Читать книгу: «Die Sehnsucht der Kormorane», страница 3

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Sieben

Als Prohaska den Laden in der Via Carrera betrat, blickte Ivo vom Laptop auf und beugte sich über den Tresen, um Prohaska die Hand zu schütteln.

»Guten Morgen, der Herr, hast du heute etwas vor?«

»Nein, wieso?«

»Du siehst aus wie aus dem Ei gepellt.«

Prohaska grinste. »Die Konkurrenz schläft nicht und ab einem gewissen Alter sollte der Mann von Welt mehr auf sein Äußeres achten als in der Blüte der Jugend.«

»Ich wusste nicht, dass dir das Älterwerden Probleme macht.«

»Tut es auch nicht, ich habe nur einen Werbespruch aus einem Magazin zitiert. Unser aller Verhalten in dieser Hinsicht dient nur dazu, um beim anderen Geschlecht zu punkten.«

Ivo lachte schallend. »Aber nicht jeder kann wie ein Seeadler oder ein Paradiesvogel herumrennen. Es muss auch Raben und Krähen und Kormorane geben.«

»Die sind am gefährlichsten«, sagte Prohaska und deutete auf Ivos schwarzes Poloshirt.

Ivo fuhr sich durch die kurzen dunklen Haare, die an den Schläfen von feinen Silberfäden durchzogen waren. Er war zwei Jahre jünger als Prohaska und ein paar Zentimeter kleiner. Wenn sie nebeneinanderstanden oder über den Platz gingen, wirkte er ernst und streng. Aber seine Augen blitzten neugierig hinter der schicken Lesebrille, die er seit Neuestem trug.

»Sag das bitte nicht weiter.«

»Aber Spaß beiseite. Wie laufen unsere Geschäfte?«, fragte Prohaska, während er Bellos Leine löste und ihn hinter den Ohren kraulte.

»Blendend, wie du siehst, ich kann mich vor Kundschaft kaum retten.«

»Apropos, was ist mit diesem Auftrag?«

»Die Infos sind vorhin gekommen.« Ivo drehte den Laptop um, damit Prohaska die E-Mail lesen konnte.

»Gut, ich notiere mir die Telefonnummer und rufe die Frau zurück.«

»Musst du nicht, ich schicke sie dir.« Ivo hackte auf der Tastatur herum.

Prohaskas Handy gab einen Signalton von sich. Währenddessen tippte Ivo weiter.

»Schau, das ist eine der Meldungen über den Brand in Ičići.«

»Ich fahre nicht hin«, sagte Prohaska mit Nachdruck.

»Schon klar, aber lesen kannst du es ja trotzdem, oder?«

Prohaska warf einen Blick auf den Bildschirm. Unter dem Titel »Haus vom Feuer zerstört« waren mehrere Fotos zu sehen. Vom Gebäude standen nur noch die verrußten Mauern. Auf der Erde lag eine dicke Schicht Asche. Verkohlte Baumstämme. Feuerwehrleute in Aktion, Löschfahrzeuge und mehrere Polizeiautos.

»Sieht nicht gut aus«, sagte Prohaska. »Lies doch vor, aber nur das Wichtigste.«

Ivo drehte den Bildschirm wieder zu sich.

»Also, das Haus gehört Miroslav H., fünfundvierzig Jahre alt, Betreiber der Strandbar Plavi kormoran in Opatija. Der Geschäftsführer des Lokals sagte, Miroslav sei gestern Abend kurz vor Mitternacht nach Hause gefahren, und weil er seitdem nicht erreichbar war, geht man davon aus, dass er in dem Feuer umgekommen ist. Hier steht außerdem, dass er, nein, seine Schwester ein Fitnessstudio betreibt. Und weißt du, wie es heißt?«

»Du wirst es mir gleich sagen.«

Ivo grinste. »Pure Life.«

»Interessant.«

»Ja, finde ich auch. In solchen Länden kann man viel Geld machen, außerdem ist es doch bekannt, dass man dort kriegt, was das Herz begehrt. Drogen, Sex und was weiß ich, was noch alles.«

Prohaska zog die Augenbrauen zusammen und schüttelten den Kopf.

