu langweilig und seine Fußballkünste lassen kurzzeitig nach. Bodhi schnappt sich den Ball und läuft grinsend an Kilian vorbei. Kilian lässt sich dies allerdings nicht gefallen und hebt Bodhi hoch, der sofort aufkreischt und lacht. Mit Bodhi auf dem Arm rennt Kilian dem Ball hinterher und schießt ihn zwischen zwei Blechdosen, die das Tor darstellen sollen. Er setzt Bodhi wieder auf seine Füße und reißt die Arme in die Luft. Ich muss lächeln. Es ist unfassbar süß, wie Kilian mit den kleinen Kindern umgeht. Er wird später mal ein guter Vater werden. Da bin ich mir sicher.

* * *

„So, wir befinden uns in Neu-Delhi, der Hauptstadt von Indien. Jetzt gleich betreten wir den Chandni Chowk. Übersetzt heißt das Mondlichtplatz.“

„Habe ich eine Stadtführung gebucht, oder was?“

„Wenn du mich dabeihast, hast du immer zugleich eine Stadtführung gebucht“, sage ich grinsend.

Er greift sich an den Kopf und lacht. Es sieht aus, als würde er sich fragen, wieso er mit auf diese Reise gekommen ist. Tja, Pech gehabt.

Wir laufen auf den Mondlichtplatz. Ich mag die deutsche Übersetzung von Chandni Chowk irgendwie. Man denkt, es sei ein ruhiger, friedlicher, romantischer Platz, doch der Chandni Chowk ist so ziemlich das Gegenteil davon. Er ist typisch indisch. Selbst auf dem Flughafengelände waren weniger Menschen als hier – und das will was heißen. Ein unglaublich reges Treiben an Leuten. Einige Männer fahren langsam mit Mofas an uns vorbei. Ich kann schon wieder Kühe erkennen, die auf der Straße stehen. Der Mondlichtplatz ist überfüllt. Definitiv. Das war auch irgendwie zu erwarten. Es ist Wochenende und unglaubliches Wetter. Die Sonne prallt auf uns. Es ist schon fast zu warm. Es brennt richtig auf der Haut. Vielleicht hätte ich mich heute Morgen doch lieber eincremen sollen. Einen Sonnenbrand kann ich jetzt nicht gebrauchen.

Rechts und links von uns kann ich viele Buden und Stände erkennen. Schon gleich bemerke ich, dass fast jeder hier dir etwas verkaufen möchte. Ich verstehe kein Wort von dem, was die Verkäufer erzählen und über den riesigen Basar schreien, aber es wird sehr deutlich, dass sie uns etwas andrehen wollen. An ein paar Buden ist Essen aufeinandergestapelt. Äpfel, Orangen, Mandarinen und viel Obst, das ich noch nie in meinem Leben gesehen habe, ist in Pyramidenform auf Tischen gestapelt.

Kilian und ich kommen überhaupt nicht dazu, uns zu unterhalten, da wir so beschäftigt damit sind, alle Eindrücke wahrzunehmen. Wir kommen an Buden vorbei, bei denen Gewürze verkauft werden. Ich atme tief ein. Auch wenn ich wahrscheinlich gerade einhundert verschiedene Gewürze eingeatmet habe, genieße ich den Duft. Genauso habe ich mir Indien vorgestellt. Kilian rümpft die Nase. Ich muss lachen, doch ich kann ihn verstehen. Es riecht ein wenig gewöhnungsbedürftig, wenn man sich nicht nur auf die Gewürze konzentriert, da auch noch der Schweiß von all den Menschen und die Abgase der Motorräder in der Luft liegen.

Ich habe das Gefühl, dass man hier wirklich alles kaufen kann. Es gibt Massen an Essen, Gewürzen, Kerzen, Büchern, Klamotten. Wirklich alles. Wenn man etwas sucht, findet man es definitiv hier auf dem Chandni Chowk. Dieser Basar ist wirklich beeindruckend.

Oft tauchen Abzweigungen auf, bei denen man in kleine Seitengassen einbiegen kann. Ich habe gelesen, dass man in vielen kleinen Gassen essen gehen kann. Wir müssen später dringend noch indisch essen. Das wollte ich schon immer einmal machen.

AHHHHHH!!! Was war das?! Ich schreie erschrocken auf. Irgendetwas klettert gerade auf meinen Schultern herum. Es fühlt sich total merkwürdig an. Kilian lacht sich gerade neben mir halb tot. Sehr witzig.

„Was genau ist das?“

„Ein Affe“, bekommt Kilian gerade so über die Lippen. Er kann sich nicht mehr halten vor Lachen.

