Читать книгу: «Die Sehnsucht der Kormorane», страница 2

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Vier

Der Benzinkanister lag unter einem wackeligen Plastiktisch in der Ecke des Schuppens. Karlović trug ihn zum Haus und schraubte den Verschluss auf.

»Hey, was machst du?«, fragte Viktor panisch.

»Siehst du doch. Gib mir den Schlüssel!«

Viktor tat es.

Karlović schloss die Tür auf und schüttete das Benzin auf die Treppe, über die Jacken an der Garderobe, auf den Steinboden in der Küche und den Teppich im Wohnzimmer. Dann ging er nach draußen, rannte ums Haus zum Pool neben der Terrasse und ließ dabei die Flüssigkeit aus dem Kanister laufen.

»Deine Maske!«, herrschte er Viktor an, der ihm fassungslos gefolgt war.

Viktor gab ihm das Ding.

Karlović zog seine Maske herunter, tränkte beide mit Benzin und kippte den Rest auf den Stapel Holzbohlen, die für die Terrasse geliefert worden waren. Dann warf er den Kanister achtlos zu Boden.

»Lauf zum Wagen, ich komme nach.«

»Mann, du bist komplett durchgeknallt.«

»Im Gegenteil, das nennt man Spurenbeseitigung. Solltest du auch nur eine Sekunde mit dem Gedanken spielen, mich zu verpfeifen oder abzuhauen, bist du ein toter Mann.«

Viktor schüttelte nur den Kopf.

»Verschwinde jetzt!«

Viktor rannte durch die finstere Allee zur Straße. Er war sicher, dass man seine Schritte hunderte Meter weit hören konnte. Aber das Rauschen des Blutes in seinen Ohren machte ihn fast taub. Wenn er jetzt die Polizei anriefe, könnte er den Irren vielleicht noch stoppen. Er war sicher, dass Karlović den Mann erschossen hatte. Wenn er Alarm schlug, würde man ihn als Mittäter verhaften. Nein, er konnte es nicht tun. Aber morgen, wenn Karlović hoffentlich fort war, würde er sich stellen.

Währenddessen zündete Karlović mit seinem Feuerzeug die Sturmmasken an und schleuderte sie in die Diele. Flammenzungen glitten wie Schlangen über den Steinboden zum Teppich im Wohnzimmer, rollten in die Küche und lechzten die Treppe hoch. Die Jacken an der Garderobe loderten hell auf. Im Nu fraßen sich die Flammen durch das ganze Haus. Als ihm der beißende Brandgeruch, die Hitze und der Rauch entgegenschlugen und den Atem raubten, wandte er sich ab, knallte die Tür zu und rannte los.

Viktor lief zum Wagen, sprang ans Steuer und fuhr zum Schotterweg vor. In diesem Moment explodierte die Gasflasche unter der Küchenspüle. Die Detonation war ohrenbetäubend, die Fensterscheiben zersplitterten, Klappläden barsten, Splitter schossen in alle Richtungen. Die dunkle Rauchwolke wand sich unheilvoll über den Flammen, die das Haus verschlangen.

»Was für ein verdammter Idiot!«, schrie Viktor, als er am Kiesweg hielt und dem Inferno zusah.

Die Beifahrertür wurde aufgerissen. Karlović stieg ein und schallte sich an.

»Mach die Scheinwerfer aus.«

»Du blutest«, sagte Viktor tonlos.

Karlović wischte sich mit der Hand übers Gesicht und schlug Viktor auf den Oberarm.

»Fahr endlich!«

Viktor schaltete die Scheinwerfer aus, gab Gas, bremste nach ein paar Metern ab und riss das Lenkrad nach links, um auf die Straße zu kommen. Um ein Haar hätte er die Straßenlaterne gerammt.

»Spinnst du?«, brüllte Karlović.

»Ich nicht!«

Hinter ihnen wütete das Feuer. Dachziegel krachten herunter, der Schuppen, die Bäume und die Lorbeerhecke gingen prasselnd in den Flammen zugrunde. Dicker Rauch verpestete die Luft, Funken flogen wild umher und die glühende Hitze stieg zum Himmel empor. In mehreren Häusern am Hang gingen die Lichter an. Eine Frau schrie von einem Balkon um Hilfe. Bei der Feuerwehr und dem Polizeirevier gingen die ersten Notrufe ein.

