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3.2 Lehrpersonen lernen – auch in informellen Kontexten

Berufsbiografische und Expertenforschung haben darauf hingewiesen, dass sich das Wissen und Können von Lehrpersonen im Beruf entwickelt (Shulman, 1986; Messner & Reusser, 2000). Sie lernen jedoch nicht nur im Kontext von formalen Lerngelegenheiten wie einem Weiterbildungskurs, sondern auch in informellen Kontexten und am Arbeitsplatz während der alltäglichen Arbeit. Tynjälä (2008) fasste aus verschiedenen Studien Arten des Lernens am Arbeitsplatz zusammen. Die meisten entsprechen Lernen in informellen Kontexten:

1 während der Arbeitsausübung;

2 durch Zusammenarbeit und Kooperation mit Kollegen und Kolleginnen;

3 durch die Arbeit mit den Schülerinnen und Schülern;

4 durch das Übernehmen von Herausforderungen und neuen Aufgaben;

5 durch die Reflexion und Evaluation der eigenen Arbeit;

6 durch formale Lerngelegenheiten wie Weiterbildungen

7 in Kontexten ausserhalb der Arbeit.

Lehrpersonen geben sogar an, vor allem in informellen Kontexten zu lernen (vgl. z.B. Dunn & Shriner, 1999; Kwakman, 2003; van Eekelen, 2005; Kunz Heim, Trachsel, Rindlisbacher & Nido, 2007). Das tun sie auch im Vergleich zu anderen (akademischen) Professionen umfangreich (für Deutschland vgl. Heise, 2009; für die Schweiz Balmer, 2013). Für die Schweiz liefert beispielsweise Landert (1999) weitere Indizien: Lehrpersonen nennen selbstorganisierte «individuelle Weiterbildung» in ihrer Bedeutung viermal häufiger als die institutionelle. Selbstbestimmte individuelle Studien, in zwei Umfragen mit «Eigene Studien» bezeichnet, werden sowohl Mitte der 1990er-Jahre wie auch rund 15 Jahre später bei einer repräsentativen Umfrage im Kanton Bern von rund 50 Prozent der Lehrpersonen als Gründe genannt, warum sie nicht mehr Weiterbildungsangebote besuchten (Landert, 1999; Balmer, 2011). Im Rahmen der TALIS-Befragung von 2008 (Teaching and Learning International Survey) berichten Lehrpersonen, dass neben qualifizierenden Programmen und individueller oder kollaborativer Forschung informelle Dialoge zur Verbesserung des Unterrichts die grösste Wirkung auf ihren Unterricht haben (OECD, 2009).

3.3 Berufserfahrung bedeutet nicht, Expertise entwickelt zu haben

Allerdings wird das berufliche Wissen und Können nicht einfach mit den Jahren beiläufig erworben. So gibt es bisher keine Studie, die zeigen würde, dass mit den Erfahrungsjahren einer Lehrperson die Lernwirksamkeit ihres Unterrichts zunimmt (Stern, 2018). Auch hängt das fachliche und fachdidaktische Wissen von Lehrpersonen nicht mit der Berufserfahrung zusammen. Jüngere und ältere Lehrpersonen unterscheiden sich nicht systematisch in ihrem Wissen (Brunner et al., 2006). Das verweist auf bedeutsamere Faktoren als die «Erfahrung» für das Lernen der Lehrpersonen und die Entwicklung ihrer Expertise. Allerdings zeigt die Expertiseforschung auch, dass sie sich erst durch die beruflichen Erfahrungen entwickelt, sie ist also nach der Grundausbildung noch nicht gegeben. Daraus lässt sich folgern, dass sie wesentlich von der einzelnen Person, ihrem Arbeitskontext und der bewussten Nutzung von Lerngelegenheiten abhängig ist.

