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Читать книгу: «Gemeinsam einsam durch die Welt», страница 4

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„Höchst wahrscheinlich wegen des Nachtlebens hier. Habe gehört, dass Island ein krasses Nachtleben haben soll.“

Ich schaue ihn nur verwirrt an, weil ich nicht genau weiß, was er meint.

„Jetzt sag mir nicht, ich weiß etwas besser als mein wandelndes Lexikon. Nachtleben halt. Klubs. Partys. Wir haben Freitagabend. Kann schon sein, dass wir gerade an so einer Ecke sitzen, wo viele Leute unterwegs sind. Dreh dich mal um. Schau mal die Straße dort vorne.“ Er zeigt auf eine Straße nicht weit von uns.

„All die Lichter, die dort an sind, sind wahrscheinlich irgendwelche Klubs, wo Leute feiern gehen.“

Ich zucke mit den Schultern. „Mit Klubs und Partys habe ich es nicht so am Hut.“

„Jetzt sag mir bitte nicht, du warst mit 21 noch nie betrunken und hast Spaß gehabt?“

„Wieso? Ich kann auch ohne Alkohol Spaß haben“, antworte ich schulterzuckend.

Kilian springt auf. Er stellt sich vor mich und reicht mir seine Hand. „Darf ich dich mit dem Nachtleben von Island vertraut machen?“

Ich zögere kurz.

„Komm schon. Lass uns feiern gehen. Bis in den Morgen tanzen. Spaß haben.“

Ich willige widerwillig ein und gebe ihm meine Hand. Er zieht mich hoch und lässt meine Hand auch nach fünf Metern noch nicht los. Er zerrt mich vor zu der beleuchteten Straße, in den ersten Klub hinein.

Laute Musik. Viele Leute. Eigentlich nicht meine Welt, aber ich muss schon sagen, dass die Atmosphäre hier wirklich nicht schlecht ist.

Kilian schleppt mich zur Bar. „Was willst du trinken?“

„Keine Ahnung. Cola?“

Er zuckt mit den Schultern und verschwindet in den Menschenmassen. Jetzt lässt er mich hier auch noch allein stehen. Ich schaue mich um. Die meisten Leute sind auf der Tanzfläche unterwegs, die anderen stehen an der Bar und unterhalten sich. Ich verstehe kein Wort von dem, was sie sagen. Ein Typ kommt auf mich zu, der definitiv älter ist als ich. Na super. Was mache ich jetzt? Kann der mich bitte in Ruhe lassen? Verzweifelt schaue ich mich um und suche Kilian, aber ich kann ihn nirgendwo erkennen. Der Typ lächelt mich an, aber mir gefällt sein Lächeln absolut nicht.

„Við skulum dansa, þú falleg stelpa“, fragt er.

Oder sagt er? Ich habe keinen blassen Schimmer. Ich versuche, ihm irgendwie auf Englisch klarzumachen, dass ich kein Isländisch spreche, aber entweder ist es zu laut hier oder er spricht kein Englisch. Auf jeden Fall versteht er mich nicht. Ich kann Kilian erkennen, der mit zwei Gläsern wiederkommt. Als er den Typen und meinen verzweifelten Blick sieht, läuft er einen Schritt schneller. Er drückt mir das Glas in die Hand und gibt mir einen Kuss auf die Wange. Der Typ schaut von mir zu Kilian und wieder zu mir. Dann entfernt er sich.

„Sorry“, murmelt Kilian in mein Ohr, „Aber der wäre sonst nicht abgehauen.“

Ich bin ihm eher dankbar, dass er den Typen vertrieben hat. Ich nippe an meinem Glas. Bahh. Was zum Teufel hat er mir da gebracht? Das ist keine Cola! Ich verziehe das Gesicht. „Was zum Henker ist das?!“

„Cola.“

Ich ziehe die Augenbrauen hoch.

„Cola mit Alkohol halt. Dachtest du, die haben hier irgendetwas ohne Alkohol?“

„Was ist das denn?“

„Bacardi. Trink mal noch drei Schlucke, dann schmeckt es besser. Glaub mir.“ Er leer sein halbes Glas.

Ich habe keine Ahnung, was darin ist, und vielleicht will ich es auch nicht wissen. Ich tue, was er mir geraten hat, und nippe noch ein bisschen an dem Glas. Er hat recht. Nach einer gewissen Zeit ist das Getränk gar nicht mehr so ekelhaft. Es brennt ein wenig im Hals, aber es schmeckt.