Fünf

Es ist eine seltsame Sache mit der Zeit, dachte Prohaska, als er mit einer Tasse Kaffee auf die Terrasse ging. An manchen Tagen zogen sich die Stunden wie zähes Karamell dahin und man konnte meinen, die Nacht würde niemals hereinbrechen. Und an anderen wunderte er sich, dass schon wieder zwei Stunden vergangen waren, ohne dass er es bemerkt hatte.

Aber im Grunde konnte ihm die Zeit egal sein. Hier musste er nicht nach der Uhr leben. Wie oft war er nach einem langen Tag erschöpft ins Bett gefallen, doch kaum, dass er eingeschlafen war, vom Wecker oder einem Anruf aus dem Schlaf gerissen worden, um ohne Frühstück ins Präsidium oder zu einem Tatort zu fahren? Und dabei musste er stets einen kühlen Kopf zu bewahren, seine Kolleginnen und Kollegen motivieren und unterstützen.

Wenn er an seinen letzten Einsatz dachte, bei dem er angeschossen wurde und sein Leben danach aus den Fugen geraten war, zog sich sein Magen zusammen. Dennoch musste er sich allen Widrigkeiten zum Trotz, die er damals zu bewältigen hatte, eingestehen, dass er seine Arbeit manchmal sehr vermisste. Schließlich hatte er seinen Dienst nicht freiwillig beendet, sondern wurde von einem durchgeknallten Typen von einer Sekunde zur anderen aus der Bahn katapultiert. Der Mann hatte sich nach einem heftigen Streit mit seiner Noch-Ehefrau mit der gemeinsamen fünfjährigen Tochter in der Wohnung verschanzt. Die Frau konnte zu den Nachbarn fliehen und die Polizei verständigen. Er drohte, das Kind und sich selbst zu erschießen, wenn die Frau nicht zu ihm zurückkehrte. Als sich herausstellte, dass der Mann aus dem ehemaligen Jugoslawien stammte, wurde Prohaska hinzugerufen. Er sollte versuchen, den Mann zur Aufgabe zu überreden. Doch der wurde noch wütender und beschimpfte Prohaska als Verräter. Als die Lage zu eskalieren drohte, stürmten sie die Wohnung. Der Mann saß auf der Couch und hielt das Kind fest. Prohaskas Kollege forderte ihn auf, die Waffe fallen zu lassen. Doch der Mann schoss sofort und der Kollege stürzte tödlich getroffen zu Boden. Der Mann sprang auf, das Kind riss sich los und rannte zu Prohaska, der in der Tür stand und das Kind nach draußen schob. Als er sich wieder umdrehte, stand der Mann da und zielte auf ihn. Sie schossen gleichzeitig. Der Mann kippte auf die Couch zurück. Prohaska hatte ihn am rechten Arm getroffen. Er selbst schlug mit dem Rücken gegen die Wand und sackte in sich zusammen. Weitere Polizisten stürmten herein, fixierten den Mann. Alle schrien durcheinander. Prohaska starrte auf sein linkes Bein. Überall war Blut. Er wurde ohnmächtig und wachte erst nach einer mehrstündigen Operation auf. Die Verletzungen waren schwer. Nach drei Wochen wurde er aus der Klinik entlassen und kam in die Reha. Danach folgte die Gerichtsverhandlung, bei der er freigesprochen wurde, da ihm die Richter Notwehr zubilligten. Aber arbeiten konnte er nicht. Er bekam Depressionen und wurde schließlich frühpensioniert. Die Kollegen riefen immer seltener an, er hing zuhause herum, wurde aufbrausend. Seine Frau Heidi, die als Schreibkraft ebenfalls bei der Polizei arbeitete, kümmerte sich um alles, machte Überstunden, warf ihm schließlich vor, sich gehen zu lassen. Sie stritten sich und versöhnten sich halbherzig und schwiegen dann tagelang. Die Tochter Anna begann nach dem Studium zu arbeiten und zog von zu Hause aus. Als er nach Wochen ohne Krücken gehen konnte, hatte Prohaska sich wieder aufgerappelt. Er machte Spaziergänge und entdeckte sein altes Hobby, das Fotografieren. Er fuhr mit dem Auto durch die Gegend und war bald jeden Tag unterwegs. Es schien, als würde alles wieder in Ordnung kommen. Doch dann fand er eines Morgens seine Frau im Badezimmer auf dem Boden liegend. Sie war nicht ansprechbar, er versuchte sie wiederzubeleben, rief den Notarzt. Doch es war zu spät. Heidi hatte einen schweren Schlaganfall erlitten und war tot.