3.4 Lehrpersonenlernen

Aus der empirischen Tatsache, dass Lehrpersonen unterschiedlich effektiv unterrichten und über unterschiedliches fachliches und fachdidaktisches Wissen verfügen, kann geschlossen werden, dass sie unterschiedlich und Unterschiedliches lernen. Das Lernen der Lehrpersonen ist ein komplexer Prozess, der sowohl individuell wie kollektiv die kognitive, motivationale und emotionale Beteiligung erfordert, um geeignete Alternativen für die Verbesserung oder Veränderung innerhalb bestimmter bildungspolitischer Umgebungen oder Schulkulturen zu prüfen und umzusetzen (Durksen, Klassen & Daniels, 2017). Soziokulturelle Theorien, von denen es viele Varianten gibt (situiert, sozialkonstruktivistisch, sozialkognitiv, aktivitätstheoretisch), verstehen Lernen nicht nur als individuelle Informationsverarbeitung, sondern als einen sozial und kulturell eingebetteten Prozess, in dem kognitive, motivationale und emotionale Faktoren zusammenwirken. Lernen von Lehrpersonen ist kontextuell, also durch den Arbeitskontext mitbeeinflusst (Lohman & Woolf, 2010; Webster-Wright, 2009; Geijsel, Sleegers, Stoel & Krüger, 2009; Ropo, 2004; Lohman, 2000). Das heisst, auch die Arbeitsbedingungen, die Schulleitung, die Schülerinnen und Schüler und ihre Eltern sowie die Kolleginnen und Kollegen haben Einfluss darauf, wie und was gelernt wird. Für den individuellen beruflichen Lernprozess spielt es also eine Rolle, in welcher Schule man unterrichtet. Einerseits bestimmt dieser externe Interaktionsprozess mit der sozialen und materiellen Umgebung, was Lehrpersonen lernen. Andererseits ist es der interne Prozess der Aneignung und Verarbeitung. Das heisst, dass die Art, wie Lehrpersonen eine Situation wahrnehmen und verarbeiten, sowie ihre Interaktionen mit der Umgebung bestimmen, ob und wie Situationen genutzt werden und Lernaktivitäten entstehen, welche das professionelle Wissen und Können erweitern oder vertiefen und in der Folge zu verändertem Verhalten und Ergebnissen führen können (Hoekstra, Korthagen, Brekelmans, Beijaard & Imants, 2009; Illeris, 2006).

Diese Vorstellung des Lernens entspricht der ökologischen Sicht, dass Verhalten aus den laufenden Interaktionen des Individuums mit seiner näheren und weiteren Umgebung, seinen Zielen und Aufgaben entspringt (Keay, Carse & Jess, 2019; Bronfenbrenner, 1979). Expertise, lässt sich daraus folgern, entwickelt sich durch die dynamische Interaktion von persönlichen Faktoren, der Beziehung zwischen der Lehrperson (mit einer bestimmten Geschichte in lokalen und weiteren Kontexten) mit ihrer beruflichen Praxis sowie der soziokulturellen Umgebung (Dall'Alba & Sandberg, 2006). Lernprozesse sind dabei nicht als geradlinige Prozesse und gestuft vorzustellen, sie verlaufen nichtlinear, «messy and recursive» und beinhalten Phasen der Konsolidierung, Herausforderung und Fehler (Keay et al., 2019, S. 133) in wiederholten Zyklen der Überprüfung des Unterrichts und des Experimentierens im Unterricht (Goldsmith, Doerr & Lewis, 2014).

Die Lernergebnisse sind eher als Verfeinerungen oder Reorganisation bestehenden Wissens und Handelns denn einer umfassenden Transformation zu komplexerem Verstehen der Praxis oder vollständig verändertem Unterricht zu sehen (Dall'Alba & Sandberg, 2006, S. 396; Caravita & Halldén, 1994; Balmer, 2018a). Sie können auch erst verzögert sichtbar werden. Evans (2019) meint, es sei zu vereinfachend, wenn angenommen wird, dass Wirkungen einer Weiterbildung unmittelbar danach evident werden. Neue Ideen oder Denkweisen brauchen Zeit, um in der Praxis assimiliert zu werden, können dabei auch durch die Vielzahl weiterer Einflussgrössen verändert worden sein (ebd., S. 7). Das gilt auch für den umgekehrten Prozess: Die Praxis kann sich verändern, zum Beispiel aufgrund von neuen Aufgabenstellungen im Unterricht durch ein neues Lehrmittel, was aber nicht von selbst und unmittelbar zu neuen Denkweisen und Vorstellungen über den Unterricht führt (Balmer, 2018a).

