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Читать книгу: «Nina und die Sphinxwelt», страница 4

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„Hast du was gesagt?“, erkundigte er sich sofort.

„Nein, nichts“, beteuerte Nina schnell.

„Ich habe sogar ein Buch mit Gedichten geschrieben!“

Nina hüstelte spöttisch. War dieser Mann etwa verrückt? Vorsichtshalber rückte Nina so weit es ging von Werner weg zum Fenster und presste ihren Rucksack an sich. Vielleicht war er ja auch eine Sphinx – die waren doch allesamt verrückt!

„Müsstest du nicht in der Schule sein?“

„Klassenfahrt“, murmelte Nina leise. „Ach, Klassenfahrt!“, wiederholte Werner und schien ein neues Thema gefunden zu haben. „Früher, ja, das war lustig. Wir haben den Mädchen immer Zahnpasta an die Türklinke geschmiert und sie haben dafür Seife in unserem Zimmer verteilt. Wir haben uns köstlich amüsiert! Ja, und abends haben wir dann alle zusammen eine Party gefeiert, aber die Lehrer haben uns erwischt und wir haben Ärger bekommen. Und doch war es lustig. Und im Bus haben wir Papierkügelchen mit Nachrichten durch die Reihen geworfen, weil der Busfahrer stinkig war und uns aufgefordert hat, still zu sein. Und am Ende mussten wir dann jeder einen Bericht über die gesamte Klassenfahrt schreiben, das war vielleicht nervig. Und dann gab es auch noch Noten dafür! Als Entschädigung hat die Lehrerin uns eine Überraschung versprochen. Aber du kannst dir gar nicht denken, was das für ein Reinfall war! Wir waren in einem stinklangweiligen Museum über die Römer und sind fast eingeschlafen vor Langeweile, als einer der Jungen als Mutprobe den Feueralarm auslöste und wir nach draußen mussten. Die Feuerwehr kam, aber als sich herausstellte, dass kein Feuer brannte, durften wir wieder rein. Unsere Lehrerin war so aufgewühlt, dass wir frühzeitig nach Hause konnten! – Ist etwas?“

Nina schüttelte den Kopf und verdrehte die Augen. Wie konnte jemand so viel reden und nicht bemerken, dass er total nervte?

„Noch eine Stunde!“, brüllte der Busfahrer nach hinten.

„Siehst du, nur noch eine Stunde! Ich geh dann gleich zu mir nach Hause und werde weiter Gedichte schreiben. Der Sommer ist jetzt da, der Himmel ist schön klar, die Wolken sind aus Dunst, sehen aus wie Kunst.“

„Schön“, brummte Nina, um seinen Redefluss zu stoppen. „Ich schlafe jetzt.“ Sie schloss die Augen, aber Werner tippte ihr auf die Schulter und nickte Nina zu, die nun gezwungen war, ihn wieder anzuschauen. „Genauso wichtig wie …“

„Essen und Trinken.“ Sie verdrehte die Augen. „Das haben mir meine Eltern auch immer gesagt.“

„Ja, das kann nervig sein! Auch meine Eltern haben das immer gesagt. Und ich habe unter der Bettdecke gelesen, auch wenn das schlecht für die Augen war, also mach das nie, hörst du?“

Bist du mein Vater?, hätte Nina am liebsten gefragt, sie biss sich jedoch auf die Zunge und murmelte: „Nee.“

Doch Werner redete schon weiter. „Aber jetzt schreibt ihr abends doch nur noch SMS, oder? Das ist ja klar! Nur mit Smartphone beschäftigt, dem Fernseher, der Wii, dem Computer oder der PlayStation. Und keiner von euch denkt mehr an Bücher! Oder schaust du, wenn du etwas wissen willst, in der Bibliothek nach?“ Werner wartete ihre Antwort nicht ab und setzte seinen Redefluss fort: „Nein, natürlich nicht! Bücher sind viel zu umständlich, einmal bei Google was eingeben und abschreiben – fertig ist das Referat! Und die Schule wird immer unwichtiger! Dabei ist ein gutes Abitur für ein Studium und einen Beruf, der einem gefällt, sehr wichtig!“

„Ach nee“, sagte Nina ironisch. „Ich geh mal auf die Toilette!“ Sie drängte sich an Werner vorbei, stieg die drei Stufen hinunter und öffnete die kleine Tür zum WC. Sie trat ein, schloss die Tür hinter sich und lehnte sich stöhnend dagegen. Wie anstrengend konnten Menschen sein! Am liebsten würde sie die ganze restliche Fahrzeit hierbleiben, weit weg von der Quasseltante oder eher dem Quasselonkel Werner Schmitz! Doch das ging natürlich nicht. Nach fünf Minuten kehrte sie notgedrungen wieder auf ihren Platz zurück, schloss die Augen und versuchte das Gerede des Mannes auszublenden. Sie schaffte es sogar einigermaßen und schnappte nur die Worte „Politiker“, „Schulden“, „Schule“ und „Mathematik“ auf, also wechselte Werner mal wieder zwischen Tausenden von Themen hin und her.