»Es muss ja nicht überall so schlimm zugehen. Die meisten Leute, die regelmäßig Sport treiben, machen das aus gesundheitlichen Gründen. Natürlich gibt es auch solche, da gebe ich dir recht.«

»Von mir aus. Aber schau dir den Wahnsinn an. Jeder will einen perfekten Körper. Die Frauen lassen sich den Busen verkleinern oder vergrößern, die Falten liften, die Nase oder Lippen korrigieren, und die Männer trainieren, um einen Waschbrettbauch und Muskelpakete wie der junge Arnold Schwarzenegger zu bekommen. Und viele von ihnen schlucken irgendwelche Pillen, damit es schneller geht.«

»Das ist wahr, aber der Sport ist trotzdem wichtig für Körper und Seele.«

»Ja, aber doch alles in Maßen. Wo bleiben da die normalen Leute wie du und ich?«

»Hey, einen Moment«, lachte Prohaska. »Mein Körper ist fast perfekt, abgesehen von ein paar Schrammen.«

»Der Mensch ist keine Maschine und muss seine Schwächen und Fehler akzeptieren.«

»Und jeder sollte die Freiheit haben, so zu leben, wie er möchte.«

»Amen«, sagte Ivo. »Mir stinkt es nur, dass uns die Werbung einreden will, perfekt sein zu müssen. Das ist doch total bescheuert!«

Sie philosophierten noch eine ganze Weile über die menschliche Natur, Dummheit, Schwächen und Stärken und landeten bei der allgemeinen Lage im Land und in der Welt. Und kamen wie immer zu keinem zufriedenstellenden Ergebnis.

»Die Reichen und Korrupten kriegen den Hals nicht voll und die einfachen Leute werden noch ärmer, als sie es ohnehin schon sind. Was nützt es den Jungen, zu studieren, wenn sie danach keinen Job bekommen und ihre Alten keine Beziehungen oder kein Geld haben, um jemanden zu schmieren, der ihren Kindern eine Anstellung verschafft? Es ist unerträglich, wie korrupt und gewissenlos unsere Gesellschaft geworden ist. Egoisten, wo man hinschaut. Früher gingen die Männer in die Fremde, und wenn sie es sich leisten konnten, holten sie ihre Frauen und Kinder nach. Generationen von Gastarbeitern haben die westliche Wirtschaft hochgebracht. Und heute? Sie nehmen ihre Familien gleich mit. Es gibt Gegenden, wo ganze Dörfer fast leer sind und nur noch die Alten geblieben sind. Ach, hier geht alles den Bach runter und die Ganoven stopfen sich auf Kosten der Allgemeinheit die Taschen voll.« Ivo winkte genervt ab. »Aber, was reg’ ich mich eigentlich auf?«

Prohaska deutete auf den Laptop.

»Steht da etwas über die Brandursache?«

»Nein, aber ich wette, dass er mit einer brennenden Kippe eingeschlafen ist.«

Oder es hat jemand nachgeholfen, dachte Prohaska, doch laut sagte er: »Ich nehme an, dass sie in der Pressekonferenz auch nicht viel sagen werden und erst einmal den üblichen Aufruf an die Bevölkerung richten. Vielleicht hat jemand etwas Verdächtiges gesehen.«

»Ja, klar, da soll wie immer die Bevölkerung helfen. Die sollen lieber ihre Arbeit machen«, echauffierte sich Ivo.

»Das tun sie bestimmt.«

Ivo klappte den Laptop zu und klatschte in die Hände.

»Wie wär’s jetzt mit einem Kaffee?«

»Das wollte ich gerade vorschlagen.«

Sie gingen ins Hinterzimmer, in dem sich auf einer Seite eine Küchenzeile, ein Kühlschrank und ein Tisch mit zwei Hockern befanden. An der anderen Wand standen Metallregale, die als Warenlager dienten.

Prohaska füllte frisches Wasser in Bellos Napf, öffnete das Fenster, von dem man in den schmalen Innenhof zwischen den Häusern sehen konnte, bot Ivo eine Zigarette an, gab ihm Feuer und steckte sich selbst eine an.

»Ich bin sehr gespannt, was bei der Ermittlung herauskommt«, nahm Prohaska den Faden wieder auf, während Ivo den Kaffee kochte.

»Ach, jetzt auf einmal?«

»Ist nur eine alte Gewohnheit. Denn, falls es sich herausstellen sollte, dass der Brand doch kein Unfall gewesen ist …«

»… läuft jetzt ein Mörder frei herum.«

»So ist es, und das würde mir gar nicht gefallen.«

Ivo füllte die Tassen, stellte sie auf den Tisch und setzte sich.

»Sehe ich da etwa ein gewisses Glitzern in deinen Augen?«

»Was für ein Glitzern?«

»Na, das Jagdfieber.«

»Unsinn, ich denke nur laut nach.«

»Ja, natürlich.«

Prohaska lehnte sich zurück und starrte vor sich hin.

»Ich kenne das Lokal Plavi kormoran«, sagte er.