Na toll. Ein Affe sitzt auf mir. Wo zum Teufel kommt jetzt ein Affe her? Er spielt mit meinen Haaren herum. Ich habe gelesen, dass Affen hier in Indien so ziemlich das machen, was sie wollen, und einen überrumpeln, aber ich habe in diesem Moment definitiv nicht damit gerechnet. Der Affe springt auf Kilians Schulter und genießt die Aussicht. Jetzt kann ich ihn auch endlich sehen. Es ist schon ein süßer kleiner Kerl. Als es dem Affen zu langweilig wird, springt er von Kilians Schulter und wir können endlich weiter.

Wir laufen an einem Fluss vorbei. Ich schätze, es ist der Fluss Yamuna. Viele Frauen – und auch ein paar Männer – stehen mitsamt ihren Klamotten im Fluss und waschen sich.

Kilian schaut mich verwirrt an. „Wieso gehen die alle mit ihren Sachen baden?“

„Der Fluss heißt Yamuna und ist ein Nebenfluss des Ganges’. Die Leute hier denken, dass das Wasser heilig ist und ihre Sünden begleicht. Sie beten zu der Göttin Ganga Mata, waschen sich mit dem Wasser, lassen Blumen und Kerzen in dem Fluss schwimmen und nehmen es auch teilweise mit nach Hause.“

Kilian nickt verständnisvoll, aber schaut die Leute immer noch skeptisch an.

Wir biegen in eine kleine Gasse ein, die sich Paratha Wali Gali nennt. Der Name klingt schon lustig. Unfassbar viele Restaurants befinden sich hier. Wir gehen in das erstbeste Restaurant hinein, da wir keinen blassen Schimmer haben, welches von diesen gut und welches weniger gut ist. Die Angestellten hier sind wahrscheinlich viele Touristen gewöhnt, da wir uns mit ihnen auf Englisch verständigen können. Ein junger Mann berät uns. Wir bestellen uns, nach seinen Ratschlägen, etwas, dass sich Thali nennt. Schon nach ein paar Minuten bekommen wir Chai gebracht. Der junge Mann erklärt uns, dass das eine Art süßer Tee ist. Ich nippe an der Tasse. Es schmeckt wundervoll. Trotz der Hitze macht einem der warme Tee nichts aus. Der Mann verschwindet wieder in der Küche und kommt kurze Zeit später mit einem Aluminiumtablett, auf dem viele kleine Metallschalen stehen, wieder. Ein anderer Mann folgt ihm und stellt uns Teller hin. Ich schätze, dass es Fladenbrot ist, was darauf liegt. Er zeigt auf das Brot und sagt lächelnd: „Chapati.“ Ich vermute, dass das der Name des Fladenbrots ist. Wir bedanken uns und er verschwindet wieder. Der junge Mann, der uns beraten hat, stellt das Aluminiumtablett in die Mitte des Tisches. In den kleinen Schüsseln befinden sich die verschiedensten Dinge. Currys, Gemüse, Linsenbrei, Joghurt, Reis, Fleisch und noch vieles mehr. Wir beschließen, dass wir uns einfach durchtesten. Es schmeckt unfassbar gut, jedoch müssen wir sehr oft husten, da das Essen wirklich scharf ist.

„Das wusste selbst ich: Indisches Essen ist scharf!“, meint Kilian, der kurz zuvor wieder einmal gehustet hat, da das Curry so scharf war. Damit hat er wohl recht.

* * *

Vor ein paar Tagen sind wir mit Bus und Taxi von Neu-Delhi nach Agra gefahren. Es war eine lange und ätzende Fahrt mit dem Bus. Ich glaube, es waren knapp vier Stunden. Normalerweise schaue ich bei langen Autofahrten immer aus dem Fenster, doch das fiel mir nicht leicht. Egal, wo du dich befindest, du siehst immer die schreckliche Armut. So viele Leute liegen bei dieser drückenden Hitze auf den Gehwegen. Kinder haben schwere Lasten auf den Schultern, die sie umherschleppen. Ich würde es Kinderarbeit nennen. Mein Herz zieht sich zusammen, wenn ich solche Bilder sehe. Der Gedanke, dass ich nichts für diese Leute tun kann, bricht mir das Herz. Immer wieder habe ich versucht, doch noch einen Blick aus dem Fenster zu werfen. Und jedes Mal wurde ich enttäuscht. Ich habe wieder arme, verletzte Menschen gesehen, die Hilfe benötigen, oder traurige Kinder, die arbeiten müssen. Mein Körper fühlte sich taub an. Als würde mein Herz mit Seilen zusammengeschnürt werden. Ich konnte nichts anderes tun, als wegzuschauen. Eigentlich ist genau das die falsche Handlung. Eigentlich sollte man hinsehen und eben nicht wegsehen. Man sollte etwas dagegen tun. Begreifen, wie es den Menschen hier geht, und ihnen verdammt noch mal helfen. Was ist eigentlich so schwer daran? Es gibt so viele Menschen, die viel zu viel Geld haben, aber zu geizig sind, um etwas davon abzugeben. Anstatt zu helfen, wollen sie nur noch mehr. Doch das hilft der Welt nicht weiter.