Als er seinem Freund Ivo Horvat davon erzählte, schlug dieser vor, für einige Zeit nach Rovinj zu kommen. Prohaska wollte es sich überlegen. Doch nach einem Vierteljahr hielt er es nicht mehr allein in der Wohnung aus, stellte die Möbel in einem Lagerhaus unter, vermietete die Wohnung und fuhr nach Istrien. Die erste Zeit wohnte er bei Ivo und Miranda. Über einen Makler fand er ein altes Steinhaus in Kloštar. Er kaufte es sofort, renovierte es mit ein paar Handwerkern, die Ivo gefunden hatte, und als es fertig war, holte er einen Teil seiner Möbel aus Stuttgart ab. Da Ivos Fotoladen seit einiger Zeit nicht so gut lief und Prohaska sich auch nicht vorstellen konnte, den Rest seines Lebens untätig zu sein, bot er Ivo an, ihm finanziell zu helfen, und wurde sein stiller Teilhaber.

Prohaska hatte nie bereut, dass er nach Istrien gezogen war. Er war gerne Fotograf, war finanziell unabhängig und konnte tun und lassen, was er wollte. Und dennoch fehlten ihm die Aufregungen und Herausforderungen, die er früher bei der Polizeiarbeit gehabt hatte.

Das war wohl der Grund, warum er sich hier allzu leicht in irgendwelche Kriminalfälle hineinziehen ließ. Er war ein Polizist und würde es sein Leben lang bleiben, egal wo und wie er lebte.

Ivo sah diese Rückfälle nicht gern und machte sich Sorgen, dass Prohaska eines Tages in ernsthafte Schwierigkeiten geraten könnte. Und tatsächlich verspürte Joe seit seinem letzten »Fall« kaum noch Lust, sich als Privatermittler zu betätigen. Streng genommen war es ja illegal. Er hatte weder die Befugnisse eines Polizeibeamten noch eine Lizenz als Privatdetektiv. Deshalb hatte er diesbezügliche Anfragen, die man mehr oder weniger hinter vorgehaltener Hand an ihn gerichtet hatte, abgelehnt. Allerdings hatte er doch einmal der Bitte von Inspektor Rossi nachgegeben, ihn für eine gelegentliche Zusammenarbeit zu gewinnen.

Er trank einen Schluck Kaffee, zündete sich eine Zigarette an und versuchte, die trüben Gedanken zu verscheuchen.

So gut es eben ging.

Am Abend zuvor hatte er bis tief in die Nacht am Rechner gesessen und die unzähligen Fotos, die er von Hochzeiten, Kindergeburtstagen oder anderen Anlässen gemacht hatte, sortiert, bearbeitet oder gelöscht. Die besten auftragsfreien Aufnahmen hatte er auf einem Stick gespeichert. Die Sache mit dem geplanten Istrien-Bildband zog sich hin. Der Mann vom Verlag hatte beim letzten Telefonat versprochen, sich bald zu melden, aber das war auch schon wieder Wochen her. Prohaska nahm sich vor, ihm in den nächsten Tagen zu schreiben und zu fragen, ob er das Buch nun in sein Verlagsprogramm aufnehmen wollte oder nicht. Falls nicht, würde er sich nach einem anderen Verleger umsehen.

Mittlerweise konnte er sich die Aufträge als Fotograf aussuchen. Was ihm schon schmeichelte, da er sich immer noch als Amateur betrachtete. Nie hätte er gedacht, dass er auf seine alten Tage, wie er scherzhaft sagte, da er sich mit knapp Fünfzig absolut nicht alt fühlte, als Fotograf Karriere machen würde.

Ivo scheute keine Mühe, für Prohaska die Werbetrommel zu rühren. Eine Visitenkarte hier, ein Wort dort, reichten schon aus. Die Mundpropaganda funktionierte am besten, vor allem, wenn Ivo sagte, Joe Prohaska habe leider kaum Kapazitäten, doch es lasse sich bestimmt ein Termin finden. Er sei gerade bei einer Hochzeitsfeier, drüben in dem piekfeinen Fünf-Sterne-Hotel, die Eltern der Braut gehörten zu den oberen Zehntausend in Zagreb. Oder er sei bei der Einweihung der Niederlassung irgendeines Konzerns. Aber was solle man machen, Geld regiere nun mal die Welt. Die Zeiten seien schlecht, waren es schon immer gewesen, und man müsse zusehen, wo man bleibt. Doch das sagte Ivo nicht laut. Er deutete es lediglich mit ein paar Wortfetzen und Gesten an, das genügte, um bei den Leuten Eindruck zu schinden.