»Ich auch, vom Hörensagen.«

»Ich war schon mal da.«

»Davon hast du mir nichts erzählt.«

»Es gab auch nichts zu erzählen, aber jetzt doch im Nachhinein …«, Prohaska blies den Rauch in kleinen Kringeln weg. »Es war Ende März oder Anfang April. Ich war auf der UËka unterwegs, bin am Nachmittag nach Opatija gefahren und habe in einem Lokal einen Kaffee getrunken.«

»Im Plavi kormoran

»Ich meine ja. Das Lokal und die Terrasse waren voll mit Leuten, die Musik ziemlich laut, deshalb bin ich auch nicht lange geblieben. Kurz nachdem ich bestellt hatte, setzten sich zwei Männer an den Nebentisch, der gerade frei geworden war. Irgendwie passten sie nicht recht zum Publikum. Sie sprachen Bayrisch oder Österreichisch, ich kann das bis heute nicht recht unterscheiden, und ich beachtete sie zunächst auch nicht. Erst als einer von ihnen sehr laut zwei Kaffee bestellte und den Kellner in fließendem Kroatisch fragte, ob Fritz, sein Chef, da sei, sie müssten ihn sofort sprechen, habe ich zu ihnen rübergeschaut. Sie sahen nicht unbedingt vertrauenswürdig aus.«

»Wie sieht man denn deiner Meinung nach vertrauenswürdig aus?«

Prohaska lachte. »Keine Ahnung. Vielleicht war es nur ein Impuls, eine Mischung aus Erfahrung und Intuition. Der Polizistenblick, was weiß ich. Sie trugen dicke Goldringe und Goldkettchen, redeten wenig und wenn, dann leise, starrten auf ihre Smartphones, rauchten und schauten sich immer wieder um. Einer wippte auf dem Sessel, der andere wackelte mit dem Knie, als würde er am liebsten abhauen.«

»Dass du dich daran erinnerst?«

»Als der Kellner ihnen den Kaffee brachte, bat ich ihn um die Rechnung. Da kam ein Mann aus dem Lokal und setzte sich so zu den beiden, dass ich ihn genau im Blick hatte. Er hatte eine Figur wie ein Bodybuilder, hatte gerötete Augen und wirkte irgendwie aggressiv.«

»Wieso haben die nach einem Fritz gefragt? Ich dachte, er heißt Miroslav.«

»Das ist die kroatische Fassung von Friedrich.«

»Ah, dann ist Miro ein Fritz? Was du so alles weißt?«, witzelte Ivo. »Und was wollten die?«

»Das weiß ich nicht, aber so frostig, wie die sich begrüßt haben, war es kein Freundschaftsbesuch.«

»Tja, und nun ist Miroslav H. tot.«

Prohaska schnippte mit den Fingern. »Er hieß Haller. Die haben ihn gesiezt.«

»Du hast ein erstaunliches Gedächtnis.«

»Es war schon mal besser.«

»Haller ist aber ein deutscher Name«, sagte Ivo.

»Ja, aber Miroslav kann genauso gut Österreicher, Schweizer, Kroate oder sonst was gewesen sein. Das muss ich dir jetzt nicht erklären, oder?«

»Nur, wenn der Herr Lehrer es wirklich möchte«, sagte Ivo und grinste. »Vielleicht waren die beiden seine Geschäftsfreunde, oder Verwandte.«

»Keine Ahnung«, murmelte Prohaska und wusste auf einmal, dass er dieser Frage nachgehen würde, auch wenn er sich den Grund nicht erklären konnte. Aber wo anfangen? Er könnte Inspektor Giovanni Rossi fragen. Doch das wollte er lieber nicht in Ivos Gegenwart tun. Der würde sich nur unnötige Sorgen machen. »Ach, lassen wir das Thema. Was hast du über diese Firma herausgefunden, die mich engagieren wollte?«

»Nicht viel. Wie es aussieht, sind die neu im Geschäft, wollen weltweit Ferienhäuser und Villen vermitteln, das Feinste vom Feinsten. Soll ich den Laptop holen?«

»Das mache ich später.« Prohaska drückte die Zigarette im Aschenbecher aus und stand auf. »Ich muss noch einkaufen. Danke für den Kaffee.«

Bello flitzte in den Laden und setzte sich vor die Tür.

»Vielleicht kannst du nachher nach Ičići fahren«, sagte Ivo, als er ihn nach draußen begleitete.

Prohaska setzte die Sonnenbrille auf und grinste.