Es ist schon fast komisch, jetzt vor etwas so Schönem zu stehen. Die Kontraste in Indien sind enorm. Von einer grauenhaften Welt zu einer bildschönen Welt in nur zwei Sekunden. Je nachdem, in welche Richtung man gerade schaut. Wir befinden uns vor dem Taj Mahal. Bewaffnete Männer stehen überall an den Seiten und schauen starr geradeaus. Ich blicke schnell weg von ihnen. Irgendwie sind sie angsteinflößend. Das Taj Mahal ist ein unglaublich beeindruckender Bau. Ich komme aus dem Staunen nicht mehr heraus.

„Und? Wo bleibt mein sprechendes Lexikon? Was weißt du über das Taj Mahal?“

Ich muss lachen. Wie schafft dieser Junge es nur, mich immer wieder zum Lachen zu bringen?

„Also gut. Das Taj Mahal ist ein Denkmal der Liebe. Um genau zu sein, ist es ein Grabmal. Der Großmogul Shah Jahan ließ es für seine Frau bauen, die bei der Geburt ihres 14. Kindes starb. Es wurde per Menschenhand gebaut und ist ein Monument der ewigen Liebe.“

Das Taj Mahal sieht aus wie auf all den Bildern, die man zuvor schon oft gesehen hat – und trotzdem erschlägt diese Schönheit einen komplett. Es ist total eindrucksvoll und meiner Meinung nach sollte man es als Weltwunder ansehen.

Schweigend laufen Kilian und ich die meiste Zeit nebeneinander her und bewundern das Bauwerk. Wir sind wohl beide sprachlos. Nach etwa einer Stunde haben wir uns alles angeschaut und sind auf dem Rückweg.

„Ich habe das Gefühl, dass an diesem Ort die Magie der Liebe festgehalten wurde. Sie wurde damals mit hier eingebaut und man spürt sie heute noch. Es ist total faszinierend. Wenn man die Hintergrundgeschichte kennt, warum das Bauwerk erbaut wurde, nimmt man es, glaube ich, noch einmal anders wahr. Man spürt die Trauer des Großmoguls und bemerkt zugleich, wie sehr er seine Frau geliebt haben muss.“

Kilians Worte berühren mich. Er hat es wirklich genau auf den Punkt gebracht. Wir verlassen, jeder in Gedanken versunken, den Ort der Liebe.

* * *

Ich liege neben Kilian im Bett. Wir haben ein Doppelbett in unserem Hotelzimmer. Eigentlich hat jeder genug Platz, aber trotzdem liege ich viel mehr auf Kilians Betthälfte. Vielleicht brauche ich ihn einfach gerade.

„Ich habe das Gefühl, Indien ist ein zweigeteiltes Land. Es gibt die grausame Hälfte und die bildschöne Hälfte.“

„Ja, irgendwie schon. Heute haben wir definitiv eine schöne Seite von Indien gesehen“, sagt Kilian leise.

Da hat er recht. Es war wunderschön. Man konnte fast die ganzen grausamen Eindrücke für einen Augenblick vergessen. Doch sobald man den einen Ort wieder verlassen hat, bekommt man die Realität erneut vor Augen geführt.

„Es war schön heute“, flüstert Kilian.

Ich glaube, er schaut mich an, doch es ist dunkel in dem Zimmer, sodass ich es nicht erkennen kann. „Ja, wunderschön. Aber jetzt freue ich mich auf unser nächstes Ziel. Wir bleiben innerhalb von Indien, wechseln jedoch noch einmal den Ort.“

Kilian unterbricht mich. „Nein, das meine ich gar nicht. Es war nicht einfach nur schön heute. Es war deinetwegen wunderschön heute.“

Ich schweige. Das hatte ich jetzt nicht erwartet. Er macht mich verdammt glücklich. Ich habe das Gefühl, dass heute ein bisschen von der Magie des Großmoguls an uns hängen geblieben ist. Wir sind zum Monument der ewigen Liebe gegangen und haben ein bisschen von dem Zauber mitgenommen, als wir das Taj Mahal wieder verlassen haben. Ich habe mich verliebt.