Er hält mir seine Hand hin und lächelt mich breit an. „Kommst du mit tanzen?“, raunt er mir ins Ohr. Ich gebe ihm meine Hand und lasse mich auf die Tanzfläche ziehen. Seine Hände wandern an meine Hüfte. Die Musik ist gut. Die Tanzfläche voll. Nach kurzer Zeit habe ich schon wieder ein Glas in der Hand. Ich habe keine Ahnung, woher das auf einmal kommt. Ich trinke ein paar Schlucke, aber so wirklich schmecken tut es nicht. Ich reiche es Kilian, der aber auch nicht wirklich viel davon trinkt. Ich bin froh, dass Kilian mich die meiste Zeit festhält, denn irgendwie wird mir leicht schwindelig. Kommt das vom Alkohol? So viel habe ich doch noch gar nicht getrunken. Also glaube ich. Wissen? Nein, wissen tue ich es nicht. Aber es ist lustig hier. Wirklich lustig. Spaßig. Witzig. Geil. Ich bin zu gut drauf gerade. Richtig gut drauf. So fröhlich war ich lange nicht mehr. Alles macht auf einem Spaß und ist witzig. Der Alkohol wirkt. Definitiv.

* * *

„Guten Morgen, Sonnenschein!“

Ich blinzele zweimal. Kilian steht schon wieder grinsend halb nackt vor mir. Kopfschmerzen. Oh, mein Kopf dröhnt. Aua. Ich will nicht aufstehen. „Fresse“, sage ich trotzig. Mehr Kommentar gibt es gerade von mir nicht.

„Haben wir gestern etwa zu viel getrunken?“, fragt Kilian schmunzelnd.

Wieso zur Hölle ist der denn so gut gelaunt? „Weiß ich nicht mehr“, murmele ich in die Decke und drehe mich um. Plötzlich wird es arg kalt. Hat er mir gerade ernsthaft die Decke weggezogen?

„Du Arschloch“, sage ich lachend und setze mich auf.

„Bin ja schon fast fertig.“

Ich schaue an mir herunter und bemerke, dass ich immer noch die Sachen von gestern anhabe.

Kilian sieht meinen Blick und antwortet: „Ja, ich wollte dich nicht ausziehen. Glaube, das hättest du im Endeffekt nicht so cool gefunden. Außerdem bist du so schnell eingeschlafen, da habe ich dich nur noch zugedeckt.“

„Ist ja nett von dir“, sage ich lachend und stehe auf. Ich schaue auf meine Uhr und erstarre.

„Wieso hast du mich nicht früher geweckt? Der Bus kommt doch in zwanzig Minuten!“, frage ich ihn schockiert.

„Ja und? Zwanzig Minuten werden dir ja wohl reichen, oder?“

Dieser Junge macht mich noch wahnsinnig. Aua. Die Kopfschmerzen sind echt ätzend. Ich greife mir an den Kopf. Ich höre Kilian hinter mir lachen. Ich zeige ihm den Mittelfinger und verschwinde im Bad.

* * *

Die Busfahrt zieht sich irgendwie, auch wenn wir nur knapp drei Stunden Fahrt haben. Mein Kopf lehnt an Kilians Schulter, der immer noch dröhnt, aber die Schmerzen werden besser. Ich schaue aus dem Fenster. Es ist unfassbar, wie grün hier alles ist, obwohl so gut wie kein Baum zu sehen ist. Die Landschaften rauschen an uns vorbei. Wir fahren an ein paar kleinen Städten vorbei. Mich würde mal interessieren, wie grün das Land von oben aussieht. Sehr viel anderes, außer grüne Landschaften, kann ich aus dem Autofenster nicht sehen.

Exakt nach zwei Stunden und etwa fünfzig Minuten kommen wir in der winzigen Stadt Skogar an. Meine Oma wollte, dass ich unbedingt hierherkomme. Von allein wäre ich wahrscheinlich niemals auf die kleine Stadt gekommen. Wir übernachten diesmal in einem Hotel. Es ist nicht sehr teuer, deswegen können wir auch mal in einem Hotel schlafen. Wir wuchten unsere Koffer aus dem Bus und winken uns ein Taxi heran. Es kann nicht weit bis zum Hotel sein, jedoch möchte ich die Koffer nicht die ganze Strecke tragen. Nachdem endlich ein Taxi zu uns gekommen ist, fahren wir etwa drei Minuten und können dann unser Hotel betreten.