»Mal sehen, ich melde mich. Ciao!«

Acht

Auf dem Weg zum Markt an der Valdibora kam ihm eine Gruppe asiatischer Touristen entgegen. Die Einheimischen waren stolz darauf, dass ihre Stadt zu einem Sehnsuchtsort von Menschen aus aller Welt geworden war und im gleichen Atemzug mit Rom und Venedig genannt wurde. Die Stadtführerin schwenkte ein Plastikfähnchen und lächelte Prohaska an, reflexartig wie die Menschen, die ihr folgten. Ihr Kreuzfahrtschiff wartet bestimmt im Nordhafen und schon morgen werden sie durch Venedig latschen, dachte Prohaska, als er an einer Backstube Brot kaufte.

Auch auf dem Markt wimmelte es von Urlaubern. Sie machten Fotos oder kauften eine Kleinigkeit ein. Vor dem Eingang einer Wirtschaft standen vier ältere Männer, ihrem Aussehen nach Fischer oder Handwerker, um ein Weinfass herum und genehmigten sich ein Bier oder eine Bevanda. Die Statue der heiligen Fuma hoch oben auf dem Campanile schaute aufs Meer. Es wurde immer wärmer, der Himmel war blau und wolkenlos.

Bello untersuchte die vielen Duftmarken am Straßenrand. Prohaska zog seine Wildlederjacke aus und legte sie über die Schulter. An einem Stand kaufte er ein Glas Honig, an einem anderen zwei Handvoll Kirschen und etwas Gemüse, und holte am Kiosk eine Tageszeitung und Tabak für Enzo.

Auf dem Spielplatz beim Denkmal für gefallene Soldaten im Zweiten Weltkrieg sprangen Kinder herum, die Souvenirhändler boten die übliche Billigware aus Fernost feil, Möwen flogen kreischend einem Fischerboot hinterher und kreisten über den Dächern auf der Suche nach Futter. Kurz vor dem Parkplatz kam Prohaska die alte Romni entgegen, die er hier schon oft gesehen hatte. Sie war längst über siebzig, klein und zierlich. Er wusste nicht, wo sie wohnte, aber es war ihm klar, dass sie und ihre Familie nicht immer genug zu essen hatten, am Rand der Gesellschaft standen und mit Misstrauen oder auch offener Ablehnung zu kämpfen hatten. Für die Roma hatte sich in den letzten Jahrzehnten in Europa zwar einiges gebessert, sie waren offiziell eine anerkannte und gleichberechtigte Volksgruppe, aber die hartnäckigen Vorurteile und der Rassismus waren leider die alten geblieben. Und da das Betteln in der Stadt verboten war, las sie den Leuten die Zukunft aus der Hand.

Heute war sie in Begleitung einer bildschönen jungen Frau, die einen Kinderwagen schob, in dem ein kleiner Junge döste. Bello kannte die alte Frau und fing zu kläffen an. Prohaska beugte sich zu ihm hinunter und redete auf ihn ein, still zu sein. Als er sich aufrichtete, stand die Frau vor ihm und lächelte. Die junge ging ein paar Schritte weiter, blieb stehen und widmete sich dem Kind.

»Gute Tag, Herr Joe, wie geht’s dir?«

Sie hatte ihm schon einmal aus der Hand gelesen und wusste, dass er an ihre Weissagungen eigentlich nicht glaubte.

»Danke, gut, Ihnen hoffentlich auch.« Prohaska griff nach seinem Geldbeutel, aber die Frau lächelte und schüttelte den Kopf.

»Nein, nein, du willst nicht wissen, was dir die Zukunft bringt, also kann ich auch nichts nehmen.«

»Aber essen und trinken muss man ja trotzdem«, sagte Prohaska, zog einen Geldschein aus der Geldbörse und drückte ihn der Frau in die Hand.

»Vergelt’s Gott.« Sie deutete mit dem Kinn zu ihrer Begleiterin. »Das ist meine Enkelin Mira und ihr Sohn Angelo.«

Prohaska nickte der jungen Frau zu. Sie lächelte zurück und sah schnell weg.

»Ach, die Ärmsten«, seufzte die Frau. »Sie wohnt jetzt bei uns. Es ist nicht einfach. Wir haben ja selber kaum genug, die Wohnung ist klein, alles ist so teuer, aber fürs Erste muss es gehen.«

»Was ist denn passiert?«

»Mira und ihr Mann haben drüben in Italien gelebt und als sie sechzehn und er zwanzig war, haben sie nach unserem Brauch geheiratet. Der kleine Angelo ist dort geboren. Ihr Mann war gut wie Brot, schön, anständig, fleißig. Er hatte eine wunderbare Stimme, spielte Gitarre zusammen mit seinen Brüdern und Onkeln bei Hochzeiten. Er war sehr beliebt, konnte keiner Fliege etwas zuleide tun. Und jetzt ist Mira achtzehn und leider schon Witwe.«

»Oje, mein Beileid.«

»Danke«, flüsterte die Frau und kam etwas näher. »Es ist so traurig. Er war Hilfsarbeiter am Bau, und ist vor zwei Monaten verunglückt.«

Prohaska nickte, sah zu Mira, die sich von ihnen abgewandt hatte. Ihr langer Zopf fiel ihr über den schmalen Rücken bis zur Hüfte. Sie trug ein schwarzes T-Shirt und ein knöchellanges blaues Kleid, das wie ein indischer Sari gewickelt war.

