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Читать книгу: «Unsichtbare Bande: Erzählungen», страница 10

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„Wenn du mich doch nur mit Maß zum besten gehalten hättest! Warum mußtest du alles so reich und so prächtig schildern? Was wolltest du mit Bedienten und Triumphpforten und all der andern Herrlichkeit? Glaubtest du, ich sei so erpicht auf Geld? Sahst du nicht, daß ich ohnehin verliebt genug in dich war, um überallhin mit dir zu gehen? Daß du glaubtest, mich hinters Licht führen zu müssen! Daß du das Herz haben konntest, bis zuletzt bei deinen Lügen zu beharren!“

„Willst du nicht hereinkommen und Mutter begrüßen,“ fragte er ganz hilflos.

„Nein, ich gehe nicht hinein.“

„Willst du also nach Hause fahren?“

„Wie könnte ich nach Hause kommen? Wie sollte ich ihnen den Schmerz bereiten, zurückzukehren, wenn sie mich für glücklich und reich halten? Aber bei dir bleibe ich auch nicht. Für den, der arbeiten kann, findet sich immer ein Auskommen.“

„Bleib,“ bat er, „ich tat es nur, um dich zu gewinnen.“

„Wenn du mir die Wahrheit gesagt hättest, so wäre ich geblieben.“

„Wäre ich ein reicher Mann gewesen und hätte mich für arm ausgegeben, so bliebest du schon.“

Sie zuckte die Achseln und wendete sich zum Gehen, als die Tür der Hütte aufgerissen wurde und Börjes Mutter herauskam. Sie war ein kleines vertrocknetes altes Weiblein mit wenig Zähnen und viel Runzeln, aber nicht so alt an Jahren und Gemüt wie dem Aussehen nach.

Sie hatte wohl einiges gehört und das übrige erraten, denn sie wußte, worüber sie zankten. „So,“ sagte sie, „dies ist die feine Schwiegertochter, die du mir gebracht hast, Börje. Und du hast es wieder nicht mit der Wahrheit gehalten, wie ich höre.“ Aber auf Astrid ging sie freundlich zu und streichelte ihr die Wangen. „Komm du mit mir herein, du armes Kind. Ich kann mir denken, daß du müde und erschöpft bist. Siehst du, dies ist meine Hütte. Er darf nicht herein. Aber komm du nur. Jetzt bist du meine Tochter, und ich kann dich doch nicht zu fremden Leuten gehen lassen.“

Sie streichelte die Schwiegertochter und gab ihr Koseworte und schob und zog sie ganz unmerklich zur Tür hin. Schritt für Schritt lockte sie sie weiter und bekam sie schließlich in die Hütte, aber Börje schloß sie wirklich aus. Und drinnen begann nun die Alte zu fragen, wer sie sei und wie alles zugegangen wäre. Und sie weinte über sie, und brachte sie dazu, auch über sich selbst zu weinen. Furchtbar streng war die Alte gegen ihren Sohn. Sie, Astrid, täte ganz recht, nein, bei einem solchen Manne könnte sie nicht bleiben. Es wäre richtig, daß er zu lügen pflegte, ja, ganz gewiß wäre es richtig.

Sie erzählte ihr, wie es ihr mit dem Sohne ergangen war. Er war schon als kleines Kind so schön von Gesicht und Gestalt gewesen, daß sie sich immer darüber wundern mußte, daß er armer Leute Kind war. Er war wie ein kleiner verirrter Prinz gewesen. Und später hatte es immer so ausgesehen, als wenn er nicht auf seinem richtigen Platze wäre. Er sah alles so groß. Er konnte nicht den richtigen Maßstab finden, wenn es sich um ihn selbst handelte. Seine Mutter hatte deswegen schon viele Tränen vergossen. Aber nie zuvor hatte er mit seinen Lügen etwas Böses angestellt. Hier, wo er bekannt war, lachten ihn die Leute nur aus. – Aber jetzt war er wohl so sehr in Versuchung geführt worden … Schien es ihr, Astrid, nicht selbst wunderlich, wie sie dieser Fischerjunge hatte hinters Licht führen können? Er hatte immer soviel von feinen Dingen gewußt, als wenn es ihm angeboren wäre. Er war wohl ganz verkehrt in die Welt gekommen. Das sah man ja auch daran, daß er nie daran gedacht hatte, sich eine Frau aus seinem eignen Stande zu wählen.