Endlich hielt der Bus und Nina sprang auf, drängelte sich an Werner vorbei, der „Tschüss, war schön, dich kennenzulernen – äh, wie heißt du überhaupt?“ rief, und sprang aus dem Bus.

Als Werner, der ebenfalls den Bus verlassen hatte, neben sie trat, murmelte sie: „Nina. – Tschau!“ und blickte sich um. Sie hatten auf ihrem Weg zum Flughafen am Ende der Stadt angehalten. Laut Karte führte sie auf ihrer Weiterreise ein breiter Feldweg in die richtige Richtung.

Eine plötzliche Stichflamme vor ihrer Nase ließ Nina hektisch mit der Hand wedeln. Sie versuchte das Feuer zu verscheuchen. Wenn das jemand sah? Die anderen Reisenden waren jedoch schon weitergegangen und hatten nichts bemerkt. Schon tanzte das Feuer ein paar Meter nach vorn und schien darauf zu warten, dass Nina ihm folgte. „Die Leute …“, knurrte Nina und verdeckte die Stichflamme schnell mit ihrer Hand.

So führte das Feuer sie den Feldweg zurück in Richtung Innenstadt, durch kleine Gässchen und verwinkelte Straßen. „Ich hoffe, du zeigst mir später auch den Weg zurück“, brummte das Mädchen missmutig. Sollte es doch alles wahr sein?

Plötzlich hielt das Feuer an. Sie standen vor einem ordinären Einkaufsladen, der Mode für junge Leute anbot. „Was soll ich da? Klamotten kaufen?“, spottete Nina. Und tatsächlich führte das Feuer Nina in das Geschäft. Kinder und Jugendliche liefen durch den Laden und zogen ihre Eltern hinter sich her, die sich geduldig der Warteschlange vor den Umkleidekabinen zugesellten.

Das Feuer formte einen Pfeil, der auf die Rolltreppe wies, und verschwand danach. Zittrig folgte Nina der angezeigten Richtung und legte die Hand auf das Rolltreppengeländer. Ihr war, als würde sie in einen Strudel gesogen werden, und plötzlich stand sie in einem kleinen, dreieckigen Raum mit dunkelgoldenen Wänden, einem silbernen Sessel und Tausenden von Regalen mit ausgefallener Kleidung. Es gab Strumpfhosen, die lila-neongelb gestreift waren und mehr aus Löchern als aus Stoff zu bestehen schienen, knallbunte T-Shirts mit Sphinxen darauf, die sich in Katzen und wieder zurück verwandelten, und viele andere merkwürdige Kleidungsstücke.

„Wow!“, staunte Nina. Sie griff sich ein schwarzes, schmal geschnittenes T-Shirt, auf dem eine vergoldete Sphinx abgedruckt war, die sich bewegte! Dann nahm sie noch eine schwarze Leggings mit goldenen, auf und ab tanzenden Punkten aus einem Regal. Außerdem gefiel ihr eine schneeweiße Jacke. Auf einem Tresen erschien wie von Zauberhand das Bild eines dicken Buches. „Was soll ich denn damit?“, fragte Nina verwundert. Da ihr niemand antwortete und sich auch das Feuer nicht zeigte, suchte sie den ganzen Laden nach diesem Buch ab, konnte es aber nirgendwo entdecken. In ihrem Rucksack wurde sie schließlich fündig. Sie nahm das Buch heraus und legte es auf den Tresen, doch es verschwand in derselben Sekunde.

Nina warf einen Blick auf die Rolltreppe. „Und das hat es jetzt gebracht?“, murmelte sie, legte sich die neuen Kleidungsstücke über den Arm und berührte wie schon zuvor das Rolltreppengeländer.

In die Sphinxwelt

Sie kam relativ schnell in die nächste Stadt und fand den Flughafen. Ihr Flug war anscheinend schon gebucht worden, und so kam sie beim Check-In schnell voran. Während sie in einer kurzen Schlange stand, stellte sie sich vor, sie wäre normal, ganz normal. Sich vor einer Mathearbeit fürchten, mit ihren Freundinnen über Nagellacksorten streiten und all das tun, was Teenies in ihrer Freizeit so taten. Aber vielleicht wäre das doch langweilig, dachte sie schließlich.