»Schrecklich.«

»In der Nacht davor gab es dort ein heftiges Unwetter. Als er am nächsten Morgen mit den anderen Kollegen auf die Baustelle kam, mussten sie zuerst das Gerüst reparieren, weil der Sturm die Plane weggerissen hatte. Dabei rutschte er auf einem Brett aus, das sich gelöst hatte, und stürzte in die mit Matsch und Regenwasser gefüllte Baugrube. Sie holten ihn raus, aber er war zu schwer verletzt und ist auf dem Weg ins Krankenhaus gestorben.«

»Das tut mir sehr leid«, sagte Prohaska, während er ihr einen weiteren Geldschein zusteckte.

Die alte Frau seufzte und wischte sich eine Träne weg. »Danke, das war wohl sein Schicksal.«

Mira drehte sich zu ihnen um, kam näher und flüsterte ihrer Großmutter etwas zu.

Prohaska verstand kein Wort, aber ihr Gesichtsausdruck sprach Bände.

»Ja, Kind, gleich«, sagte die Frau auf Kroatisch und schaute wieder zu Prohaska hoch. »Sie mag es nicht, wenn ich fremden Leuten davon erzähle. Das Leben ist voller Leid und Tränen. Wir müssen es ertragen, egal was kommt. Doch es gibt Gott sei Dank auch gute Menschen, und du bist einer von ihnen. Deine Bestimmung ist, den Armen und Schwachen zu helfen und das Unrecht, das ihnen angetan wurde, wieder in Recht zu verwandeln.«

Prohaska lächelte.

»Sie meinen, so wie Robin Hood?«

»Ach, den gab es gar nicht, eine schöne Legende, weiter nichts. Das hat mir mein Enkelsohn gesagt, er hat es im Internet gelesen. Er geht jetzt in die fünfte Klasse und will später unbedingt Anwalt werden.«

»Das ist eine gute Entscheidung.«

»Und du bist ein guter Polizist und ein guter Mensch. Eines Tages wird dir alles vergolten. Gott sieht alles.«

»Nun denn«, sagte Prohaska und hob den Blick zum Himmel.

»Ich muss dir noch etwas sagen.«

»Okay.«

Die alte Frau sah ihn eindringlich an und berührte sachte seinen rechten Arm.

Sie muss in ihrer Jugend eine sehr schöne Frau gewesen sein, dachte Prohaska, dem der feine Grauschleier nicht entging, der über ihren braunen Augen lag.

»Hüte dich vor falschen Schlangen. Wenn sie dir begegnen, wirst du sie vielleicht nicht gleich erkennen. Sie sind schön, ihre Worte sind honigsüß, aber ihr Herz ist kalt.«

Noch so ein Kalenderspruch, dachte Prohaska und lächelte. Aber wenn sie eine Freude daran hatte, bitte, ihm sollte es recht sein.

»Keine Sorge, ich passe schon auf mich auf.«

»Und hüte dich vor blauen Augen.« Sie ließ seinen Arm los, nickte, und ohne seine Antwort abzuwarten wandte sie sich um und ging mit ihrer Enkelin zum Markt.

»Das Orakel hat also gesprochen«, sagte Prohaska zu Bello. »Lass uns gehen und blauäugige Schlangen suchen.«

Am Nordhafen lag ein Kreuzfahrtschiff mit australischer Flagge. Die Leute blieben stehen, um den Riesenkahn zu fotografieren. Prohaska fragte sich wieder einmal, ob es wirklich nötig war, auf diese Weise um die Welt zu reisen. Er fand die schwimmenden Kleinstädte grässlich und gefährlich. Erst vor ein paar Wochen hatte in Venedig so ein Monsterkahn ein Touristenboot gerammt und war anschließend gegen das Ufer geprallt, wobei mehrere Menschen verletzt wurden. Und was, wenn man auf so einer Reise krank wurde oder eine Seuche ausbrach? Es gab kein Entrinnen. Er jedenfalls würde nie im Leben seinen Fuß auf so ein Schiff setzen. Nicht nur wegen des Umweltschutzes, sondern weil er spätestens am zweiten Tag einen Koller bekäme.