Die Alte redete und redete. Astrid schwieg und dachte. „Sieh,“ sagte die Alte unter anderm, „mir kann es nie gelingen, ihm den Hochmut und die Prahlsucht abzugewöhnen, aber eine, die klüger wäre als ich, könnte es vielleicht. Und er ist tüchtig und gut, mein Junge. Es lohnte wohl der Mühe. Aber du kannst morgen gehen. Ja, du sollst gehen.“

„Wo schläft er heute nacht?“ fragte Astrid plötzlich.

„Ich denke, er liegt hier draußen im Sande. Er hat wohl nicht die Ruhe, von hier fortzugehen.“

„Es wäre wohl am besten, wenn er hereinkäme,“ sagte Astrid.

„Liebstes Kind, du kannst ihn doch nicht sehen wollen. Er wird sich draußen schon behelfen, wenn ich ihm eine Decke gebe.“

Sie ließ ihn wirklich diese Nacht draußen im Sande schlafen und schickte ihn am nächsten Tage in aller Frühe in die Stadt, da sie es für das beste hielt, wenn Astrid ihn nicht sah. Und mit ihr redete und redete sie und hielt sie fest, nicht mit Zwang, sondern mit Klugheit, nicht mit Schmeichelei, sondern mit wirklicher Güte.

Doch als sie es endlich erreicht hatte, daß die Schwiegertochter blieb und dem Sohne erhalten war, und als sie die jungen Leute versöhnt und Astrid gelehrt hatte, daß es gerade ihre Aufgabe im Leben war, Börje Nilssons Frau zu sein und ihm soviel Gutes zu tun als sie konnte – und dies war nicht die Arbeit einer Abendstunde, sondern die Mühe vieler Tage gewesen – da hatte sich die Alte zum Sterben hingelegt.

Und in diesem Leben mit seiner treuen Fürsorge lag ein Sinn, dachte Börje Nilssons Frau.

Aber in ihrem eignen Leben sah sie keinen Zweck. Der Mann ertrank nach einigen Jahren der Ehe, und ihr einziges Kind starb ganz jung. Sie hatte bei ihrem Mann keine Veränderung herbeiführen können. Ernst und Wahrhaftigkeit hatte sie ihn nicht zu lehren vermocht. Eher hatte sie sich verändert, denn sie war immer mehr wie die Fischersleute geworden. Sie wollte keinen der Ihren sehen, denn sie schämte sich, daß sie jetzt in allen Stücken einer Fischersfrau glich. Wenn nur alles dies irgend etwas genützt hätte! Wenn sie, die ihren Lebensunterhalt durch das Ausbessern der Fischernetze bestritt, nur wüßte, warum sie überhaupt lebte! Wenn sie doch jemanden glücklich oder besser gemacht hätte!

Nie kam es ihr in den Sinn, zu denken, daß, wer sein Leben für verfehlt hält, weil er andern nichts Gutes getan habe, vielleicht durch diesen Gedanken der Demut seine Seele gerettet hat.

Mutters Bild

In einem der hundert Häuschen des Fischerdorfes, die einander alle in Größe und Form gleichen, die alle gleich viele Fenster und gleich hohe Schornsteine haben, wohnte der alte Mattßon, der Lotse.

In allen Stuben des Fischerdorfes findet man denselben Hausrat, auf allen Fensterbrettern stehen dieselben Blumen, in allen Eckschränken prangen dieselben Arten Muscheln und Korallen, an allen Wänden hängen die gleichen Bilder. Und so wie die alte Sitte es festgestellt hat, leben alle Menschen des Fischerdorfes dasselbe Leben. Seit Mattßon, der Lotse, alt geworden war, richtete er sich ganz genau nach Brauch und Sitte: sein Haus, seine Stuben und sein Wandel glichen denen aller andern.

An der Wand über seinem Bette hatte der alte Mattßon ein Bild seiner Mutter. Eines Nachts träumte er, daß dieses Bild aus seinem Rahmen herabstieg, sich vor ihn hinstellte und ihm mit lauter Stimme sagte: „Du mußt heiraten, Mattßon.“

Der alte Mattßon begann sogleich Mutters Bild auseinanderzusetzen, daß dies unmöglich sei. Er war ja siebzig Jahre. – Aber Mutters Bild wiederholte nur mit noch größerm Nachdruck: „Du mußt heiraten, Mattßon.“

Der alte Mattßon hatte großen Respekt vor Mutters Bild. Es war in so manchen strittigen Fällen sein Ratgeber gewesen, und es hatte ihm immer Glück gebracht, wenn er ihm gefolgt war. Aber dieses Mal verstand er sein Vorgehen nicht recht. Es schien ihm, als befinde sich das Bild ganz im Widerspruch mit früher geäußerten Ansichten. Obgleich er dalag und träumte, erinnerte er sich klar und deutlich, wie es das erstemal gewesen war, als er heiraten wollte. Gerade als er sich zur Hochzeit ankleidete, lockerte sich der Nagel, an dem das Bild hing und fiel zu Boden. Da sah er, daß das Bild ihn vor der Heirat warnen wollte, doch er gehorchte nicht. Es zeigte sich aber später, daß das Bild recht gehabt hatte. Seine kurze Ehe war sehr unglücklich geworden.