Unterrichtsentwicklung als Bezeichnung für diese Lernprozesse darf aber nicht missverstanden werden: Expertise oder Kompetenz wird nicht passiv oder durch Reifung oder einfach durch die Tatsache, dass man unterrichtet, erworben. Auch wenn implizite oder unbewusste Lernprozesse bedeutsam sind (Evans, 2019), erfordert die Entwicklung von Expertise auch einen aktiven, gewollten Prozess, der auch bewusstes individuelles und kooperatives Denken, Problemlösen sowie Reflexionen zur Analyse praktischer Fragen beinhaltet (Lehtinen, Hakkarainen & Palonen, 2014)6. Der Erwerb von Expertise geschieht deshalb nicht allein in der Praxis und durch die Praxis, sondern braucht auch Distanz durch die überprüfende Reflexion, um ein vertieftes Wissen und neues Können zu erwerben (Neuweg, 2010). Erst die Distanz ermöglicht eine kritische Reflexion und eine Überprüfung oder Untersuchung der (eigenen) Praxis. Neu organisiertes Wissen oder neue Konzepte müssen dann wiederum in die Praxis übertragen werden. «Gelerntes wird letztlich immer nur dann gelernt, wenn es an der Praxis erprobt ist» (Nuissl, 2006, S. 226).

4 Lernen angesichts einer Reform
4.1 Unterschiedliche Reaktions- oder Einstellungstypen

Lehrpersonen nutzen also die verschiedenen Lerngelegenheiten am Arbeitsplatz oder in der Weiterbildung grundsätzlich unterschiedlich. Was passiert nun angesichts einer Reform? Es gibt empirische Hinweise auf unterschiedliche Einstellungen zu Erneuerungsprozessen, die auch deren Erfolg beeinflussen können. In einer Studie konnten bei Lehrpersonen drei Gruppen unterschieden werden: Befürworter, Skeptiker und Unentschlossene, wobei die Gruppenzugehörigkeit den Umsetzungsgrad von Innovationen in einer Schule signifikant erklärt (Zlatkin-Troitschanskaia & Buske, 2009). Bitan-Friedlander et al. (2004) bildeten fünf Typen von Lehrpersonen im Rahmen einer Weiterbildung zu einer Unterrichtsinnovation: 1. der/die Opponent/-in, 2. der/die Besorgte, 3. der/die gelehrig Leistende, 4. der/die Kooperierende und 5. der/die Verbessernde. Varga-Atkins et al. (2009) identifizierten auf der Basis eines Fragebogens fünf Typen von Lehrpersonen aufgrund ihrer Einstellung zu einer Weiterbildung: 1. die Gläubigen, die an die Relevanz und Effektivität der Weiterbildung glauben; 2. die Suchenden, die grundsätzlich positiv eingestellt sind, aber individuellen Support vermissen; 3. die Agnostiker, welche die Weiterbildung grundsätzlich billigen, aber weniger von ihrem Wert überzeugt sind als die Gläubigen und die Suchenden; 4. die Skeptiker, für die die Weiterbildung wenig Wert hat, weil sie ihnen für die Praxis nicht hilft; und 5. die Lieferanten, die aufgrund spezifischer Expertise gefragte Partner von Lehrpersonen sind und eine Art Gläubige auf höherem Niveau darstellen.