Er blieb zwischen den in der vordersten Reihe parkenden Autos stehen, um eine Gruppe Passagiere vorbeizulassen, die gerade an Land gekommen war und sich in die Stadt aufmachte.

»Oh, what a cute doggy!«, rief ein etwa sechzehnjähriges Mädchen und zeigte auf Bello. Dabei lächelte sie Prohaska an und genoss seine offensichtliche Verwirrung.

Erst als sie weg waren, wurde Prohaska klar, warum er das Mädchen so angestarrt hatte. Ihre Augen waren blau wie der Himmel über ihm. Die Suggestion hatte bereits gewirkt.

Er ging zu seinem alten Cabrio, klappte das Verdeck herunter, ließ Bello auf den Beifahrersitz hüpfen, stieg ein und verließ die Stadt. Für heute hatte er genug von Aufträgen, niedergebrannten Häusern, Orakelsprüchen und blauen Augen.

Neun

Als Marina aufwachte, wusste sie zunächst nicht, wo sie sich befand. In ihrem Kopf dröhnte es, als würde eine Herde Wildpferde vorbeigaloppieren, aber es waren nur Schritte von irgendwelchen Leuten, die draußen entlanggingen. Durch die geschlossenen Klappläden drang etwas Licht ins Zimmer, in dem außer dem Bett, auf dem sie lag, ein alter Kleiderschrank, ein Frisiertisch mit blinden Spiegeln und ein Stuhl standen. Von der Decke hing ein Lüster aus venezianischem Glas. Von der gegenüberliegenden Wand schaute aus einem vergoldeten Rahmen die Madonna mit flammendem Herzen milde lächelnd auf sie herunter.

Marina setzte sich langsam auf und sah auf die Uhr. Es war fünf vor zwölf.

»Wie passend«, murmelte sie und erschrak über ihre heisere Stimme. Ihre Hände fingen wieder zu zittern an. In ihren Eingeweiden rumorte es. Sie fühlte sich ausgelaugt und beschmutzt. Mit einem Schlag fiel ihr alles wieder ein.

Alma klopfte leise an der Tür.

»Bist du wach?«

»Ja, ja, einen Moment bitte.«

Marina stand hastig auf, ging zur Tür, öffnete und musste sich am Türrahmen festhalten, weil ihr schwarz vor den Augen wurde.

»Ist dir nicht gut?«

»Doch, doch, alles okay.«

»Ich habe Kaffee gemacht.«

»Danke.«

»Du hast sicher Hunger, komm, ich mache ein paar Spiegeleier.«

»Mach dir bitte keine Umstände.«

»Oder magst du lieber ein Brot mit Honig oder Schinken und Käse? Ich habe alles da, es dauert nur einen Moment.«

»Das musst du wirklich nicht.«

Alma schlurfte in die Küche, ohne auf Marinas Einwand zu hören, nahm einen Eierkarton aus dem Kühlschrank und trug ihn zum Herd.

»Ich habe ein paar Hühner und einen kleinen Gemüsegarten hinter dem Haus. Den Weinberg und das Ackerland habe ich verpachtet«, sagte sie, während sie eine Pfanne aus der Kredenz nahm und auf den Herd stellte. »Rührei oder Spiegelei?«

»Tante Alma, ein Kaffee reicht mir völlig. Wir gehen nachher in die Konoba und essen da etwas Feines.«

»Aber das ist doch viel zu teuer.«

»Nein, ist es nicht, mach dir da keine Gedanken.«

Es ist verrückt, sich in der Öffentlichkeit zu zeigen, dachte Marina, als sie zehn Minuten später unter der Dusche stand und sich die letzten Stunden von der Haut schrubbte. Andererseits, in Almas Begleitung würde niemand auf die Idee kommen, dass Marina, ihre hübsche Enkelin, eine Mörderin war. Sie musste sich nur völlig natürlich geben und darauf achten, dass ihre Hände nicht zu sehr zittern.

Nachdem sie sich abgetrocknet hatte, steckte sie ihre noch feuchten Haare hoch und legte Make-up auf. Ihre Augen waren gerötet, und die Unterlippe tat weh. Sie brauchte dringend ein paar neue, unauffällige Sachen zum Anziehen. In den engen Jeans und dem verwaschenen T-Shirt fühlte sie sich nicht mehr wohl.