Als er sich das zweitemal zur Hochzeit ankleidete, ging es ebenso zu. Das Bild stürzte wieder zu Boden, und diesmal wagte er nicht, ihm ungehorsam zu sein. Er ließ Braut und Hochzeit im Stiche, verdingte sich als Matrose und fuhr mehrmals um die Erde, ehe er sich wieder nach Hause wagte. – Und jetzt stieg das Bild von der Wand herab und befahl ihm zu heiraten. Wie gut und gehorsam er auch war, konnte er doch nicht umhin, zu denken, daß es nur seinen Scherz mit ihm treibe.

Aber Mutters Bild, das das barscheste Gesicht wiedergab, wie es nur scharfe Winde und salziger Meeresschaum ausmeißeln konnten, blieb ernst wie zuvor. Und mit einer Stimme, die das langjährige Ausbieten der Fische auf dem Markte der Stadt geübt und gestärkt hatte, wiederholte sie: „Du mußt heiraten.“

Da bat der alte Mattßon Mutters Bild, doch ein Einsehen zu haben und zu bedenken, in welcher Gemeinde sie lebten.

Alle hundert Häuser des Fischerdorfes hatten spitzige Dächer und weißgetünchte Wände, alle Boote des Fischerdorfes hatten denselben Bau und das gleiche Takelwerk. Niemand pflegte hier irgend etwas Ungewöhnliches zu tun. Mutter selbst wäre die erste gewesen, die sich einer solchen Heirat widersetzt hätte, wenn sie noch am Leben gewesen wäre. Mutter hatte streng auf Ordnung und Sitte gehalten. Und es war doch nicht Ordnung und Sitte in dem Fischerdorf, daß siebzigjährige Greise Hochzeit hielten.

Da streckte Mutters Bild die ringgeschmückte Hand aus und befahl ihm geradezu zu gehorchen. Mutter hatte immer etwas unbegreiflich Ehrfurchtgebietendes an sich gehabt, wenn sie so im schwarzen Taffetkleide mit den vielen Volants gekommen war. Die große glänzende Goldbrosche, die schwere rasselnde Goldkette hatten ihn immer eingeschüchtert. Wäre sie in ihren Marktkleidern gekommen, mit dem buntkarierten Kopftuch und mit der Wachstuchschürze voll Fischschuppen und Fischaugen, dann hätte er nicht ganz so großen Respekt vor ihr gehabt. Aber jetzt war das Ende vom Liede, daß er versprach, zu heiraten. Und dann schlüpfte Mutters Bild wieder in seinen Rahmen.

Am nächsten Morgen erwachte der alte Mattßon in großer Angst. Es fiel ihm gar nicht ein, gegen Mutters Bild ungehorsam zu sein, es wußte natürlich, was für ihn am besten war. Aber es graute ihm doch vor der Zeit, die jetzt kommen mußte.

An demselben Tage hielt er um die häßlichste Tochter des ärmsten Fischers an, ein kleines Ding mit dem Kopf zwischen den Schultern und mit vorstehendem Unterkiefer. Die Eltern sagten ja, und der Tag, an dem man zur Stadt fahren sollte, um sich aufbieten zu lassen, wurde festgesetzt.

Über windige Strandwiesen und morastige Gemeindeweiden führt der Weg vom Fischerdorf in die Stadt. Eine Viertelmeile ist er lang, und man behauptet, daß die Einwohner des Fischerdorfes so reich sind, daß sie ihn mit blankem Silbergelde pflastern könnten. Das würde dem Weg einen eigentümlichen Reiz verleihen. Glitzernd wie ein Fischbauch würde er sich mit seinen weißen Schuppen zwischen Riedgrashügeln und Strandpfützen dahinschlängeln. Tausendschönchen und Mandelblumen, die diesen von den Menschen verlassenen Boden schmücken, würden sich in den blanken Silbermünzen spiegeln, die Disteln würden schützend ihre Stacheln darüber ausstrecken, und der Wind würde einen klingenden Resonanzboden finden, wenn er durch das Schilf der Strandweiden spielte und in den Telephondrähten sang.

Dem alten Mattßon wäre es vielleicht ein gewisser Trost gewesen, wenn er seine schweren Seestiefel auf klingendes Silber hätte setzen können, denn eines ist gewiß, jetzt kam eine Zeit, in der er diesen Weg öfter machen mußte, als er wünschte.