Überhaupt, dachte Prohaska und drückte die Zigarette im Aschenbecher aus, waren die meisten Menschen leicht zu beeindrucken. Und Ivo war, was Prohaskas Person und seine Fotokunst betraf, zu einem Meister der Andeutungen geworden.

»Du bist ein Künstler und als solcher solltest du eine Aura haben und dein Image pflegen. Du musst geheimnisvoll und unnahbar wirken, vor allem gewissen Damen gegenüber, die dich anhimmeln oder sogar verführen wollen«, dozierte er, wenn sie in dem winzigen Hinterzimmer des Ladens, das als Warenlager und Kaffeeküche diente, Mokka schlürften und rauchten.

»Jetzt bleib aber auf dem Teppich«, hatte Prohaska amüsiert erwidert, als Ivo sich wieder einmal ausmalte, wie reich sie werden könnten, wenn Joe als der beste Portraitfotograf im Land, ja in ganz Europa, berühmt würde und ihn die Reichen und Schönen, oder Filmstars aus Hollywood, die mit ihren dicken Autos und Jachten nach Rovinj kamen, engagierten. Oder das englische Königshaus selbst riefe nach ihm. Prohaska hatte schallend gelacht und versprach, mit aller ihm zur Verfügung stehenden Geisteskraft an seiner Aura und dem Image zu arbeiten.

»Aber die Sache mit dem englischen Königshaus kannst du vergessen. Erstens hat die Queen ihren eigenen Hoffotografen, und zweitens bin ich nicht interessiert.«

Er hatte den Satz leicht durch die Nase gesprochen, eine Augenbraue gehoben und dabei eine unsichtbare Fussel von seinem Jackenärmel geschnippt.

Ivos Herz schlug zwar in alter Familientradition links, aber insgeheim bewunderte er den englischen Hochadel und dessen unermesslichen Reichtum. Schade fand er nur, dass sich die Engländer derzeit vom Kontinent distanzierten und aus der Europäischen Union aussteigen wollten, die ihr Premier Churchill nach dem Zweiten Weltkrieg doch selbst angeregt hatte.

Nachdem sich Bello im Garten ausgetobt hatte, rannte er in die Küche und schlabberte sein Futter in Windeseile auf. Prohaska ging ins Badezimmer und stellte sich unter die Dusche. Aber kaum, dass er sich eingeseift hatte, klingelte sein Handy, das auf dem Toilettendeckel lag. Prohaska ließ es einfach klingeln. Eine Minute später lärmte das Ding schon wieder.

Prohaska drehte das Wasser ab und meldete sich.

»Hey, guten Morgen, habe ich dich etwa geweckt?«, fragte Ivo gut gelaunt.

»Nein, nein, ich war nur schnell unter der Dusche.« Prohaska stieg aus der Duschkabine und wickelte sich in ein Handtuch ein. »Was gibt es?«

»Du hast einen neuen Auftrag.«

»Schön, aber hat es nicht Zeit bis später?«

»Klar, ich war nur neugierig, wie lange du schläfst.«

»Ich bin seit Stunden auf. Was ist es für ein Auftrag?«

»Eine Frau hat angefragt, ob du zwei oder drei Tage Zeit hättest, eine Gruppe von Geschäftsleuten zu begleiten. Sie kommen übermorgen nach Pula und wollen sich nach dem offiziellen Teil Istrien ansehen. Nur die wichtigsten Orte. Du kannst die Route selbst bestimmen und sollst dabei Fotos für ihre Webseite machen.«

»Aha, und wie kommt die ausgerechnet auf mich?«

»Ein Bekannter, der mal hier auf Urlaub war, hat dich empfohlen. Aber du kannst die Leute selbst fragen, wenn sie da sind. Ich habe ihr jedenfalls einen angemessenen Tagessatz genannt, plus Spesen und eventuelle Übernachtungskosten. Die Frau sagte, wenn alles zu ihrer Zufriedenheit läuft, sei das okay.«

Prohaska sagte nichts dazu.