Marina holte ihr Handy aus dem Rucksack, steckte das Ladekabel in die Steckdose neben dem Nachttisch und setzte sich auf die Bettkante. Sie war versucht, das Ding einzuschalten und in der Konoba, wo sie sicher WLAN hatten, im Internet nachzuschauen, ob in den Nachrichten etwas über Miros Tod gemeldet wurde. Er war tot, er musste einfach tot sein. Aber hatte es überhaupt jemand bemerkt? Er hatte keinen Kontakt mit den Nachbarn und sie war ziemlich sicher, dass sie es nicht mitbekamen, wann er kam und ging. Wenn die Polizei sie suchte, und das war durchaus möglich, würde man, sobald sie ihr Handy einschaltete, wissen, wo sie ist. Wenn sie es nicht schon lägst wussten. Sie sprang auf, als ihr klar wurde, dass man Handys auch orten konnte, wenn sie ausgeschaltet waren. Mit einem Ruck zog sie das Kabel aus der Steckdose und nahm die SIM-Karte heraus. Dann verstaute sie alles im Rucksack, nahm ein paar Scheine aus einem Geldbündel und schob sie in die Hosentasche. Hätte sie nur diese Diamanten im Safe gelassen, dachte sie, als sie das Samtsäckchen sah. Dann hätte sie jetzt eine Sorge weniger. Sie musste sie so schnell wie möglich loswerden. Aber wie? Wo verkauft man gestohlene Diamanten? In einem Juwelierladen? Man würde sie sofort anzeigen. Oder übers Ohr hauen. Wie ging man da vor? Sie hatte keine Ahnung von solchen Dingen. Vielleicht sollte sie sie bei Alma im Schrank verstecken? Nein, sie durfte ihre Großtante nicht in die Sache hineinziehen. Das wäre eine Katastrophe. Die alte Frau würde es nicht überleben. Es war alles so schrecklich kompliziert.

»Marina, ich bin fertig!«, rief Alma.

Marina zuckte zusammen.

»Okay, ich komme gleich.«

Als sie ein paar Minuten später das Haus verließen, setzte Marina die Sonnenbrille auf und bot Alma den Arm. Alma trug ein dunkelblaues Baumwollkleid mit Blümchenmuster und einen Bolero aus schwarzem Baumwollgarn, den sie selbst gehäkelt hatte.

»Du siehst schick aus, Tantchen«, sagte Marina und tätschelte ihr die Hand.

»Findest du? Ich weiß gar nicht, wann ich das letzte Mal ausgegangen bin. Es muss Jahre her sein«, sagte Alma und lachte, als sie langsam die Gasse hinaufgingen. »Ob wir überhaupt einen Tisch bekommen? Um die Uhrzeit ist es da immer voll.«

»Ganz bestimmt«, erwiderte Marina gedankenverloren und schaute zu einer Gruppe italienischer Touristen, die vom Stadttor heraufkamen und sich neugierig umschauten. Die Touristenführerin stand in der Mitte des Platzes und zeigte mal dahin, mal dorthin. Die Leute fotografierten die Kirche und den hohen Wehrturm und den Marmortisch in der kleinen Loggia des Rathauses auf der rechten Seite des Platzes, wo seit Jahrhunderten der Stadtrat zu tagen pflegte und wo auch heute noch der Bürgermeister nach altem Brauch gewählt wurde. Dabei schnitten die Männer eine Kerbe in ein ellenlanges Stück Holz. Der Kandidat mit den meisten Kerben war Sieger und der künftige Bürgermeister. Die Frauen waren selbstverständlich von der Wahl ausgeschlossen. Bis heute. Bei dem Gedanken verzog Marina den Mund. Was für die einen ein hübscher skurriler Brauch war, schien ihr eher die Bestätigung der Rückständigkeit zu sein. Dieser ewige rückwärtsgewandte Blick auf die glorreiche Geschichte, die von fremden Herrschern bestimmt war, diese Traditionsverliebtheit, der Folklorismus und die demonstrative Frömmigkeit waren in ihren Augen nichts anderes als Fassadenmalerei. Aber offensichtlich war den Menschen diese lieber als ein kritischer Blick auf die Zustände, wie sie tatsächlich waren. Und vielleicht war sie einfach viel zu müde vom Leben, um sich von dem vermeintlich schönen Schein täuschen zu lassen. Sobald sie die Möglichkeit fand, würde sie ins Ausland gehen, wo sie endlich zur Ruhe kommen würde. Auf jeden Fall so weit weg wie nur möglich.

Aus der Gruppe löste sich ein Mann und kam ihnen entgegen. Er hantierte mit einer Fotokamera, auf die er ein Teleobjektiv geschraubt hatte, blieb stehen, schob die Sonnenbrille über die Stirn, sah zu Marina und Alma und hob die Kamera vors Gesicht.