Einen Koffer hatte sie nicht dabei, also machte sie sich gleich auf zur Flughafenkontrolle. Sie legte ihre Uhr und ihren Rucksack auf das Band und ging durch den Metallbogen.

Die Zeit bis zum Abflug vertrieb sich Nina mit Warten. Sie kaufte sich ein Käsebrötchen, trank eine Limonade und tigerte ungeduldig vor den großen Fenstern der Aufenthaltshalle hin und her. Noch eine Stunde! Wie sollte sie das aushalten?

In ihrem Rucksack fand sie das Buch „Das Land der Sphinxen – Alles, was man wissen muss.“ Damit setzte sie sich auf einen der Plastikstühle zwischen zwei Engländer und begann zu lesen.

Die beiden Männer neben ihr schienen sich sehr zu wundern, dass Nina mit einem Rucksack reiste, der so klein war, dass nicht einmal ein Din-A4-Blatt hineingepasst hätte. „Du warst doch die ohne Koffer“, sagte einer von ihnen auf Englisch zu Nina. „Hast du keine Sachen dabei?“

„Nur wenige“, sagte Nina vage und vertiefte sich in ihr Buch.

„Sobald junge Sphinxen in die Sphinxwelt gelangen, bekommen sie vom Bürgermeister der jeweiligen Stadt ihren geheimen Namen. Wer diesen von einem anderen kennt, verfügt über alle Macht über ihn.“ Na, das hörte sich ja toll an! Nina wusste nicht, ob sie das hier überhaupt wollte. Doch hatte sie eine Wahl? Ja, die habe ich!, sagte sie sich trotzig. Ich kann nach Hause zurückfahren! Doch insgeheim wusste sie, dass sie nichts selbst entscheiden konnte, und das hasste sie. Sie las weiter: „Sobald sie ihren neuen Namen bekommen, können sie Gedanken lesen. Vor allem wird diese Gabe unter den Sphinxen angewendet, unter Menschen ist es ebenfalls möglich, wenn auch mit Einschränkungen.“

Dann wurde endlich Ninas Flug aufgerufen. Mit schweißnassen Händen ging sie zum Schalter und reichte der Frau, die dort zuständig war, ihr Ticket, das sogleich eingescannt wurde. Nina war zwar schon geflogen, jedoch noch nie allein.

„Gute Reise!“, wünschte die junge Frau, während sie den hinteren Teil des Tickets abriss.

Nina nickte nur, dann ging sie mit den anderen Reisenden den Gang entlang zum Flugzeug. Im Flugzeug wünschten ihr die Flugbegleiterinnen mit ihrem aufgesetzten, geduldigen Lächeln ebenfalls eine gute Reise.

Nina hatte Glück, die Plätze neben ihr blieben frei. Auch sonst war das Flugzeug nicht so voll, wie sie erwartet hatte. Der Pilot stellte sich vor, dann zeigten einige Bildschirme an der Decke die Sicherheitshinweise. Nina schluckte. Das Flugzeug rollte auf die Startbahn, ein Signal wurde gegeben und sie fuhren nun immer schneller. Nina kniff ihre Augen zusammen und kauerte sich in ihren Sitz. Da spürte sie, wie das Flugzeug abhob, und erst jetzt öffnete sie ihre Augen wieder. Das Flughafengebäude unter ihr wurde immer kleiner, bis es ihr wie ein Legostein aus Tobias’ Sammlung erschien. Sie seufzte erleichtert auf, denn schon bald würde sie in Großbritannien sein.

Aber was dann? Sie müsste irgendwo übernachten, denn Stonehenge öffnete sich doch nur zur Sonnenwende, und die war erst in einer Woche! Und bisher hatte sie noch nie außerhalb des Unterrichts englisch gesprochen! Gut durchgeplant war das auf keinen Fall! Schließlich brauchte sie auch noch Devisen – englische Pfund! Wie kompliziert das alles war und wie gern sie jetzt auf dem Rückweg von der Klassenfahrt nach Hause gewesen wäre! Ihre Eltern würden sich die größten Sorgen machen, wenn Herr Malan sie anrief! Was er ihnen wohl erzählte? Und ob Tobias wieder zu Hause bei ihren Eltern war?

Nina holte ein Haargummi aus dem Rucksack, band sich die Haare zusammen und schloss die Augen. Nach knappen zwei Stunden landete ihr Flugzeug in England.