Seine Papiere waren nicht in Ordnung gewesen. Aus dem Aufgebot hatte nichts werden können. Dies kam daher, daß er das vorige Mal seiner Braut durchgegangen war. Es dauerte lange, bis der Pfarrer an das Konsistorium über seine Sache schrieb und ihm die Erlaubnis erwirken konnte, eine neue Ehe zu schließen.

Solange die Wartezeit dauerte, kam der alte Mattßon an jedem Expeditionstage in die Stadt. Im Pfarrhause setzte er sich unten zur Tür hin und wartete dort stumm, bis alle ausgesprochen hatten. Dann stand er auf und fragte, ob der Pfarrer etwas für ihn habe. Nein, er hatte nichts.

Der Pfarrer wunderte sich, welche Macht die alles bezwingende Liebe über diesen alten Mann erlangt hatte. Da saß er in seiner dicken gestrickten Wolljacke, den hohen Seestiefeln und dem windverwehten Südwester, mit einem scharfen, klugen Gesicht und langen grauen Haaren, und wartete auf die Erlaubnis, zu heiraten. Dem Pfarrer schien es eigentümlich, daß dieser alte Fischer von einer so heißen Sehnsucht erfüllt war.

„Sie haben es recht eilig mit dieser Heirat, Mattßon,“ sagte der Pfarrer.

„Ach ja, es ist am besten, wenn es bald geschieht.“

„Könnten Sie nicht eigentlich ebensogut von der ganzen Sache abstehen, Mattßon? Sie gehören ja nicht mehr zu den Jüngsten.“

Der Pfarrer sollte sich nicht allzusehr wundern. Mattßon wußte ja selbst, daß er zu alt war, aber er war gezwungen, zu heiraten. Da gab es keine Hilfe.

Und so kam er ein halbes Jahr lang Woche für Woche wieder, bis endlich die Erlaubnis eintraf.

Während dieser ganzen Zeit war der alte Mattßon ein gehetzter Mann. Rings um den grünen Trockenplatz, wo die braunen Fischnetze hingen, längs der zementierten Mauer um den Hafen, an den Fischerbuden auf dem Markte, wo Dorsche und Krabben verkauft wurden, und weit draußen auf dem Sunde, wo man den Heringszug verfolgte, brauste ein Sturm des Staunens und Spottes.

Wie, er wollte heiraten, Mattßon, der vor seiner eignen Hochzeit davongelaufen war!

Und man verschonte weder Bräutigam noch Braut.

Doch am schlimmsten für ihn war, daß niemand mehr über die ganze Sache lachen konnte als er selbst. Niemand konnte sie lächerlicher finden. Mutters Bild war drauf und dran, ihn zur Verzweiflung zu bringen.

* * *

Es war am Nachmittag des ersten Aufgebotes. Der alte Mattßon, der noch immer ein von Gerede und Spott verfolgter Mann war, ging die Mole entlang, bis zu dem weißgetünchten Leuchtturm, um dort allein zu sein. Dort draußen traf er seine Braut. Sie saß da und weinte.

Da fragte er sie, ob sie lieber einen andern hätte haben wollen. Sie saß da und lockerte kleine Kalkstückchen von der Mauer des Leuchtturmes und warf sie in das Wasser. Zuerst gab sie gar keine Antwort.

Gab es vielleicht jemanden, dem sie gut war?

Ach nein, gewiß nicht.

Draußen am Leuchtturm ist es sehr schön. Das klare Wasser des Sunds umrauscht ihn. Der flache Strand, die kleinen, regelrechten Häuschen des Fischerdorfes, die ferne Stadt, alles ist von der ewigen Schönheit des Meeres beglänzt. Aus den weichen Nebeln, die zumeist den westlichen Horizont verhüllen, taucht hier und da ein Fischerboot auf. Mit kühnem Kreuzen steuert es dem Hafen zu. Es rauscht fröhlich um den Kiel, wenn es in den engen Hafen gleitet. In demselben Augenblick werden ganz still die Segel eingezogen. Die Fischer schwenken den Hut zum fröhlichen Gruße, und unten im Boot liegt glitzernd die gefangne Beute.

Es kam gerade ein Boot in den Hafen, während der alte Mattßon draußen am Leuchtturm stand. Ein junger Bursche, der am Steuer saß, lüftete den Hut und nickte dem Mädchen zu. Da sah der Alte, wie es in ihren Augen aufleuchtete.