Ich habe keine drei Schritte in das Hotel gemacht, da werde ich schon von einer Frau begrüßt. „Du musst Alicia sein. Die Enkelin von Annemarie. Sie hat uns immer versprochen, dass uns eines Tages ihre Enkelin besuchen kommt. Sie hat viel von dir erzählt. Es ist so schade, dass sie von uns gehen musste. Aber jetzt kommt erst einmal herein. Herzlich willkommen in Skogar“, sagt sie uns in Englisch.

Endlich mal jemand, der nicht nur Isländisch spricht. Meine Oma muss ja einen großen Eindruck hinterlassen haben. Die Frau führt uns in unser Zimmer. Wir haben wieder zwei einzelne Betten. Das Zimmer sieht fast genauso aus wie das in Reykjavik, aber es ist ein bisschen heller, größer und freundlicher. Wir sind eben doch in einem Hotel und nicht mehr in einem Hostel.

* * *

Ich liege im Bett und starre die Decke an. Einschlafen ist wohl nicht so meine Stärke. Ich schaue zu Kilians Bett, aber es ist so dunkel, dass ich nicht erkennen kann, ob er auch wach liegt oder schläft.

„Bist du noch wach, wandelndes Lexikon?“, fragt Kilian leise, als hätte er meine Gedanken gelesen.

„Ja, ich kann nicht einschlafen.“

„Hast du wieder ein paar Fakten über die Stadt, in der wir uns befinden?“, fragt er lachend.

„Aber natürlich“, antworte ich schmunzelnd. „Also, wir sind in Skogar. Das ist im Süden von Island. Skogar heißt übersetzt Wälder. Es ist ein kleiner Ort, der nur 25 Einwohner hat. Schon niedlich.“

„Putzig. Doch so viele.“

Wir sagen beide nichts mehr, aber ich weiß, dass er auch noch wach liegt.

„Ich kann nicht schlafen, Kili“, sage ich nach ein paar Minuten leise. Es ist das erste Mal, dass ich ihn Kili nenne. Ich weiß auch nicht, warum. Ich höre, wie er seine Bettdecke hochklappt.

„Komm her“, flüstert er.

Ich zögere kurz, doch dann tapse ich über den kalten Boden zu Kilians Bett und schlüpfe unter die Decke. Sein Körper ist schön warm. Jetzt weiß ich auch, warum er nur im T-Shirt schlafen kann, ohne zu erfrieren. Ich schließe die Augen und schlafe in Kilians Armen ein.

* * *

Diese atemberaubende Schönheit. Es dämmert schon, aber das macht den Himmel im Hintergrund nur umso schöner. Das Farbenspektakel ist der Wahnsinn. Das Wasser stürzt etliche Meter in die Tiefe. Um genau zu sein, stürzt es 66 Meter in die Tiefe. Der Anblick raubt einem wirklich den Atem. Er liegt vor uns. Mit seiner Pracht und seiner Schönheit. Der Wasserfall Seljalandsfoss, was übersetzt Schluchtenbewohner heißt. Wir stehen hinter dem Wasserfall in einer Art Höhle und beobachten, wie das Wasser vor uns nach unten fällt. Ein kleiner Pfad führt hinter den Wasserfall. Auf diesem stehen wir jetzt und starren mit offenem Mund die großen Mengen Wasser an.

Der Himmel färbt sich in die Farben Orange und Rot. Es sieht so schön aus. Auf den Moment habe ich lange gewartet. Das ist definitiv das schönste Erlebnis in Island. Ich danke meiner Oma so sehr, dass sie wollte, dass ich hierherkomme. Im Tosbecken wird das ganze Wasser aufgefangen und eine leichte Prise vom Wasser sprüht in unsere Richtung. Durch den Wasserschleier sieht man die Weite Schönheit Islands. Wir stehen nebeneinander und bestaunen den Wasserfall. Ich schaue zu Kilian, der ihn förmlich anhimmelt.

„Ich wusste, dass es dir hier gefällt.“ Ich lächele ihn an, doch er schaut nicht zu mir. Er nimmt schweigend meine Hand. Wir stehen noch lange hier. So lange, bis fast die gesamte Sonne untergegangen ist und es dunkel wird. Wir genießen diesen letzten Moment, denn morgen steigen wir wieder ins Flugzeug.