Das Wetter war sehr angenehm. Nicht so schwül, wie es in Deutschland gewesen war, eher erfrischend kühl.

Nina stand vor dem Flughafengebäude, starrte in den bewölkten Himmel und versuchte sich zu entscheiden, was sie als Nächstes tun wollte. Wo würde sie eine Unterkunft finden? Es war Nacht und somit dunkel. Außerdem war sie müde, weil sie zwar versucht hatte, im Flugzeug zu schlafen, dabei aber höchstens zweimal kurz eingenickt war.

Sie verließ das Flughafengelände, schlenderte die Straße entlang und schaute sich die Häuser an. Ein kleines, verputztes Haus erweckte ihre Aufmerksamkeit. Drinnen brannte eine Lampe, aber an der Wand entdeckte Nina die Zeitschaltuhr. Zudem quoll der Briefkasten über. Ihre Gedanken überschlugen sich. Was sollte sie sonst tun? Nie, aber auch wirklich nie, hatte sie auch nur an so etwas gedacht. Das Feuer schien ihr helfen zu wollen, denn ohne dass sie etwas tat, verbrannte es leise ein Stück des Fensterrahmens, sodass sich das Fenster mühelos aufschwenken ließ. Ein wenig zögerlich kletterte Nina durch die Fensteröffnung und stand in einem großen Wohnzimmer, in dem sich rechts zwei Schränke, in der Mitte ein Fernseher und links ein großes Sofa befanden. Vorsichtig schaute sie sich um und prüfte, ob auch wirklich niemand im Haus war. Dann sank sie erschöpft auf das Sofa und schmiss den Rucksack vor einen der Schränke. Müdigkeit übermannte sie und ließ sie in einen traumlosen Schlaf gleiten.

Um acht Uhr am nächsten Morgen wachte sie auf, einigermaßen erholt, aber nicht in der Stimmung, etwas zu unternehmen. Sie versorgte sich mit Lebensmitteln aus dem Kühlschrank und legte zehn Euro hinein. Die sollten die Bewohner, wenn sie wiederkamen, in Pfund umtauschen. Schuldgefühle nagten an ihr, aber was sollte sie tun? Mittags duschte sie fast eine halbe Stunde lang, danach erkundete sie das Haus und schaute stundenlang fern. Abends ging sie früh schlafen.

Die nächsten Tage beschäftigte sie sich mit dem Lesen des Buches über die Sphinxwelt und mit stundenlangem Fernsehen. Vor dem Schlafengehen wünschte sie sich immer, es wäre nur ein Traum und sie würde gleich wieder bei sich zu Hause aufwachen.

Am zwanzigsten Juni buchte sie einen Touristenbus nach Stonehenge, indem sie zur nächsten Bushaltestelle lief und dort fragte, wo man Reisen zu dieser Sehenswürdigkeit buchen konnte.

Wieder zurück in der fremden Wohnung, tigerte sie hin und her, zog sich fünf Mal um und packte zum wiederholten Male ihre Sachen. Dann legte sie sich aufs Sofa, war aber viel zu aufgewühlt, um schlafen zu können. Der Wind blies eine leichte Brise herbei und wehte den Geruch eines Lagerfeuers durch das geöffnete Fenster. Nina atmete tief ein, ohne die Augen zu öffnen. Wann würde sie je wieder etwas so Menschliches riechen?, fragte sie sich traurig. Plötzlich musste sie mit den Tränen kämpfen. Sie zog die Decke, die sie sich aus dem Schlafzimmer geholt hatte, bis zur Nasenspitze hoch und versuchte sich zu entspannen. Aber es sollte noch einige Zeit dauern, bis sie endlich in einen traumlosen Schlaf glitt.

Am nächsten Morgen beeilte sie sich, das Haus aufzuräumen. Dann machte sie sich auf den Weg. Sie ging die lange Straße entlang, bog in eine kleine Gasse ein, nahm die erste Abzweigung nach links und war auch schon an der Bushaltestelle. Der Reisebus stand bereits da, und nachdem Nina dem Fahrer ihre Fahrkarte gezeigt hatte, ließ sie sich auf den erstbesten Sitz plumpsen. Die Fahrt nach Stonehenge dauert nicht allzu lange und der Bus hielt vor einer Wiese. Die Mittagssonne glühte auf den Steinen und es verschlug Nina den Atem. Der blaue Himmel, davor die grauen Steine auf der hellgrünen Wiese, und die Sonne, die die Steine in ein schimmerndes Licht tauchten, das alles sah so unwirklich aus! Die anderen Reisenden schossen Fotos, ließen sich vor den Steinen fotografieren und picknickten auf der Wiese. Nina hielt sich etwas abseits, setzte sich ins Gras und seufzte tief.