Er trocknete sich ab und ging ins Schlafzimmer. Je länger er Ivo zuhörte, desto weniger Lust hatte er, mit irgendwelchen Geschäftsleuten durch die Gegend zu fahren und den Fremdenführer zu spielen. Andererseits, sagte er sich, während er Unterwäsche und Socken aus dem Schrank kramte und sich anzog, könnten sie das Geld gut gebrauchen.

»Wann kommen sie denn genau an und wo treffe ich sie?«

»Sie schickt mir noch die Infos und Kontaktdaten per E-Mail. Ach ja, ihr schien es sehr wichtig zu sein, dass du ein korrektes Deutsch sprichst.«

Prohaska lachte. »Sonst noch Wünsche?«

»Das hat sie mir nicht verraten. Aber ehrlich gesagt, ich habe sie auch nicht gut verstanden.«

»Wieso?«

»Sie hatte einen starken Akzent und mein Deutsch ist leider etwas eingerostet.«

»Das kommt davon, weil du dich immer auf mich verlässt. Ich bin doch kein Dolmetscher«, sagte Prohaska und kicherte.

»Du kannst gut lachen.«

Prohaska ließ sich auf die Bettkannte fallen.

»War’s das? Ich muss mich anziehen. Wir sehen uns ja nachher.«

»Warte kurz! Hast du schon die Nachrichten gehört?«

»Nein, noch nicht.«

»Letzte Nacht ist in Ičići ein Haus abgebrannt.«

»In Ičići?«, fragte Prohaska. Das Küstenstädtchen lag auf der Ostseite von Istrien, ein paar Kilometer von Opatija entfernt. »Das ist zwar schlimm, aber wieso interessierst du dich dafür?«

Ivo überhörte die Frage geflissentlich und sprach weiter.

»Die Feuerwehr hat immer noch Probleme, die Glutnester einzudämmen. Wenn da erst einmal der Wald brennt, dann gute Nacht.«

»Hoffentlich gab es keine Verletzten.«

»In den Trümmern wurde ein Toter gefunden beziehungsweise das, was von ihm übriggeblieben ist. Die Polizei hat die Ermittlungen aufgenommen.«

Prohaska zog sich an und ging in die Küche.

»Und warum erzählst du mir das?«

Ivo räusperte sich.

»Nun, ich dachte, du könntest vielleicht hinfahren und …«

»Ich soll was?«

»… und ein paar Fotos machen. Die könntest du den Zeitungen anbieten.«

»Bist du verrückt geworden? Die haben ihre Fotografen, außerdem sind es hundert Kilometer von hier nach …«

»Zweiundachtzig.«

»Von mir aus, man braucht trotzdem über eine Stunde. Und da es dort noch brennt, wie du gesagt hast, ist das Gelände bestimmt gesperrt. Man kann da nicht einfach reinlatschen und fotografieren. Und außerdem, ich bin kein Paparazzo!«

»Jetzt reg’ dich nicht gleich so auf. Ich dachte nur, bevor du dich in deinem Dorf zu Tode langweilst, wäre das eine gute Möglichkeit …«

»Ivo, vergiss es, okay? Ich langweile mich nie. Und falls du dringend Geld brauchst, sag es einfach, du führst doch die Buchhaltung.«

»Mensch, es geht doch nicht darum, und die Buchhaltung ist auf dem neuesten Stand. Ich dachte nur …«

»Schon gut, du weißt, wie ich das gemeint habe«, sagte Prohaska versöhnlich.

»Kein Problem.«

»Okay, dann bis später.«

»Ach ja, heute sind wieder mal verstärkte Verkehrskontrollen angesagt, also fahr nicht zu schnell.«

»Was du so alles weißt am frühen Morgen.«

»Früh? Es ist fast halb zehn, und es kam vorhin im Radio.«

»Danke für den Hinweis. Ich halte mich an die Vorschriften, meistens jedenfalls.«

Sechs

Es dämmerte bereits, als sie auf eine schmale Straße bog, die sich den Berghang hinaufwand. Über den Tälern lagen dünne Nebelschleier, als hätte jemand die Landschaft mit einem Seidentuch bedeckt. Dann tauchte am Ende der Straße die mächtige Stadtmauer von Hum auf.