*

Gefühlschaos

Februar 1999

Mir rutscht das Herz in die Hose. Das kann nicht sein. Das kann einfach nicht sein. Fuck. Nein. Das ist alles andere als gut. So ein Scheiß! Was mache ich denn nun? Mir wird heiß und kalt zugleich. Ich stehe im Badezimmer vor dem Spiegel und stütze mich auf dem Waschbecken ab, um nicht umzukippen. Ich starre mein Spiegelbild an. Wie konnte das passieren? Ich bin so unendlich dumm. Irgendwie bin ich von mir selbst enttäuscht. Ich hätte es niemals so weit kommen lassen dürfen. Ich senke meinen Kopf sachte nach unten. Ganz langsam richtet sich mein Blick in das Waschbecken. Da liegt er. Und es sind wirklich zwei Striche. Fuck. Wieso sind dort denn zwei verdammte Striche und nicht nur einer? Aber er liegt klar und deutlich vor mir.

Der Test.

Und es sind definitiv zwei Striche abgebildet.

Zwei.

Nicht einer.

Ich bin schwanger.

Fuck.

Da bin ich gerade wieder auf einem guten Weg gewesen – und dann das. Ich bin nicht mehr so depressiv gewesen. Ich war gerade dabei, wieder ein normales Leben zu führen. Ein Leben, in dem ich halbwegs mit meiner Situation klarkomme und auf dem Weg bin, wieder glücklich zu werden. Aber was soll ich bitte mit einem Kind? Was soll ich nur machen? Ich bin 21 Jahre alt. Irgendwie ist das ein bisschen jung, um Mutter zu sein. Das ist zumindest meine Meinung. Andere bekommen schon zwei Jahre früher ein Kind, aber das wäre nichts für mich gewesen. Ich glaube, ich bin noch nicht einmal bereit dafür. Aber im Moment weiß ich eigentlich gar nicht, was ich will. Ich wäre komplett überfordert mit einem so kleinen Lebewesen. Selbst wenn ich im Kindergarten arbeite. Die Kinder sind wenigstens meistens drei Jahre alt. Und es sind nicht meine Kinder. Das ist ein großer Unterschied, ob du dich um fremde Kinder kümmerst oder um dein eigenes. Das Kleine wäre dann wirklich mein Fleisch und Blut. Das muss doch krass sein, wenn du das kleine Bündel dann in den Armen halten kannst. Vorher lebt es ganze neun Monate in dir. Das ist schon faszinierend. Der Gedanke verfällt allerdings schnell. Das ist wieder so ein Moment, der mich unfassbar aus der Bahn wirft. Etwas, dass ich definitiv nicht geplant hatte. Ich habe nie wirklich über eigene Kinder nachgedacht und schon gar nichts dazu geplant. Ich wusste nicht, wann ich welche haben oder ob ich überhaupt welche möchte. Im Kindergarten bin ich ja von genug kleinen Hosenscheißern umgeben. Jetzt habe ich aber irgendwie keine andere Wahl. Schon wieder etwas, dass ungeplant passiert. So ein Scheiß. Ich bin nicht bereit für ein Kind.

Langsam schleiche ich in die Küche und setze mich auf einen der zwei Barhocker. Ich habe meine Ellenbogen auf der Arbeitsfläche und stütze meinen Kopf ab, der gerade einfach nur so unfassbar dröhnt. Das ist zu viel. Ich fühle mich so elend. Es beginnt schon wieder, dass ich grundlos ewig lange die Wand anstarre. Mir wird wieder extrem heiß. Verzweiflung ist definitiv da. Aber nicht nur Verzweiflung, sondern auch Angst kommt in mir hoch. Unfassbar große Angst.

Der Unfall ist jetzt zwei Monate her. Kilians Lage ist nach wie vor unverändert. Er liegt im Koma. Die Ärzte können nicht viel machen. Was ist, wenn er nie wieder aufwacht? Irgendwann schalten die Ärzte die Geräte aus. Und dann ist er nicht mehr bei mir. Für immer. Wie soll ich allein ein Kind großziehen? Ich habe überhaupt keine Ahnung von so kleinen Kindern und Geld habe ich erst recht nicht. Wie soll ich es ernähren?