Als der Bus am frühen Abend wieder losfuhr, versteckte sie sich, und da der Busfahrer nicht durchzählte, bemerkte er ihr Fehlen nicht. Bis zum Abend hielten weitere Busse an und brachten neue Touristen, die sich Stonehenge ansahen. Gelangweilt verfolgte Nina das Treiben.

Als es dämmerte, sahen die Steine mystisch aus. Hinter ihnen leuchtete die rötliche Sonne. Es wurde zehn Uhr, es wurde elf, es wurde halb zwölf. Fünf Minuten vor Mitternacht stand Nina auf. Ihr Mund war trocken. Würde es funktionieren? Wenn das alles nur ein gut geplanter Scherz war – was durchaus sein konnte –, wie kam sie dann zurück?

Sie berührte den Stein mit den Fingerspitzen. Er war eisig kalt. Erschrocken fuhr sie zurück.

Drei … zwei … eins … Ninas Stoppuhr piepste.

Wieder legte sie die Hand auf den Stein, und nun war er kochend heiß. Wie von Geisterhand und sehr langsam schrieben sich Worte auf den Stein: „Magus excitare relino novum mundus!“

„Magus excitare relino novum mundus“, flüsterte Nina. „Sagen Sie den Namen Ihres Schutzengels!“, erschien auf dem Stein. „Unicus“, sagte Nina mit rauer Stimme. „Unicus“, wiederholte sie lauter. Für ein paar Sekunden herrschte gespenstische Stille, dann schien ein heller Blitz den Himmel zu spalten und alles war so grell, dass sich Nina die Augen zuhielt. Es war, als würde sie von einem Strudel erfasst und in das Innere des Steins gesogen werden! Und dann fiel sie, immer tiefer, immer weiter nach unten … sie fiel mit geschlossenen Augen ins Schwarze. Erst als sie weich landete, öffnete sie vorsichtig die Augen.

Sie sah sich um. Wo war sie?

Vor ihr breitete sich eine Wiese aus, auf der wunderschöne Blumen wuchsen, die im Dunkel der Nacht bunt leuchteten. Neben ihr lag ein großer Stein. Sie berührte ihn mit der Hand – er war kochend heiß! „Der Fels Rupes – Willkommen in der Sphinxwelt“, stand auf ihm. Am Rand der Wiese sah sie die ersten beleuchteten Häuser einer Stadt, sie waren alle groß und prunkvoll, golden verziert, aber sonst ganz gewöhnlich. Schnell zog Nina ihre Sphinxkleidung an und ging dann langsam und mit wackeligen Knien über die Wiese. Was der lateinische Satz, den sie hatte sagen müssen, wohl bedeutete? Sie hatte in der Schule kein Latein gehabt, aber weil Maria und Pia Latein gewählt hatten, wusste sie, wie es ungefähr klang. Und was würde als Nächstes passieren? Ein Gedanke jagte den anderen und ihr wurde ganz schwindelig vor Angst.

Vor dem Ortseingang konnte Nina schemenhaft eine Gestalt erkennen. Sie näherte sich ihr stolpernd. Es war ein großer, kräftiger Mann mit Brille, der ihr die Hand entgegenstreckte. Nina schüttelte sie, während er sie begrüßte: „Hallo Nina, willkommen in unserem Dorf Malukan. In bin der Bürgermeister Jon Teffers.“

Nina nickte und unterdrückte ein Gähnen, es war schon so spät!

„Oh, tut mir leid, du musst sehr müde sein!“, rief Herr Teffers und schlug sich mit der Hand gegen die Stirn. „Entschuldige bitte. – Ich zeig dir das Haus, in dem du schläfst. Du teilst es dir mit den Mädchen, die in deiner Klasse sind. Du verpasst zwar unser Sonnenwendefest, aber ich glaube, so müde, wie du bist, würde es dir auch keinen Spaß machen.“ Herr Teffers machte eine kurze Pause und sprach dann weiter. „Morgen fällt deinetwegen die Schule aus und schon übermorgen gehst du mit den anderen Mädchen und Jungen in die siebte Klasse. Du hast einiges verpasst, aber du holst das Versäumte schon auf.“

Schule? Sollte sie nicht diese Figur suchen? Doch Nina kam nicht dazu zu fragen, denn in diesem Moment stoppten sie an einem gelben Haus, auf dessen rot gestrichene Eingangstür Kinder „W7“ gemalt hatten.