Das Städtchen war wie so viele andere in Istrien von den Venezianern entlang der Grenze zum Osmanischen Reich auf einer Bergkuppe erbaut worden und diente als militärischer Grenzposten. Im Laufe der Jahrhunderte wurden viele dieser Festungen zerstört, von der Pest entvölkert oder von Napoleons Truppen zerstört. Dank ihrer exponierten Lage waren sie eine begehrte Kriegsbeute. Hier lebten schon immer gottesfürchtige Menschen, die ihrem Tagwerk nachgingen, dem Dogen in Venedig oder dem Kaiser in Wien die Steuern zahlten, sich ansonsten wenig um die große Politik scherten, da sie ohnehin nur ihr Spielball waren.

Marina war sich nicht sicher, ob Hum mit dem Dutzend Häusern und etwa zwanzig Einwohnern tatsächlich die »kleinste Stadt der Welt« war und ob sie im Guinnessbuch stand. Jedenfalls war es ein toller Werbeslogan, der Scharen von Touristen aus aller Welt hierherlockte. Sie war sich auch nicht sicher, ob es den Einwohnern von Hum wirklich immer angenehm war, innerhalb ihrer geschichtsträchtigen Mauern von fremden Menschen fotografiert zu werden, die mit Bussen angekarrt wurden und nach einer oder zwei Stunden Aufenthalt zum nächsten Tourismusort entschwanden. Für sie war im Moment nur wichtig, von der Bildfläche zu verschwinden und sich zu überlegen, wie es weitergehen sollte.

Hoffentlich bekam Tante Alma, eigentlich war es ihre Großtante, keinen Herzanfall, wenn sie sie jetzt aus dem Bett scheuchte. Sie hatten sich seit einer Ewigkeit nicht gesehen, und Marina hoffte, dass Alma noch geistig fit war und ihr nicht zu viele Fragen stellte.

Sie musste sich unbedingt eine plausible Geschichte ausdenken. Doch dann schoss ihr ein Gedanke durch den Kopf, der sie frösteln ließ. Was, wenn Alma inzwischen gestorben war? Sie musste mittlerweile weit über achtzig sein.

Als sie das Ende der Straße erreicht hatte, hielt sie an. Hinter der dicken Stadtmauer verbargen sich die Häuser wie Perlen in einer Muschel. Marina ließ die Seitenscheibe hinuntergleiten und sog die kühle Morgenluft ein. Es war so wunderbar still hier oben, dass Marina sich scheute, den Motor wieder zu starten. Aber sie musste weiter.

Doch wohin jetzt mit dem Wagen? Sie könnte ihn vor dem Stadttor mit den glagolitischen Schriftzeichen abstellen. Es würde niemanden verwundern. Aber das Tor war vielleicht geschlossen wie im Mittelalter. Oder sollte sie ihn auf dem öffentlichen Parkplatz unterhalb des Friedhofs abstellen? Oder links um die Mauer zur unteren Seite von Hum fahren? Der Weg war inzwischen asphaltiert. Als sie das letzte Mal hier gewesen war, gab es dort nur einen unebenen Trampelpfad mit weißen Steinbrocken, die wie Gebeine von Riesen aus der Erde ragten. Andererseits, wenn sie den Wagen auf dem großen Parkplatz stehen ließ, würde er nicht weiter auffallen. In wenigen Stunden werden die Touristen kommen, um sich dieses Kleinod der mittelalterlichen Festungsarchitektur anzuschauen und dabei jedes Haus, jeden Blumentopf und jede Katze zu fotografieren, die ihnen über den Weg lief. Danach werden sie in der Konoba einen Kaffee trinken oder etwas essen, dabei die herrliche Aussicht genießen und wieder wegfahren. Das hatte sie bei ihrem ersten Besuch hier ja auch getan. Aber was, wenn der schicke Wagen doch jemandem auffiel und man die Polizei verständigte? Sehr bald würden in den Nachrichten und im Internet die Meldungen über den Brand in Ičići kommen.

Im Osten schimmerte der Himmel in Zartrosa, Gelb und Orange. Die Morgendämmerung wich den Sonnenstrahlen, die am Horizont aufleuchteten. In den Tälern lagen silbrige Nebelschleier. Auf den Grashalmen glitzerten die Tautropfen wie Tränen. In den Wäldern ringsum zwitscherten die ersten Vögel.