Allein der Gedanke daran, was ich alles kaufen müsste, lässt mich fast vom Stuhl kippen. Das Kind braucht Klamotten. Ich brauche einen Kinderwagen und einen Sitz im Auto, ein Kinderbett und total viele Windeln, Schnuller und Spielzeuge. Woher nehme ich denn bitte das ganze Geld? Das kleine Bündel wäre dann für immer bei mir. Wie soll ich es allein großziehen, ohne komplett zu verzweifeln? Wahrscheinlich schreit es jede Nacht. Und ich habe niemanden, der mir das schreiende Kind auch mal abnehmen könnte.

Ich habe zuvor nie wirklich darüber nachgedacht, aber jetzt, wo ich in die Situation komme, bewundere ich alle alleinerziehenden Mütter. Es gibt so viele Frauen, die ihr Kind allein großziehen, weil der Vater abgehauen ist, da er kein Kind möchte und sich gerade alles spontan anders überlegt. Alle diese Frauen haben meinen Respekt. Wie haben die es bloß geschafft, nicht durchzudrehen?

Ich habe so Angst, dass Kilian nicht mehr aufwacht und mich mit allem allein lässt. Er würde nicht mal wissen, dass er ein wundervolles Kind hat, wenn er stirbt. Wie schrecklich! Ich werde es ihm irgendwann erzählen, wenn ich wieder bei ihm im Krankenhaus bin, in der Hoffnung, dass Leute, die im Koma liegen, doch die Menschen um sich herum wahrnehmen. Vielleicht kann er mich ja hören.

Ich laufe in den Flur zum Spiegel und schaue mich an. Ich drehe mich zur Seite, ziehe mein Oberteil nach oben und lege eine Hand auf meinen Bauch. Noch ist er ganz dünn. Das wird sich in den nächsten paar Monaten allerdings ändern. Wie es sich wohl anfühlt, wenn man ein Lebewesen in sich trägt? Wenn etwas im eigenen Körper heranwächst? Dieses unschuldige kleine Wesen kann doch nichts dafür, dass ich unachtsam war. Vielleicht wäre es besser, wenn es das Licht dieser Welt niemals erblickt.

Schon wieder steigt Panik in mir auf. Ich greife zum Telefon und wähle. Mit meiner linken Hand spiele ich nervös mit meinen Haaren herum. Ich beiße mir auf die Lippe. Soll ich vielleicht doch lieber einfach auflegen? Doch bevor ich irgendwie reagieren kann, geht er schon an das Telefon.

„Hi, Alicia. Was gibt es?“ Philias Stimme beruhigt mich irgendwie. Aber ich weiß trotzdem nicht, wie ich ihm das Ganze erklären soll.

„Du ... ich habe da ein Problem“, fange ich an zu stottern. Wieso bin ich nur so nervös? Er ist mein bester Freund.

„Bist du zu Hause? Bleib, wo du bist. Ich komme vorbei.“ Er wartet nicht einmal meine Antwort ab. Ich höre schon das Tuten des Telefons. Genau aus diesem Grund ist er mein bester Freund. Philias ist einfach immer für mich da. Ganz egal, was mir passiert, er ist immer startklar, mich aufzumuntern, mir zu helfen und mich zu unterstützen.

Keine zwanzig Minuten später klingelt es an der Tür. Ich mache Philias die Tür auf und warte, bis er oben angekommen ist. Wie er wohl reagieren wird? Ich weiß es nicht. Aber ich muss mit jemandem reden. So viel steht fest. Nicht noch einmal mache ich den Fehler und fresse alle meine Sorgen in mich hinein.

Er betritt meine Wohnung und sieht mich besorgt an. Leise schließt er die Tür hinter sich. Ich habe meine Arme um meinen Körper geschlungen und schaue ihn nur mit großen Augen an. Ich fühle mich so schlecht. Langsam drehe ich mich um und gehe in die Küche. Ich gehe vor bis zum Kühlschrank und bleibe stehen. Mein Rücken lehnt an der Kühlschrankwand. Philias folgt mir und sieht mich fragend an. Als er durch die Küchentür geht, schaut er auf die Arbeitsfläche. Der Test liegt dort, weil ich ihn vorhin dorthin gefeuert habe. Er starrt lange auf den Test, dann schaut er mich fragend an und starrt wieder auf den Test. Ich kaue auf meinen Lippen herum, die schon ganz kaputt sind. Jetzt schaut er mich wieder an.