„Ach so,“ dachte er, „hast du dich in den schönsten Burschen im ganzen Dorfe verliebt? Ja, den kriegst du nie. Ebensogut kannst du da mich heiraten, wie auf den warten.“

Er merkte, daß er Mutters Bild nicht entkommen konnte. Wenn das Mädchen jemanden lieb gehabt hätte, den sie die geringste Aussicht hatte zu bekommen, dann wäre dies eine schöne Ausrede gewesen, um die ganze Sache loszuwerden. Aber jetzt nützte es nichts, sie freizugeben.

* * *

Vierzehn Tage später wurde die Hochzeit gefeiert, und ein paar Tage drauf kam der große Novembersturm.

Da wurde eines der Boote des Fischerdorfes den Sund hinabgetrieben. Steuer und Mast waren fort, so daß es unmöglich zu lenken war. Der alte Mattßon und fünf andre waren an Bord. Und sie trieben zwei Tage lang ohne Nahrung herum. Als sie geborgen wurden, waren sie vor Mattigkeit und Kälte ganz erschöpft. Alles im Boote war mit einer Eiskruste überzogen, und ihre feuchten Kleider waren in der Kälte ganz steif geworden. Der alte Mattßon erkältete sich dabei so schwer, daß er nie mehr seine Gesundheit wiedererlangte. Er lag zwei Jahre lang krank, dann kam der Tod.

Manchen schien es eigentümlich, daß er unmittelbar vor dem Unglücksfalle den Einfall gehabt hatte, zu heiraten, denn die kleine Frau war ihm eine gute Pflegerin geworden. Wie wäre es ihm wohl ergangen, wenn er einsam und hilflos dagelegen wäre? Das ganze Fischerdorf erkannte schließlich, daß er nie etwas Klügres getan hätte, als da er sich verheiratete, und die kleine Frau stand in großem Ansehen wegen der Zärtlichkeit, mit der sie den Mann pflegte.

„Der wird es nicht schwer fallen, sich wieder zu verheiraten,“ sagte man.

Der alte Mattßon erzählte jeden Tag, solange er krank lag, seiner Frau die Geschichte von dem Bilde.

„Du sollst es haben, wenn ich tot bin, so wie du alles haben sollst, was mein ist,“ sagte er.

„Sprich doch nicht von so etwas.“

„Und du sollst auf Mutters Porträt acht geben, wenn die jungen Burschen um dich werben. Wahrlich, ich glaube, es gibt niemanden im ganzen Fischerdorf, der sich besser auf Heiratsgeschichten versteht, als dieses Bild.“

Ein gefallener König

 
„Mein war das Reich der Phantasie,
Nun bin ich ein gefallener König.“
 
Snoilsky.

Es klapperte über die Pflastersteine, die Holzpantoffeln klatschten in unruhigem Takt. Die Gassenjungen eilten vorbei. Sie schwatzten und pfiffen. Es ging im Laufmarsch. Die Häuser zitterten, und aus den Seitengäßchen stürzte das Echo hervor wie ein Kettenhund aus seiner Hütte.

Hinter den Fensterscheiben zeigten sich Gesichter. Hatte sich etwas zugetragen? War etwas los? Der Lärm verzog sich nach der Vorstadt. Die Dienstmädchen eilten hin, hinter den Gassenjungen drein. Sie schlugen die Hände zusammen und schrien: „Gott bewahre uns, Gott bewahre uns! Gibt es Mord, gibt es Brand?“ Niemand antwortete. Das Klappern ertönte aus der Ferne.

Nach den Mädchen kamen die weisen Matronen der Stadt geeilt. Sie fragten: „Was geht vor? Was stört die Vormittagsruhe? Ist es eine Trauung? Ist es ein Begräbnis? Ist es eine Feuersbrunst? Was tut der Turmwächter? Soll die Stadt niederbrennen, ehe er zu läuten anfängt?“

Der ganze Haufen machte vor dem kleinen Häuschen des Schuhmachers in der Vorstadt halt, dem kleinen Häuschen, das Weinranken um Türen und Fenster hatte und darunter zwischen der Straße und dem Hause einen ellenbreiten Garten. Ein Lusthäuschen aus Stroh, Bosketts für ein Mäuslein, Wege für ein Kätzchen. Alles aufs beste geordnet! Erbsen und Bohnen, Rosen und Lavendel, eine Handvoll Gras, drei Stachelbeerbüsche und einen Apfelbaum.