Marina fuhr nach links. Der schmale Schotterweg endete nach knapp hundert Metern. Sie stellte den Motor ab, nahm den Rucksack, stieg aus und drückte die Tür zu. Dann rannte sie an der Stadtmauer entlang und bog in die erste der zwei Gassen, in der Tante Alma wohnte. Die Häuser drückten sich aneinander, als würden sie sich gegenseitig wärmen wollen. So leise wie möglich lief sie über das bucklige Pflaster und blieb dann vor einem Häuschen auf der rechten Seite stehen. Die blaue Tür war von einer uralten Bougainvillea eingerahmt. Im kleinen Vorgarten wuchsen Lavendel und Kakteen und in einem Terrakottakübel blühte ein weißer Oleander.

Marinas Hand zitterte, als sie an die Tür klopfte. Aber nichts rührte sich. Sie klopfte noch einmal, etwas lauter. Immer noch nichts. Sie drückte kurz auf die Klingel und zuckte zusammen, weil der scheppernde Ton so laut war, dass sie befürchtete, die Nachbarn könnten aus ihren Betten fallen.

Während sie dastand, trippelte sie auf der Stelle. Ihre Blase drohte zu platzen. Weiter oben auf dem Platz, von dem es zum Stadttor, zur breiten Gasse mit Treppe hinauf zum Turm und zur Kirche ging, die für diesen kleinen Ort viel zu riesig erschien, huschte eine Katze vorbei und verschwand im Schatten eines Hauseingangs.

Endlich hörte sie Schritte hinter der Tür.

»Wer ist da?«, fragte Alma mit leiser Stimme.

»Ich bin’s, Marina, bitte, mach schnell auf.«

»Ich kenne keine Marina.«

»Tante Alma, ich bin Maja, die Tochter von Emilia.«

Die Tür ging einen Spalt auf. Das Gesicht der alten Frau, die Marina misstrauisch musterte, war blass. Ihre Augen lagen tief in ihren Höhlen, die weißen Löckchen standen ihr nach allen Seiten vom Kopf ab. Über ihren schmalen Schultern, die sich unter dem Morgenrock abzeichneten, hatte sie sich ein Wolltuch gelegt.

»Maja?«

»Ja, darf ich hereinkommen?«

»Mein Gott, aber natürlich. Ist denn wer gestorben?«

»Ja, ich meine, nein, ich erzähle es dir gleich, ich muss nur dringend auf die Toilette.«

Alma öffnete die Tür ganz und ging einen Schritt zur Seite.

»Da drüben, die zweite Tür links.«

»Danke.« Marina lächelte, drückte sich an Alma vorbei und verschwand im Badezimmer.

Was sollte sie ihr bloß erzählen? Die Wahrheit auf keinen Fall, überlegte sie, während sie sich die Hände und das Gesicht wusch. Aus dem Spiegel starrte sie ein kreidebleiches Gespenst mit geschwollenen Augenlidern und einer blutigen Schramme an der Unterlippe an, die beim Sprechen immer noch weh tat.

Als sie wieder herauskam, war Alma in der Küche und deckte wie in Zeitlupe den Tisch, da ihre Hände immer noch zitterten.

»Tut mir leid, dass ich dich geweckt habe, ich wollte dich nicht so erschrecken«, sagte Marina und küsste Alma auf die Wange.

»Ach was, das macht doch nichts, es ist nur mein Kreislauf.« Sie lächelte verlegen und strich sich eine Strähne aus der Stirn. »Aber bitte, setz’ dich doch, ich mache uns einen Kaffee.«

Marina legte den Rucksack auf die Eckbank in der Küche und setzte sich.

»Ich wollte dich anrufen, dass ich vorbeikomme, aber dann habe ich in der Eile deine Telefonnummer nicht gefunden.« Marina hoffte, dass Alma ihre kleine Lüge nicht bemerkte.

»Ach, ist doch kein Problem. Ich freue mich, dass du da bist. Wie geht es dir?«

Alma nahm ein rotes Emailkännchen aus der Kredenz und tastete nach den Streichhölzern, die auf dem Fensterbrett lagen. Dann schaltete sie den Gasherd ein und zündete nach mehrmaligen Versuchen ein Streichholz an.

Sie ist ja fast blind, dachte Marina. Und jetzt belästige ich sie auch noch, ich hätte nicht herkommen sollen, hätte mich schon irgendwie nach Italien oder Österreich durchgeschlagen, es wäre besser, nach einer höflichen halben Stunde zu gehen, aber damit würde ich sie wahrscheinlich noch mehr irritieren.