„Oh, Alicia.“

Mehr sagt er nicht, denn er kommt auf mich zu und nimmt mich in den Arm. Es tut so gut, ihn an mir zu spüren. Ich spüre etwas Nasses auf meinen Wangen. Erst jetzt bemerke ich, dass mir Tränen aus den Augen fließen. Als Philias bemerkt, dass ich schluchze, drückt er meinen Kopf an seine Schulter.

Nach ein paar Minuten lässt er mich los und schaut mich an. „Alicia, du bekommst ein Kind. Du solltest dich eigentlich über eine solche Nachricht freuen. Das wird schon alles.“ Er lächelt mich zaghaft an.

Ich wische mir die Tränen aus den Augen. Wo ist das denn eine erfreuliche Nachricht? Hat er vielleicht bemerkt, dass ich erst 21 bin, mein Freund im Koma liegt und ich auf mich allein gestellt bin? Bevor ich ihm antworten kann, spüre ich ein komisches Gefühl in meinem Bauch. Übelkeit. Oh nein. Ich presse meine Hand vor den Mund und beeile mich, ins Bad zu kommen. Nachdem ich mich übergeben habe, rutsche ich die Wand hinunter und bleibe auf dem Boden sitzen. Ist das ekelhaft. Das brauche ich ganz sicher nicht noch einmal.

Philias schaut besorgt um die Tür herum. „Ist alles okay bei dir?“

„Abgesehen davon, dass ich schwanger bin? Ja ... natürlich. Alles bestens.“

Philias kommt zu mir und setzt sich gegenüber von mir auf den Boden. „Hör mal. Du hast die Chance, ein Kind auf die Welt zu bringen. Nicht jeder hat diese Chance. Das ist doch eigentlich etwas Wundervolles. Ein kleines, süßes Lebewesen.“

„Ich bin erst 21. Was soll ich denn mit einem Kind? Ich habe nicht einmal Geld, um das Kind auch nur ansatzweise großzuziehen. Ich bin allein. Ganz allein.“ Die letzten zwei Wörter flüstere ich nur. Ich schaue Philias in die Augen, dann rede ich leise weiter. „Kilian ist nicht hier. Und ich weiß nicht, ob er das jemals wieder sein wird ...“

„Alles, was du nicht machen sollst, ist die Hoffnung aufzugeben! Versprich mir das! Kilian schafft das. Da bin ich mir ganz sicher. Und Alicia, ich hoffe, du weißt, dass ich immer bei dir sein werde und dich immer unterstützen werde, ganz egal, was passiert. Du schaffst das mit dem Kind. Da bin ich mir auch ganz sicher.“

Es ist ja wirklich schön, dass er sich bei allem sicher ist. Aber ich bin das eben nicht.

„Das kleine Bündel wäre von mir abhängig. Allein ist es nicht lebensfähig! Ich bin überhaupt nicht in der Lage, so viel Verantwortung zu übernehmen. Ich wäre ganz sicher keine gute Mutter. Ich will nicht so eine wichtige Aufgabe übernehmen und für ein so kleines, zerbrechliches Wesen sorgen.“

„Hey. Hör auf, so etwas zu sagen. Du wärst eine wundervolle Mama. Ganz sicher. Du kannst dem Kleinen ein wundervolles Leben schenken. Nur du hast die Kraft dazu. Bitte behalte das Kind.“ Er schaut mich flehend an. Normalerweise schafft er es, mich mit diesem Blick zu allem zu bringen. Doch nicht jetzt.

„Ich kann dir nichts versprechen. Es ist und bleibt meine Entscheidung, wie ich mich entscheide. Aber angenommen, Kilian packt es nicht ... Ich finde es schrecklich, wenn das Kind keinen Vater hat. Ein Kind braucht Mama und Papa. Es ist grauenhaft, wenn es nicht einmal die Chance dazu hat, seinen Vater kennenzulernen. Das ist etwas, was ich niemals wollte. Es soll nicht ohne einen Vater aufwachsen.“

„Aber wenn Kilian aufwacht, wovon ich ausgehe, was erzählst du ihm dann? Dass du euer Kind abgetrieben hast, weil du keine Hoffnung hattest, dass er aufwacht? Schau doch mal. Abgesehen davon, ob Kilian es schafft oder eben nicht, stelle dir einmal vor, du hast einen Teil von Kilian in den Armen. Es ist schließlich auch sein Kind. Es sieht ebenso aus wie er. Du hättest einen kleinen Kilian für immer bei dir.“