Die Gassenjungen standen am nächsten, sie spähten und berieten. Die blanken schwarzen Fensterscheiben ließen die Blicke nicht weiter vordringen als bis zu den weißen Zwirngardinen. Einer der Jungen klammerte sich an die Weinranken fest und drückte das Gesicht an die Scheibe. „Was sieht er?“ flüsterten die andern. „Was sieht er?“ Die Schusterwerkstatt und die Schusterbank, Schmierbüchsen und Lederflecke, Leisten und Pflöcke, Ringe und Riemen. „Sieht er keinen Menschen?“ Er sieht den Gesellen, der den Absatz an einem Schuh macht. Sonst niemand, sonst niemand? Große, schwarze Fliegen springen über die Scheibe und trüben seinen Blick. „Sieht er niemand anders als den Gesellen?“ Niemand anders. Des Meisters Stuhl steht leer. Er sah einmal, zweimal, dreimal nach, des Meisters Stuhl war leer.

Die Menge stand still, riet hin und her und wunderte sich. Es war also wahr. Der alte Schuhmacher war durchgegangen. Niemand wollte es glauben. Man stand da und wartete auf ein Zeichen. Die Katze kam auf das steile Dach heraus. Sie streckte die Krallen aus und glitt die Dachrinne hinab. Ja, der Hausherr war fort, die Katze hatte freie Jagd. Die Spatzen flatterten und kreischten ganz hilflos.

Ein weißes Küchlein guckte um die Hausecke. Es war schon beinahe ein richtiger Hahn. Der Kamm leuchtete rot wie Weinlaub. Es spähte und guckte, krähte und rief. Die Hühner kamen, eine Reihe weißer Hühner in vollem Lauf, die Körper wiegten sich, die Flügel schlugen, die gelben Beinchen regten sich wie Trommelschlägel. Die Hühner hüpften in die Erbsen. Schlägereien entspannen sich. Mißgunst brach aus. Eine Henne entfloh mit einer vollen Erbsenschote Zwei Hähne hackten sie in den Nacken. Die Katze verließ das Spatzennest, um zuzusehen. Bums, da fiel sie mitten in die Schar. Die Hühner entflohen in einer langen, schwankenden Reihe. Der Volkshaufe dachte: „Freilich ist es wahr, daß der Schuster sich aus dem Staube gemacht hat. Man sieht es an der Katze und an den Hühnern, daß der Hausherr fort ist.“

Die holprige, vom Herbstregen schlüpfrige Vorstadtgasse hallte von allen den Reden wider. Die Türen standen offen, die Fenster schwangen hin und her. Ein Kopf steckte sich neben den andern in verwundertem Geflüster. „Er ist durchgegangen.“ Menschen flüsterten, Sperlinge kreischten, Holzpantoffeln klapperten: „Er ist durchgegangen. Der alte Schuhmacher ist durchgegangen. Der Besitzer des kleinen Häuschens, der Mann der jungen Frau, der Vater des schönen Kindes ist durchgegangen. Wer kann es verstehen? Wer kann es verstehen?“

So geht ein altes Liedchen: „Alter Mann im Hause, junger Knab' im Walde; Frau entflieht; Kind weint; Heim ohne Herrin.“

Das Liedchen ist alt. Alle verstehen es.

Dies war ein neues Lied. Der Alte war fort. Auf dem Tisch der Werkstatt lag seine Erklärung, daß er niemals wiederzukommen gedachte; daneben war auch ein Brief gelegen. Den hatte die Frau gelesen, aber sonst niemand.

Die junge Frau war in der Küche. Sie tat nichts. Die Nachbarin ging hin und her; hantierte geschäftig herum, setzte die Tassen hin, legte Brennholz zu, weinte ein bißchen und trocknete sich die Tränen mit dem Wischfetzen.

Die weisen Frauen des Viertels saßen steif rings an den Wänden. Sie wußten, was sich in einem Trauerhause schickte. Sie sahen darauf, daß Schweigen herrschte, daß Kummer herrschte. Sie feierten einen Freitag, um die verlassene Frau in ihrer Trauer zu stützen. Grobe Hände lagen still im Schoße, wettergebräunte Wangen legten sich in tiefe Runzeln, dünne Lippen kniffen sich über zahnlosen Kinnladen zusammen.

Die Frau saß unter diesen Bronzebraunen, sanft, hell, mit süßem Taubengesicht. Sie weinte nicht, aber sie zitterte. Sie war so ängstlich, daß sie fast vor Furcht starb. Sie biß die Zähne zusammen, damit niemand hörte, wie sie aufeinander schlugen. Wenn Schritte ertönten, wenn es klopfte, wenn das Wort an sie gerichtet wurde, fuhr sie zusammen.