* * *

Ich kann mein Glück irgendwie gerade nicht fassen. Vor zwei Stunden sind wir in Kerala gelandet. Wir haben definitiv zum Abschluss einen schönen Teil von Indien erwischt. Wir stellen unsere Koffer ab. Für die nächsten paar Tage werden wir hier wohnen. Hier, in einer kleinen Hütte mitten im Grünen und an einem Fluss. Ich stelle meine Tasche neben meinen Koffer und laufe zu einem Fenster. Unsere Holzhütte steht direkt am Wasser. Ich habe das Gefühl, dass wir im Urwald angekommen sind. Die verschiedensten Grüntöne sind zu sehen. Es ist so bezaubernd hier. Als wäre ich in einem Traum. In einem Traum, aus dem ich nicht aufwachen möchte.

Kilian ist mir gefolgt und steht jetzt neben mir am Fenster. „Respekt. Du hast definitiv den richtigen Ort ausgesucht, um sich von Indien zu verabschieden.“

Da sollte er sich vielleicht eher bei meiner Oma bedanken. Wenn das möglich wäre. Ich würde alles dafür tun, um noch einmal mit ihr reden zu können. Ich möchte ihr einfach nur danken. Wir sind nicht einmal zwei Monate unterwegs. Fünf Monate haben wir noch. Und ich bin jetzt schon unfassbar glücklich und dankbar, dass ich die Möglichkeit habe, diese Reise zu machen.

„Kerala ist ein Bundesstaat in Indien. Kerala heißt übersetzt Land der Kokospalmen. Ich glaube, jetzt verstehe ich, wieso dieser Bundesstaat so genannt wurde. Es ist unglaublich hier. Wie im Urwald.“

Kilian nickt. Es war bereits später Nachmittag, als wir angekommen sind. Ich weiß nicht genau, wie lange wir hier schon stehen, aber mittlerweile geht die Sonne unter. Ein Sonnenuntergang in einer Holzhütte mitten im Urwald an einem Fluss. Ich weiß nicht, ob ich jemals etwas Schöneres gesehen habe.

„Bitte kneife mich. Vielleicht träume ich einfach nur.“

„Du träumst nicht, Alicia. Das ist die Wirklichkeit“, sagt Kilian leise. Seine tiefe Stimme klingt so schön. Ich könnte ihm ewig zuhören.

* * *

Ich wache durch das Rauschen des Flusses und den Gesang der Vögel auf. Gott sei Dank! Ich bin wirklich noch hier und habe das nicht alles geträumt. Die Sonne scheint in unser Zimmer. Ich strecke mich. Kilian ist nicht mehr neben mir im Bett. Vielleicht ist er duschen gegangen. Ich stehe langsam auf und gehe zum Fenster. Ich kann nicht genug bekommen von diesem Ausblick.

Nach dem Frühstück werden wir abgeholt. Wir fahren nicht lange mit dem Auto durch den Urwald. Schon bald erreichen wir unser Ziel.

Kilian schaut perplex aus dem Fenster. „Da steht ein Elefant!“

Ich muss lachen.

„Vielleicht kannst du ja jetzt erraten, was wir heute machen werden.“

„Sag mir nicht, wir reiten auf dem riesigen Teil?“

Ich schaue ihn nur grinsend an. Ich glaube, das ist Antwort genug. Ich freue mich total. Ich wollte schon immer einmal auf Elefanten reiten.

Wir steigen aus dem Auto und werden von einer jungen Frau begrüßt. Sie hat einen roten Punkt auf der Stirn, einen sogenannten Bindi. Das heißt, dass sie verheiratet ist. Dies wundert mich auch nicht wirklich. Sie ist bildschön und hat ein umwerfendes Lächeln. Sie reicht mir eine Kette, an der viele rosa Blumen befestigt sind. Wie lieb von ihr. Anschließend führt sie uns zu dem Elefanten und zeigt uns, wie wir am besten aufsteigen können. Ich gehe zuerst nach oben und lege mir die Blumenkette als Schmuck um den Kopf. Kilian folgt mir und setzt sich hinter mich. Er greift um meine Hüfte und hält mich fest. Ein Kribbeln durchläuft meinen gesamten Körper. Ich genieße seine Hände an meiner Hüfte. Die Frau macht uns klar, dass der Elefant gleich aufstehen wird und wir uns festhalten sollen.