Der Bürgermeister klingelte, und als hätten sie darauf gewartet, öffneten etwa zehn Mädchen die Tür. Nina wurde begrüßt und mit Fragen bombardiert, doch Herr Teffers führte sie geschickt an ihren Klassenkameradinnen vorbei, zunächst durch die Küche mit dem Esstisch, dann durch den Aufenthaltsraum, bis sie in einem von drei Schlafzimmern angekommen waren. Nina ließ sich widerstandslos auf das nächstbeste Bett sinken und bekam nur noch verschwommen mit, dass nun auch die Mädchen das Zimmer betreten hatten und sie neugierig anstarrten. Dann jagte der Bürgermeister die Mädchen vor die Tür, verließ ebenfalls das Zimmer und schloss die Tür, damit Nina endlich schlafen konnte.

Draußen wurde in den nächsten Stunden die Sonnenwende gefeiert, wobei auch einige Raketen abgeschossen wurden. Von all dem bekam Nina nichts mit, auch nicht von dem anschließenden Ball, der von lauter Musik begleitet war. Sie schlief wie ein Stein. Und so erwachte sie – immer noch müde – erst am nächsten Morgen.

Ich habe das alles nur geträumt, dachte sie halb erleichtert, halb enttäuscht. Sphinxen, als ob es so etwas gäbe. Aber es war ein schöner Traum!

Dann hörte sie Stimmen und Schritte.

Und das sind meine Freundinnen. Wir sind zusammen auf Klassenfahrt und sie kommen, um mich zu wecken, dachte sie schweren Herzens. „Ich steh ja schon auf“, murmelte sie, öffnete die Augen und setzte sich auf.

Doch sie war nicht in dem Bungalow in ihrer Jugendherberge. Sie lag in einem großen Raum, der golden gestrichen war, in einem von zwei großen Himmelbetten. Erstaunt ließ sie sich wieder in das weiche Kissen sinken. Es war doch kein Traum gewesen!

Da schaute ein Mädchen zur Tür herein. Es war klein, schlank, hatte schwarze, streichelholzkurze Haare und grüne Augen. „Hi, ich bin Fiola!“ Das Mädchen, das aussah wie ein Topmodell, stürmte ins Zimmer, warf sich auf das Bett neben Ninas und grinste sie an.

„Hi, ich bin Nina“, stellte Nina sich vor und kletterte aus dem Bett. „Weiß ich doch“, grinste Fiola sie an. „Kommst du mit zum Frühstück? Danach könnte ich dir die Gegend zeigen!“

Nina nickte dankbar. Sie trug noch immer die Sphinxkleidung, kramte in ihrem Rucksack nach der Bürste und kämmte sich die Haare. Dann folgte sie Fiola die Treppe hinunter in die große Küche.

Auf dem Esstisch standen die eigenartigsten Speisen. Nina setzte sich neben Fiola, versuchte die neugierigen Blicke der anderen nicht zu beachten und deutete auf eine große Lakritzstange, die – in eine Käsescheibe eingewickelt – in einem Hotdog-Brötchen steckte. „Was ist denn das? Schmeckt das?“

Fiola kicherte. „Das ist eine unserer beliebtesten Mahlzeiten, Nina. Es nennt sich Lakritzbrötchen. Willst du eins probieren?“

Nina nickte und bekam von einem Mädchen auf der anderen Seite des riesigen Tisches die Schale mit den Lakritzbrötchen zugeschoben. Es schmeckte gar nicht mal so übel. Nina probierte noch diverse andere Speisen: Heuspiralen, Mangotannen und Radieschenbohnen, aber auch ganz normale Salamibrötchen und Tomaten, worüber sie sehr froh war. Die Getränke waren am besten! Limonade wurde in den witzigsten Varianten angeboten: mit Zimt, Honig, Lakritz, Keks, Pfeffer und Salz und in vielen anderen Geschmacksrichtungen. Zum Nachtisch gab es kleine Kekse, die wie Katzen geformt waren – liegend, stehend, sitzend, fauchend, knurrend oder lächelnd. Sie schmeckten nach Äpfeln und Keksen und nannten sich Katzenfutter.

Nach dem Essen räumten alle gemeinsam ab. Dann fragte die Mädchen Nina über ihre alte Schule aus – „Gab es da wirklich das Fach Kunst?“ –, über die Kinder – „Die können sich echt nicht in Katzen verwandeln?“ – und auch über Getränke und Speisen – „Ihr trinkt braune Limonade und esst Kartoffelstäbchen? Iii!“

„Cola und Pommes“, berichtigte Nina lachend und machte Anstalten, nach draußen zu gehen. Zum Glück ließen die Mädchen sie jetzt in Ruhe und Nina trat allein vor die Haustür. Dort war es angenehm warm.