Bei einer Reform dürfte der Umgang mit Unsicherheit angesichts des Neuen eine zentrale Herausforderung für den Unterrichtsentwicklungsprozess darstellen. Im Rahmen des Pilotversuchs zum Weiterbildungsformat, wie es für die Lehrplaneinführung entwickelt werden sollte, wurde deshalb unter anderem die aktuelle emotionale Lernverfassung (vgl. Greder-Specht, 2009) der teilnehmenden Lehrpersonen erfasst. Dabei konnte ebenfalls eine Typologie von Lehrpersonen eruiert werden. Die verschiedenen Beschreibungen der Lehrpersonen liessen bei einem Teil aufgrund von «(zu) viel Neuem» eine Verunsicherung erkennen (Balmer & Zürcher, 2015). Einige sprachen sogar von Überforderung. Andere wiederum scheinen zwar Neues zu erkennen, aber können es zuversichtlich mit dem eigenen Unterricht in Beziehung setzen. Damit sind zwei Typen unterschieden, welche die Art der Auseinandersetzung mit dem Neuen, dem kompetenzorientierten Unterricht, und die damit zusammenhängende Emotion verbinden: Der erste Typ ist der verunsicherte «Geforderte», der zweite der «Anknüpfende». Es finden sich auch Lehrpersonen, die angeben, wenig Neues erfahren zu haben, aber zumindest die Zusammenarbeit oder den Austausch mit den Kolleginnen und Kollegen als gewinnbringend zu schätzen. Diesen Typ bezeichnen wir als die «Wissenden». Nicht alle offenen Antworten lassen eine klare Zuordnung zu. Erläuterungen positiver und negativer Emotionen, die keine eindeutige Art der Auseinandersetzung erkennen lassen, bezeichnen wir als «indifferent». Als letzten Typ finden sich solche Lehrpersonen, die dem Neuen mit «Desinteresse» begegnen, weil sie etwa aktuell mit anderen Sachverhalten oder Tätigkeiten beschäftigt waren und sich deshalb kaum mit dem kompetenzorientierten Unterricht auseinandersetzten.

Diese Typologien dienen der Reduktion der unterschiedlichen Einstellungen, die Lehrpersonen angesichts einer Reform haben können. Sie unterscheiden sich in der Datengrundlage und methodischen Ausarbeitung, deuten aber alle darauf hin, dass Emotionen in dieser Situation eine Rolle spielen.