Es ist ein bisschen abenteuerlich auf so einem riesigen Elefanten. Es schaukelt ganz schön auf seinem Rücken, aber die Aussicht ist genial. Ein Mann führt den Elefanten durch den Urwald. Neben uns fließt der Fluss entlang, auf der anderen Seite sind viele Palmen und andere Bäume. Kilian zeigt auf einen Baum, an dem Bananen wachsen. Nicht schlecht. Wir sind einen kleinen Rundweg gegangen. Ich kann die Stelle schon erkennen, an der wir losgelaufen sind.

Kilian zieht mich ein bisschen zu sich heran. „Du bist ein wunderschönes Blumenmädchen“, flüstert er mir ins Ohr. Durch seine tiefe Stimme bekomme ich überall Gänsehaut. Mein Herz macht einen kleinen Hüpfer und schlägt automatisch schneller.

* * *

Wir sitzen in einem Boot und werden über den Fluss gefahren. Ein Fluss mitten im Urwald. Hinter uns steht ein Mann, der das Ruder in der Hand hält, um das Boot zu bewegen. Überall ragen Palmen an den Ufern hervor. Ich kann einen Affen auf einem Baum erkennen. Ich habe noch nie so viel Grün auf einmal gesehen. Ab und zu tauchen zwischen den Bäumen ein paar kleine Hütten auf, in denen Besucher untergebracht werden. Kerala ist ein schönes Ziel für eine Hochzeitsreise. Die ganze Umgebung mit dem Fluss und der Holzhütte ist schon romantisch.

Oh nein. Ich habe einen Regentropfen abbekommen. Wir haben Ende Juni. Eigentlich kein Wunder. Ab Mitte Juni ist in Indien Regenzeit. Jetzt sind es nicht mehr nur einzelne Tropfen, sondern es ist schon ein leichter Regen. Leider bleibt es nicht dabei, es wird immer schlimmer und mittlerweile schüttet es. Der Bootsmann erklärt uns auf Englisch, dass die Strömung des Flusses bei Regen ganz schön stark werden kann und wir leider die Fahrt abbrechen müssen. Er fährt auf das Ufer zu, schafft das Boot ein Stück aus dem Wasser und bindet es an einen Baum.

Wir sind alle komplett durchnässt. Das Wasser tropft schon an meinen Sachen herunter. Zum Glück ist es noch so warm, dass man nicht frieren muss. Der Bootsmann entfernt sich ein Stück von uns. Wahrscheinlich versucht er, jemanden zu finden, mit dem wir hier wegkommen können. Ich stelle mich unter einen Baum, doch er bringt nicht wirklich etwas gegen den Regen. Ich werde genauso nass, als würde ich unter freiem Himmel stehen. Die Regentropfen fallen von den Blättern herab und prallen auf meinen Körper. Kilian kommt langsam auf mich zu. Ich schaue ihm in die Augen. Sie sind schlicht braun, aber trotzdem faszinieren sie mich unfassbar. Sie ziehen mich in seinen Bann. Er kommt immer weiter auf mich zu. Ich kann den Blick nicht von seinen Augen lösen. Erst kurz bevor wir gegeneinanderstoßen würden, bleibt er stehen. Seine Hand greift behutsam nach meinen Haaren. Er spielt ein wenig mit meinen Locken herum, dann legt er seine Hand an meine Wange und streicht mit seinem Daumen sanft über meine Haut. Ich glaube, ich habe gerade aufgehört, zu atmen. Mein Herz schlägt schneller. Sein Kopf bewegt sich zu mir nach unten und ich schließe die Augen. Mittlerweile schlägt mein Herz bestimmt doppelt so schnell wie normal. Meine Knie werden weich. Seine Lippen treffen auf meine. Jetzt explodiert mein Körper komplett. Alles kribbelt und Schmetterlinge flattern wie wild in meinem Magen herum. Seine Lippen sind unfassbar weich. Seine Hände wandern an meine Taille. Vorsichtig zieht er mich an sich. Unsere Körper sind eng beieinander. Ich fahre mit meinen Händen durch seine wunderschönen Locken. Ich habe das Gefühl, dass unsere Körper zu einem verschmelzen. Ich kann sein Herz schlagen hören. Wie kann ein einziger Mensch, mich so verdammt glücklich machen? Wir lösen uns voneinander, auch wenn ich ihn noch ewig hätte küssen können. Ich öffne meine Augen wieder und schaue in sein makelloses Gesicht. Anhand seines Lächelns kann ich erkennen, dass er genauso glücklich ist wie ich. Ich habe mich Hals über Kopf verliebt. Das ist der perfekte Abschluss. Indien war trotz der schrecklichen Eindrücke insgesamt eine wunderschöne Zeit.

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