„Heute gibt es Regen.“

Sie fuhr herum, denn sie hatte nicht bemerkt, dass Fiola hinter sie getreten war.

„Das sieht man an den Wolken“, erklärte das Mädchen.

Nina nickte nur und schaute in den Himmel. „Ist Regen gut?“, wollte sie wissen. Dort, wo sie herkam, war Regen meistens schlecht gewesen, und es hatte so oft geregnet, selbst im Sommer, dass sie den Regen leid war.

„Gut. Im Winter schneit und regnet es viel, aber im Sommer? Nichts. Soll ich dir das Dorf zeigen?“, fragte Fiola.

Nina nickte. „Gern.“

„Verwandle dich in eine Katze, dann erkläre ich dir alles. Es geht auch in Menschengestalt, aber als Katzen sind wir schneller.“

Nina war einverstanden und konnte es nicht erwarten, sich endlich zu verwandeln.

Fiola setzte zum Sprung an und wurde im Flug zur Katze. „Mach das lieber nicht“, warnte sie. „Das musst du erst lernen.“

Nina nickte ergeben, verwandelte sich und sprintete ihrer neuen Freundin hinterher. Ihre Pfoten spürte sie kaum auf dem Asphalt, so geschmeidig zischte sie an Fiola vorbei.

„Mensch, du bist ein Naturtalent“, staunte die und miaute.

Fiola zeigte Nina zuallererst die Schule – ein großes, gelb gestrichenes Haus mit mehreren kleineren Nebengebäuden. Dann liefen sie in die Mitte der Stadt zu einem großen Dorfplatz, neben dem im Rathaus der Bürgermeister anzutreffen war.

„Und wo lebt die Muata?“, fragte Nina, als sie den Blick über den Platz wandern ließ, in dessen Mitte eine große Statue der Muata stand, um dann die immer dunkler werdenden Wolken zu betrachten.

„Niemand weiß es, nur ihre Angestellten, Berater und so weiter sind eingeweiht. Aber die verraten nichts, wenn sie mal rauskommen. Die Muata bestellt nie Leute zu sich. Man munkelt, sie würde in einer Pyramide wohnen, andere denken an ein schönes Schloss oder an ein riesiges Hochhaus. Auf jeden Fall lebt sie abgeschieden irgendwo in der Wüste oder so, und natürlich haben viele versucht, sie zu finden, aber keiner hat es je geschafft.“ Mit verklärtem Blick ergänzte Fiola: „Sie leitet alles von ihrem Sitz aus, aber ihretwegen geht es uns gut. Wir verehren sie.“ Es sah so aus, als ob sie auch gern versuchen würde, die Muata zu finden. „Komm“, sagte sie und riss sich los, „lass uns zurückgehen. Bald ist hier deine Namensgebung.“

Nina schluckte. „Gut, kehren wir zurück. Und morgen gehe ich dann in die Schule?“

Fiola nickte.

Als Katzen stürmten sie durch die Straßen und begegneten dabei außergewöhnlich vielen Artgenossen.

Der Bürgermeister wartete schon ärgerlich auf sie. „Zu spät“, brummte er und beäugte die beiden Mädchen. „Na, dann kommt, wir müssen dich“, er schaute Nina an, „noch herrichten. Das übernimmst du …?“ Nun schaute er fragend zu Fiola.

„Fiola“, half ihm Fiola.

„Ach ja, ich bin schrecklich vergesslich, danke! Das Kleid hängt in ihrem Schrank, Fiola. Mach sie schick, es ist ein sehr wichtiger Tag für sie.“ Der Bürgermeister versprach, sie abzuholen, wenn es so weit war, und verschwand.

Nina folgte Fiola in ihr Zimmer. Aus einem der drei Schränke, die an der Wand standen, holte Fiola ein langes, dunkelblaues Kleid, das Nina gut stand, doch die rümpfte nur die Nase.

„Ich hasse Kleider!“, jammerte sie. „Kann ich nicht die Sphinxkleidung anbehalten?“

„Nee, das geht nicht.“ Fiola schüttelte den Kopf. „Ich musste ein viel schlimmeres Kleid tragen, als ich vor zwei Jahren ankam. Das war ein rotes Rüschenkleid mit drei Schleifchen, zwei an der Seite und einem am Hals, also sei lieber glücklich mit deinem.“ Fiola zwinkerte ihr zu. Dann holte sie ein Haargummi und eine Bürste aus ihrem Schrank. Sie half Nina beim Ankleiden und machte ihr einen schönen Zopf. „Tolle Haare hast du!“, sagte sie begeistert.