Marina lehnte sich zurück und wäre am liebsten auf der Stelle eingeschlafen. Sie war so müde, gleichzeitig aber aufgekratzt, auf sich selbst und vor allem auf den Mann wütend, der sie so weit gebracht hatte, dass sie alle Vernunft vergessen und ihn in die Hölle befördert hatte.

Ich sollte mich stellen, sagte sie sich immer wieder. Dann würde sie der Polizei alles sagen, was sie über Miro und seine Machenschaften wusste. Wenn die anderen sie aufspürten, war sie verloren.

Und jetzt musste sie hier ganz ruhig und normal wirken und sich eine einigermaßen plausible Geschichte ausdenken. Oder eine verrückte, Hauptsache, Alma wurde nicht misstrauisch.

Marina schaute sich um. Die alte Kuckucksuhr, die angeblich aus dem Schwarzwald stammte, tickte an der Wand neben der Kredenz mit der abblätternden hellblauen Farbe. Auf dem Kühlschrank stand eine Vase aus venezianischem Glas mit roten Plastiknelken, auf dem Esstisch lag eine abwaschbare Tischdecke mit Rosenmuster, an der Wand hing ein Kirchenkalender. Auf dem Foto war der Papst inmitten einer Menschenmenge zu sehen. Er küsste ein weinendes Kleinkind, das ihm eine Frau entgegenhielt.

Hier hatte sich nichts verändert.

»Wie lange haben wir uns eigentlich nicht gesehen? Zehn Jahre?«, fragte Alma und riss Marina aus ihren Gedanken.

»Ja, so ungefähr. Ich war fünfzehn oder sechzehn.«

»Deshalb habe ich dich auch nicht gleich erkannt. Du bist so dünn geworden. Wie geht es deiner Mutter und den anderen?«

»Wie immer, nehme ich an«, erwiderte Marina und hoffte, dass sie nicht über ihre Familie reden musste.

Alma ging zur Spüle, füllte das Kännchen mit kaltem Wasser, wobei die Hälfte daneben lief, und stellte es vorsichtig auf den Herd.

»Ja, es ist nicht einfach. Ich habe deine Mutter immer ganz besonders gemocht. Sie ist meiner Schwester, also deiner Großmutter, Gott hab sie selig, wie aus dem Gesicht geschnitten.«

»Ja, ich weiß.«

»Der Kaffee ist gleich fertig. Dann erzählst du mir, was passiert ist.« Sie nahm ein Päckchen Kaffee aus der Kredenz und einen kleinen Löffel.

Marina stand auf.

»Ja, aber lass mich das bitte machen.«

»Na gut.«

Alma setzte sich und erzählte von Marinas Großmutter und anderen längst verstorbenen Verwandten.

»Stört es dich, wenn ich rauche?«, fragte Marina, als der Kaffee fertig war. »Ich mache auch das Fenster auf.«

Alma schüttelte den Kopf. Oder es kam Marina so vor, denn als Alma ihre Tasse an den Mund hielt, wurde Marina klar, dass das Zittern nicht aufgehört hatte.

»Nein, mach nur.«

»Geht es dir gut? Ist dir kalt?«

Alma lächelte, als sie Marinas besorgten Blick bemerkte.

»Nein, ich muss erst meine Tabletten nehmen.«

»Wo sind sie? Ich hole sie dir.«

»Im Schlafzimmer auf dem Nachttisch.«

Nach dem Kaffee hatte Marina gerade noch so viel Kraft, um Alma zu erzählen, warum sie in aller Herrgottsfrühe bei ihr hereingeschneit war.

Sie habe sich nach einem Streit von ihrem Freund endgültig getrennt und sei mit seinem Auto weggefahren. Er sei eigentlich nicht ihr richtiger Freund, aber die Geschichte sei zu kompliziert. Er habe sie nicht gut behandelt und sie habe sich nicht gewehrt. Doch irgendwann sei es einfach zu viel für sie gewesen, und sie habe ihn verlassen müssen. Alma solle sich keine Gedanken machen, sie werde sie nicht lange stören.

»Aber Kind, was redest du da? Du störst mich nicht, ganz im Gegenteil. Vielleicht solltest du mit deinem Freund reden.«

»Da gibt es nichts mehr zu sagen, es ist aus, ein für alle Mal! Und ich bin froh, dass ich ihn verlassen habe.«

»Wenn du meinst, dass es besser ist. Ich möchte dir da nicht dreinreden.«

Dann hatte Marina sich hingelegt und war auf der Stelle eingeschlafen.

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