Sie saß mit dem Brief des Mannes in der Tasche da. Sie erinnerte sich bald an eine Zeile daraus, bald an eine andre. Da stand: „Ich halte es nicht länger aus, Euch beide zu sehen.“ Und an einer andern Stelle: „Ich habe jetzt die Gewißheit, daß Du mit Erikson durchgehen willst.“ Und dann wieder: „Du sollst es nicht tun, denn die böse Nachrede der Leute würde Dich unglücklich machen. Ich will fort, dann kannst Du Dich scheiden lassen und wieder ordentlich heiraten. Erikson ist ein braver Arbeiter und kann Dich gut versorgen.“ Dann tiefer unten: „Laß die Leute von mir sagen, was sie wollen, ich bin schon froh, wenn sie nichts Böses von Dir glauben; denn Du würdest es nicht ertragen.“

Sie begriff es nicht. Sie hatte ihn nicht betrügen wollen. Wenn sie auch gerne mit dem jungen Gesellen plauderte, was ging das den Mann an? Die Liebe ist eine Krankheit, aber sie ist nicht tödlich. Sie hatte sie das ganze Leben hindurch mit Geduld tragen wollen. Wie hatte der Mann ihre heimlichsten Gedanken erraten können?

Welche Qual es ihr war, an ihn zu denken! Er mußte sich geängstigt und gesorgt haben. Er hatte über seine Jahre geweint. Er hatte über die Kräfte und den Mut des Jungen gerast. Er war bei jedem Flüstern, jedem Lächeln, jedem Händedruck erzittert. In lichterlohem Wahnsinn, in knirschender Eifersucht hatte er eine ganze Fluchtgeschichte aus etwas gemacht, was noch nichts war.

Sie dachte daran, wie alt er heute nacht gewesen sein mußte, als er ging. Sein Rücken war gebeugt, seine Hände zitterten. Langer Nächte Qual hatte ihn so gemacht. Er war gegangen, um dieses Dasein quälender Zweifel los zu sein.

Sie erinnerte sich an andre Zeilen aus dem Briefe: „Es ist nicht meine Absicht, Dich zu beschämen, ich bin immer zu alt für Dich gewesen.“ Und dann an eine andre: „Du sollst immer geachtet und geehrt sein. Schweige nur selbst, dann fällt alle Schande auf mich.“

Die Frau fühlte immer größre Angst. War es möglich, daß man Menschen so betrügen konnte? Ging es auch an, so vor Gott zu lügen? Warum saß sie hier in der Stube, beklagt wie eine trauernde Mutter, geehrt wie eine Braut am Hochzeitstage? Warum war nicht sie heimatlos, freundelos, verachtet? Wie kann so etwas geschehen? Wie kann Gott sich so betrügen lassen?

Über der großen Chiffoniere hing ein kleines Bücherbrett. Zu oberst auf dem Brett stand ein großes Buch mit Messingspangen. Und diese Spangen bargen die Erzählung von einem Manne und einem Weibe, die vor Gott und den Menschen logen. „Wer hat es dir eingegeben, o Weib, daß du solches tun sollst? Sieh, junge Männer stehen hier vor deiner Tür, um dich fortzuführen.“

Die Frau starrte das Buch an, sie lauschte den Schritten der jungen Männer. Sie erzitterte bei jedem Klopfen, erschauerte bei jedem Schritt. Sie war bereit, aufzustehen und zu bekennen, bereit, niederzufallen und zu sterben.

Der Kaffee war in Ordnung. Die Frauen glitten sittsam zum Tisch hin. Sie schenkten die Tassen voll, nahmen Zucker in den Mund und begannen den siedendheißen Kaffee einzuschlürfen, still und anständig, die Handwerkerfrauen zuerst, die Scheuerfrauen zuletzt. Aber die Frau des Schusters sah nicht, was vorging. Die Angst raubte ihr ganz die Besinnung. Sie hatte eine Erscheinung. Mitten in der Nacht saß sie auf einem frisch gepflügten Acker. Rings um sie saßen große Vögel mit starken Flügeln und spitzigen Schnäbeln. Sie waren grau, kaum merkbar auf dem grauen Boden, aber sie wachten über sie. Sie hielten Gericht über sie. Mit einemmal flogen sie auf und senkten sich auf ihren Kopf herab. Sie sah ihre scharfen Klauen, ihre spitzigen Schnäbel; ihre peitschenden Flügel kamen immer näher. Es war wie ein tödlicher Regen von Stahl. Sie duckte den Kopf hinab und fühlte, daß sie sterben mußte. Aber als sie näher kamen, ganz dicht an sie heran, mußte sie aufsehen. Da sah sie, daß die grauen Vögel alle diese alten Frauen waren.