Am liebsten wäre sie davongerannt, doch das würde seine Aufmerksamkeit noch mehr auf sie lenken. Als sie aneinander vorbeigingen, drehte sie den Kopf weg und schaute zum Rosenbusch, der am Treppenaufgang eines Hauses wucherte. Der Mann ging langsam weiter. Marina drehte sich um. Er war stehen geblieben und schien konzentriert seinem Hobby nachzugehen. Dabei drehte er sich um die eigene Achse und drückte dabei auf den Auslöser. Marina hörte das Geräusch trotz des Stimmengewirrs der Touristen auf dem Platz.

»Was fällt ihm ein?«, murmelte sie und beschleunigte die Schritte.

»Wem?«, fragte Alma.

»Dem Mann, der eben vorbeigegangen ist.«

Alma schaute sich suchend um.

»Welchem?«

»Ach, ist nicht so wichtig«, erwiderte Marina und sah über die Schulter.

Der Mann stand am Ende der Gasse und fotografierte eine blühende Kletterpflanze, die vom Dach eines Steinhauses herabhing. Wieso mussten die Leute andauernd und überall Fotos machen? Man konnte sich doch die Dinge an Ort und Stelle anschauen und die Bilder im Gedächtnis behalten.

»Weißt du, ich sehe nicht mehr so gut. Der Arzt sagt, ich hätte den Grauen Star«, sagte Alma und riss Marina aus ihren Gedanken.

»Oh, das tut mir leid.«

»Da kann man nichts machen.«

»Man kann das operieren.«

»Ach, in meinem Alter lohnt sich das nicht.«

Als sie über die Treppe zur Loggia der Konoba hinaufkamen, begrüßte sie die Wirtin persönlich und deutete auf einem Tisch.

»Alma, wie schön, Sie zu sehen. Und das ist wohl Ihre Enkelin?«, fragte sie.

Marina nahm die Sonnenbrille ab und lächelte, während Alma das Verwandtschaftsverhältnis erklärte. Marina war sich nicht sicher, ob die Frau es wirklich so genau wissen wollte. Sie setzten sich. Marija nickte und schaute Marina neugierig an. Es fehlte nur noch, dass sie fragte, warum sie eine aufgeplatzte Lippe hatte.

»Tante Alma, sag, was möchtet du denn gerne essen?«, fragte sie, um die unangenehme Situation zu beenden.

Nach einigem Hin und Her mit Marija bestellte Alma Gnocchi mit Gulasch. Marina bat um Fuži mit Trüffeln und zwei Limonaden. Marija eilte davon und kam mit einem Körbchen frisch gerösteter Brötchen, stellte die Getränke und Gläser ab und wandte sich den anderen Gästen zu.

Marina knabberte an einem dreieckigen, noch warmen Brötchen und betrachtete die sanft geschwungenen grünen Hügel und das Tal, das sich unter ihnen ausbreitete, während Alma redete und redete. Marina nickte geistesabwesend und fragte sich, wie es nun mit ihr weitergehen sollte. Sollte sie ein paar Tage hierbleiben oder weiterfahren? Sollte sie sich der Polizei stellen oder untertauchen? Und wohin nur mit Miroslavs Wagen?

»… dann starb er«, sagte Alma gerade.

»Was? Wer?«

»Na, Božo, mein Mann.«

»Tut mir leid.«

Alma sah sie leicht irritiert an.

»Aber das weißt du doch. Welchen Tag haben wir heute eigentlich?«

»Zwölfter Juni.«

Alma nickte. »Ja, mein Gott, wie die Zeit vergeht. Božo starb am vierzehnten Juni, vor genau sieben Jahren. Wenn ich mich recht erinnere, warst du aber nicht bei der Beerdigung.«

»Nein, ich konnte nicht, hatte damals meine Abschlussprüfung.«

»Es war ein heißer Tag, fast so wie heute. Ich wollte nach dem Mittagessen den Tisch abräumen, als Božo sagte, er fühle sich gar nicht gut und werde sich kurz hinlegen. Er stand auf, stützte sich am Tisch ab und sank in sich zusammen. Ich versuchte ihn aufzurichten, aber er rührte sich nicht. Ich rief den Notarzt und lief zu den Nachbarn gegenüber. Sie legten Božo auf den Boden. Der Nachbar versuchte ihn mit Herzmassage und künstlicher Beatmung wiederzubeleben. Es war furchtbar. Der Krankenwagen brauchte über eine halbe Stunde, bis er da war. Aber da war er schon tot.« Alma wischte sich mit zitternden Händen über die Augen und lächelte. »Auch wenn unsere Ehe nicht immer die glücklichste war, vermisse ich ihn sehr.«

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