Der Gedanke an einen kleinen Kilian bringt mir Tränen in die Augen. Die Vorstellung ist wunderschön. Trotzdem gelingt es ihm nicht, mich umzustimmen. „Ich schaffe das einfach nicht.“

* * *

Eigentlich ist die Decke in meinem Zimmer weiß, aber es ist schon so dunkel, dass sie fast schwarz aussieht. Ich starre die Decke seit bestimmt einer Stunde an. Ich kann einfach nicht schlafen. Meine Hand liegt flach auf meinem Bauch. Irgendwie beruhigt mich das, auch wenn ich die Vorstellung seltsam finde, dass ein Kind darin wächst. Am Abend habe ich lange mit meiner Mama telefoniert und ihr alles erzählt. Auch sie meinte, dass alles gut wird und sie und mein Vater voll und ganz hinter mir stehen, egal was passiert. Die haben es auch alle leicht, dass zu sagen. Wenn man selbst in der Situation ist, weiß man gar nichts mehr. Weder was gut noch was schlecht ist und schon gar nicht, was man am besten machen soll.

Ich will gar nicht wissen, wie viele Gerüchte entstehen, wenn es sich herumspricht, dass ich schwanger bin. Wahrscheinlich liegt das auch an den vielen Vorurteilen, die einige Leute haben. Nicht viele wissen, dass ich einen Freund habe. Jetzt bin ich schwanger und man wird mich wahrscheinlich nie mit Kilian zusammen sehen, da er ja im Krankenhaus liegt. Ich stehe also automatisch als Schlampe da. Schwanger und kein Freund. Und dann auch noch mit 21 schwanger, also relativ jung. Mich würde es nicht wundern, wenn es Leute gibt, die dann glauben, ich würde mit jedem schlafen. Das alles ergibt schöne Gerüchte. Eigentlich interessiert es mich nicht, was andere Leute über mich denken. Aber es ist trotzdem nicht einfach, wenn man so etwas hören muss. Und was ich auf keinen Fall möchte, ist, dass mein Kind umgeben von Vorurteilen aufwachsen muss.

Das Kind der Schlampe.

Das Kind der jungen Mutter, die noch gar keine Verantwortung übernehmen kann.

Das Kind, das nie einen Vater hatte.

Das arme Kind.

Nein. Das möchte ich auf keinen Fall. Sollen die Leute über mich reden, was sie wollen, aber ganz sicher nicht über mein Kind.

Es ist schlimm, dass so schnell Vorurteile und Gerüchte entstehen. Es ist schon fast so, dass das, was die Mehrheit der Menschen sagt, die Wahrheit ist, und nicht das, was eigentlich der Wahrheit entspricht. Ja, willkommen in der heutigen Gesellschaft.

Ich weiß einfach nicht, was ich tun soll. Aber ich merke, wie ich anfange, das Kind zu mögen. Wahrscheinlich ist das der Mutterinstinkt. Ich will das Kind beschützen, dafür sorgen, dass ihm nichts passiert, es verteidigen.

Die Vorstellung, dass ich einen Teil von Kilian in den Armen halten kann, macht mich unfassbar glücklich. Ich würde Kilian nicht komplett verlieren. Irgendwie ist das Kind ja schon ein Geschenk des Himmels. Aber ich weiß ebenso genau, dass ich definitiv nicht bereit für ein Kind bin. Ich kann diese Verantwortung nicht übernehmen. Das kleine Wesen wäre abhängig von mir. Es ist so zerbrechlich. So hilflos ohne mich.

Was ist, wenn ich keine gute Mutter bin?

Was ist, wenn ich das alles allein nicht schaffe?

Wie ist das Leben mit Kind?

Ich packe das doch niemals allein. Auch wenn ich die Unterstützung meiner Eltern und von Philias habe, letztendlich bin ich ja trotzdem die Mutter von dem Bündel. Und ich muss mich um das Kleine kümmern. Ich und kein anderer.

Ich war so froh, als ich selbstständig auf meinen eigenen Beinen stand und nicht mehr so abhängig von meinen Eltern war. Aber ich habe kein Geld für ein Kind. Ich wäre also schon wieder abhängig von ihnen. Will ich das wirklich?

Soll ich dem kleinen Wesen ein Leben schenken? Oder soll ich mich doch erst einmal wieder sicher auf meine eigenen Beine stellen? Ich habe gerade wirklich andere Probleme. Vielleicht sollte ich das Kind einfach abtreiben.

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