Eine von ihnen fing zu sprechen an. Sie wußte, was anständig war, was sich in einem Trauerhause schickte. Man hatte jetzt lange genug geschwiegen. Aber die Schustersfrau fuhr auf, wie von einem Peitschenhiebe getroffen. Was wollte die Frau sagen? „Du Matts Wiks Frau, Anna Wik, gestehe! Lange genug hast du vor Gott und vor uns gelogen. Wir sind deine Richter. Wir wollen dich richten und dich zerreißen.“

Nein, die Frau begann von den Männern zu sprechen. Und die andern stimmten ein, so wie der Anlaß es erforderte. Es wurde nicht zum Lob der Männer gesprochen. Alles Böse, was Männer je getan hatten, wurde ans Licht gezogen. Das war Trost für eine verlassene Frau.

Verleumdung ward auf Verleumdung gewälzt. Wunderliche Wesen, diese Männer! Sie schlagen uns, sie vertrinken unser Geld. Sie verpfänden unsre Habe. Warum in aller Welt hatte unser Herrgott solche erschaffen?

Die Zungen wurden wie Drachenzähne, sie spien Gift, sie sprühten Feuer. Jede fügte ihr Wort ein. Erzählung häufte sich auf Erzählung. Die Frau floh vor dem berauschten Mann aus dem Hause. Frauen rackerten sich für versoffne Männer. Ehefrauen wurden um andrer Frauen willen verlassen. Die Zungen sausten wie Peitschenhiebe. Das häusliche Elend wurde entblößt. Lange Litaneien wurden gesprochen. Vor des Mannes Tyrannei bewahre uns, o gütiger Gott!

Krankheit und Armut, der Tod der Kinder, die Kälte des Winters, die Plage mit den Alten, alles kommt vom Manne. Die Sklaven zischten gegen ihre Herren. Sie wendeten den Stachel gegen den, zu dessen Füßen sie krochen.

Der Frau des durchgegangnen Mannes gellten diese Worte schrill in den Ohren. Sie wagte, die Unverbesserlichen zu verteidigen. „Mein Mann,“ sagte sie, „ist gut.“ Die Frauen fuhren auf, sie zischten und fauchten. „Er ist durchgegangen. Er ist nicht besser als irgendein andrer. Er, der schon alt ist, hätte es besser verstehen müssen, als von Frau und Kind fortzulaufen. Kannst du glauben, daß er besser ist als irgendein andrer?“

Die Frau bebte, es war ihr, als würde sie durch stechendes Dornengestrüpp geschleift. Ihr Mann zu den Sündern gezählt! Sie erglühte in Scham, sie wollte sprechen, aber sie schwieg. Sie hatte Angst. Sie vermochte es nicht. Aber warum schwieg Gott? Warum ließ Gott so etwas geschehen?

Wenn sie den Brief herausnähme und ihn laut läse. Dann würde sich der Giftstrom wenden. Der Eiter würde sie bespritzen. Todesangst kam über sie. Sie wagte es nicht. Sie wünschte beinahe, daß eine freche Hand in ihre Tasche gegriffen und den Brief hervorgezogen hätte. Sie vermochte nicht, sich selbst preiszugeben. Drinnen aus der Werkstätte hörte man einen Schusterhammer. Hörte niemand, wie siegesfreudig er klopfte? Den ganzen Tag hatte sie dieses Klopfen gehört und sich darüber erzürnt. Aber keine der Frauen verstand es. Allwissender Gott, hattest du keinen Diener, der die Herzen durchschaute? Sie wollte gern ihr Urteil hinnehmen, wenn sie nur nicht gestehen mußte. Sie wollte jemanden sagen hören: „Wer hat es dir eingegeben, daß du vor Gott lügen solltest?“ Sie horchte nach dem Laut der Schritte der jungen Männer, um niederzufallen und zu sterben.

* * *

Mehrere Jahre nach diesem Vorfall heiratete eine geschiedene Frau einen Schuhmacher, der Gesell bei ihrem Manne gewesen war. Sie hatte es nicht gewollt, aber sie war dazu hingezogen worden, wie eine Forelle zum Bootsrand gezogen wird, wenn sie einmal an der Schnur hängen geblieben ist. Der Fischer läßt sie spielen, er läßt sie hin und her schnellen und läßt sie glauben, daß sie frei ist. Aber wenn sie müde geworden ist, wenn sie nicht weiter kann, dann zieht er sie mit leichtem Ruck an das Boot, dann holt er sie herauf und wirft sie auf den Bootsgrund, ehe sie noch weiß, um was es sich handelt.

Возрастное ограничение:
12+
Дата выхода на Литрес:
28 сентября 2017
Объем:
320 стр. 1 иллюстрация
Переводчик:
Правообладатель:
Public Domain

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