4.2 Unsicherheiten als Herausforderung und Lernchance

Der Fokus auf die Emotionen angesichts des Zieles des Pilotversuchs, den eigenen Unterricht in Richtung Kompetenzorientierung weiterzuentwickeln, erklärt sich aus der Rolle, die sie bei der Ausbildung von Überzeugungen, bei Reformen und damit für den Lernprozess spielen. Emotionen haben grossen Einfluss auf die Bildung neuer oder die Modifizierung bestehender Überzeugungen (Cross & Hong, 2009). Diese werden als mächtige Determinanten dessen, was Menschen für wahr halten, beschrieben. Die fachdidaktische Forschung besonders in den Fächern Mathematik und Naturwissenschaften hat gezeigt, dass erkenntnistheoretische, inhalts- und schülerbezogene Überzeugungen die Art der Begegnung mit der Welt stark beeinflussen und bedeutsam sind für das Unterrichten – also für das Handeln der Lehrpersonen wie auch für den Lernerfolg der Schülerinnen und Schüler (z.B. Hartinger, Kleickmann & Hawelka, 2006; Decker, Kunter & Voss, 2015). Gerade bei Reformen spielen Emotionen eine nicht zu überschätzende Rolle, vor allem wenn es um den eigenen Unterricht geht, weniger wenn es die Ebene der Schule betrifft (Schmidt & Datnow, 2005). Sie stehen in einem Zusammenhang mit den erwarteten Wirkungen der Reform auf den Unterricht (Scott & Sutton, 2009). Der Anspruch zu erneuern löst ein Zusammenwirken von individuellen beruflichen Zielen, die in der Regel eng mit dem Unterrichten verbunden sind, der Selbsteinschätzung professioneller Kompetenz und letztlich der beruflichen Identität aus. Wie passt der Erneuerungsanspruch zu meinen beruflichen Zielen und meinem Unterricht? Wie schätze ich meine Kompetenz ein, dem Anspruch zu genügen? Die Beschäftigung mit solchen Fragen kann sich in positiven oder negativen Emotionen äussern (Cross & Hong, 2009). Da jede Reform implizit die Nachricht enthält, dass die aktuelle Praxis zumindest nicht als die bestmögliche oder sogar als nicht oder nicht mehr genügend angesehen wird (Kelchtermans, Ballet & Piot, 2009), sind unterschiedlich starke Emotionen wie Verunsicherung, Ablehnung oder sogar Bedrohung wahrscheinlich. Sie wirken über die Überzeugungen auf die Wahrnehmung und damit vermutlich auch auf die Umsetzung einer Reform. In einer niederländischen Studie wurde nachgewiesen, dass Unsicherheitsgefühle die (selbsteingeschätzte) Umsetzung einer Innovation, die Häufigkeit von Lernaktivitäten und Meinungen zu den Reformprinzipien negativ beeinflussten (Geijsel, Sleegers, van den Berg & Kelchtermans, 2001). Allerdings können negative Emotionen auch starke Antreiber sein und Lernen kommt vielleicht gar nicht ohne sie aus, wenn man an die Bedeutung von Fehlern und des negativen Wissens für den Lernprozess denkt (Oser & Spychiger, 2005). Unsicherheiten können zum Beispiel als Mittel gesehen werden, «by which we may see beyond what we think we know» (McDonald, 1992, S. 7; zitiert nach Helsing, 2007, S. 1322). Sie stellen also eine Möglichkeit dar, Fragen zu stellen und neue Antworten zu suchen. In der Lernpsychologie finden sich denn auch Konzepte, bei denen (eher) negative Emotionen eine Facette eines einsetzenden Lernprozesses sind, zum Beispiel die «kognitive Dissonanz» (Festinger & Irle, 2012) oder im Rahmen von Theorien des Conceptual Change die «Unzufriedenheit» mit Aspekten des eigenen Unterrichts oder allgemeiner einem bestehenden Konzept (Thorley & Stofflett, 1996; Gess-Newsome et al., 2003).

Im Lehrberuf kommt hinzu, dass er grundsätzlich durch Unsicherheitsfaktoren gekennzeichnet ist. Häufig genannt werden etwa der Mangel an standardisiertem beruflichem Wissen, die hohe Variabilität und Unvorhersehbarkeit von Unterrichtsstunden und die Unsicherheit, welchen Anteil man am Erfolg oder Misserfolg der eigenen Schülerinnen und Schüler hat, weil man ihn im Verhältnis zum Einfluss des Kontextes (Eltern, Freundeskreis, soziale Lage etc.) kaum verlässlich einschätzen kann (Soltau & Mienert, 2010). Balanceakte wie das Abwägen von Bedürfnissen einzelner Schülerinnen und Schüler gegenüber den Bedürfnissen der grösseren Gruppe sind ein weiterer berufsimmanenter Unsicherheitsfaktor (Helsing, 2007). Wenn Unsicherheit eine berufliche Konstante ist, erhöht dies die Wahrscheinlichkeit, dass mit Unsicherheit auf die Nachricht reagiert wird, dass nun mit dem Lehrplan 21 ein entsprechender Unterricht angeboten werden soll, der den Schülerinnen und Schülern die darin beschriebenen Kompetenzen erwerben lässt.