Nina murmelte etwas Unverständliches und drehte sich vor der Spiegelwand der Schränke hin und her.

„Oder willst du die Haare doch lieber offen tragen? – Ja, das ist besser.“ Kritsch betrachtete Fiola ihr Werk, entfernte das Haargummi und kämmte Ninas Haare gründlich durch.

„Ich glaube, es reicht“, knurrte Nina. Sie hasste einen solchen Aufwand, und außerdem hasste sie Kleider, auch wenn sie zugeben musste, dass dieses Kleid gar nicht mal so übel zu ihren haselnussbraunen Augen passte.

„Du siehst fantastisch aus“, schwärmte Fiola, als sie fertig waren.

„Aber in der Schule muss ich das nicht tragen, oder?“

„Um der Muata willen, nein, natürlich nicht!“, beruhigte ihre Freundin sie und lächelte bei der Vorstellung, Nina würde im Kleid in der Schule auftauchen.

„Und die Namensgebung? Was ist das?“, wollte Nina wissen.

„Du bekommst deinen geheimen Namen. Den darfst du niemandem verraten, sonst hätte derjenige alle Macht über dich.“

„Hört sich fantastisch an.“

Schon wieder hatte der Bürgermeister auf sie gewartet. Die Mädchen folgten ihm durch die ausgestorbene Stadt, Nina sollte noch sehen warum.

Alle – wirklich alle! – Bewohner des Dorfes hatten sich versammelt, und das waren weit über eintausend. Sie standen um den Marktplatz herum und versuchten, einen möglichst guten Blick auf das Geschehen zu erhaschen.

Herr Teffers führte Nina in die Mitte des Marktplatzes und stellte sich in die Menge.

Nina erkannte einige der Mädchen aus ihrem Haus und sah Fiola, die ganz vorn stand und den Daumen hochhielt. Sie lächelte zaghaft, als es plötzlich totenstill wurde. Das muntere Gequatsche verstummte und eine unangenehme Stille senkte sich über den Marktplatz. Unruhig schaute Nina sich um.

Herr Teffers trat auf sie zu und legte eine Hand auf ihren Arm. Die Menge hielt den Atem an. Nina spürte, wie er in ihre Gedanken eindrang, es war kein angenehmes, aber auch kein besonders unangenehmes Gefühl. Captura, dachte er, das ist dein geheimer Name. Pass gut auf ihn auf! Verschließe ihn in deinen Gedanken!

Dann verließ er ihre Gedanken wieder, zog die Hand zurück und schloss für einen kurzen Moment die Augen. „Nina“, sagte er dann mit leiser Stimme, doch die Menschen johlten. Und Nina war es, als würde ihr Kopf explodieren. Plötzlich hörte sie die Gedanken von jedem Einzelnen, der hier stand, und es war, als würden tausend Stimmen gleichzeitig auf sie einprasseln.

„Du wirst lernen, damit umzugehen“, meinte Herr Teffers und nickte ihr zu. „Versuche die Stimmen auszublenden.“ Nina versuchte es, aber das Gemurmel blieb, es wurde nur etwas schwächer. Sie hatte das Gefühl, dass die Gedanken dann besonders laut waren, wenn derjenige, von dem sie kamen, ganz in ihrer Nähe stand. Sie würde hoffentlich sehr bald lernen, das Gedankenlesen zu kontrollieren!

Dann tänzelte Fiola auf sie zu. Sie dachte an Essen und reichte ihr eine Zimtlimo – Ninas Lieblingssorte – und Katzenfutter. „Komm, iss was. – Das ist doch wirklich irre, oder? Und ich bin deine Freundin!“, rief Fiola entzückt.

„Beste Freundin“, korrigierte Nina lachend und öffnete die Flasche. Auch die anderen Bewohner der Stadt bedienten sich an einem großen Buffet. Sie aßen, tranken und lachten, während Nina sich bemühte, die lauten Stimmen auszublenden. Sie musste Hände hier, Hände da schütteln, versuchte aber gar nicht erst, sich die Namen aller, die sich ihr vorstellten, zu merken. Dann ertönte Musik und die Menge teilte sich, sodass in der Mitte eine Tanzfläche entstand.

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Возрастное ограничение:
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Дата выхода на Литрес:
22 декабря 2023
Объем:
290 стр. 1 иллюстрация
ISBN:
9783957440945
Издатель:
Правообладатель:
Автор
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