4.3 Modell zur Erklärung von Reaktionen auf die Reformnachricht und Folgen für das Lernen

Gregoire (2003) liefert ein in seinen Grundzügen empirisch bestätigtes Modell, wie man sich das Zusammenspiel kognitiver, motivationaler und emotionaler Voraussetzungen bei der Lehrperson angesichts einer Reform vorstellen kann und welche Folgen sie zeitigen können (siehe Abbildung 1.2). Je nach Einschätzung der eigenen Betroffenheit von dieser Reform kann eine Lehrperson bei einem Nein dazu freundlich-positiv oder neutral, bei einem Ja mit Stress, Unsicherheit oder zumindest mit offenen Fragen reagieren. Im Fall eines freundlich-positiven oder neutralen Neins auf die Frage nach der eigenen Betroffenheit ist es wahrscheinlich, dass die Reformfolgen eher oberflächlich bearbeitet werden, weil die Motivation für eine vertiefte Auseinandersetzung fehlt. Weil man sich als nicht betroffen ansieht, verbleibt der Fokus auf anderem. Die in Kapitel 4.1 genannten Typen der «Wissenden» – die im vorliegenden Fall bereits behaupten, kompetenzorientiert zu unterrichten – und der «Desinteressierten» dürften die eigene Betroffenheit von der Reform als gering eingeschätzt und mit einer eher oberflächlichen Auseinandersetzung reagiert haben.

Den Stress im Fall der Betroffenheit sieht Gregoire (2003) in Anlehnung an Lazarus und Folkman (1984) als ein Ungleichgewicht zwischen personenseitigen Ressourcen und Anforderungen der Umwelt. Ob nun dieser Stress motiviert bewältigt wird, hängt von der Selbstwirksamkeitserwartung gegenüber den Reformanliegen ab, also dem Grad der subjektiven Gewissheit, neue oder schwierige Anforderungen aufgrund eigener Kompetenzen bewältigen zu können (Jerusalem, 2005). Wenn Lehrpersonen starkes Vertrauen in ihre Fähigkeit haben, kompetenzorientierten Unterricht umsetzen zu können, dann postuliert das Modell, dass sie die Situation als eine Herausforderung wahrnehmen. Bei schwach ausgeprägter Selbstwirksamkeitserwartung erscheint das Reformanliegen als Bedrohung. Gregoire (2003) meint aber, dass die Überzeugung, die Anforderungen der Reform bewältigen zu können, allein nicht reicht, um sie nicht als Bedrohung zu empfinden. Zusätzlich muss auch die Fähigkeit vorhanden sein, sie umzusetzen. Die professionelle Kompetenz (z.B. fachdidaktisches, fachliches und pädagogisch-psychologisches Wissen und Können), aber auch externe Ressourcen (Zeit, unterstützende Rahmenbedingungen in der Schule) müssen in genügendem Ausmass vorliegen, um die Reform als Herausforderung ansehen zu können. Der emotionale Zustand einer Lehrperson entsteht aus dem hoch individuellen Zusammenwirken dieser internen und externen Ressourcen.

Wenn das Reformanliegen als Bedrohung empfunden wird, folgen Vermeidungsstrategien, die höchstens zu einer oberflächlichen Auseinandersetzung damit und im besten Fall zu oberflächlichen Überzeugungsveränderungen führen. Wenn hingegen eine Herausforderung gesehen werden kann, findet wahrscheinlich eine Annäherung statt, die ein systematisches Bearbeiten ermöglicht. Sofern dieser Prozess einen Ertrag für die Lehrperson abwirft, kann er zu einer Konzeptänderung («Conceptual Change») und damit wahrscheinlich auch zu Handlungsveränderungen führen.


Abbildung 1.2: Das kognitiv-affektive Modell von Konzeptänderungen (Gregoire, 2003)

Das Modell und die Bedingungen für eine Unterrichtsentwicklung beziehungsweise das Lernen von Lehrpersonen verweisen darauf, dass ein gewisses Mass an «Stress», das heisst Unsicherheiten, lern- oder innovationsförderlich sein kann. In Anlehnung an Schüsslers These zu nachhaltigem Lernen Erwachsener kann gefolgert werden, dass dadurch notwendige Irritationen vorhanden sein dürften und ein Weiterbildungsangebot sie reflexiv verarbeiten sollte mit dem Ziel, «biografische Kohärenz» wiederzugewinnen (Schüssler, 2008). Der Lernprozess mit den gewünschten Effekten stellt aber nicht automatisch einen Selbstläufer dar. Im Gegenteil, Reformen scheitern auch oder werden zumindest nicht genau gemäss der Reformabsicht umgesetzt (Tyack & Tobin, 1994).

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9783035515190
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