Читать книгу: «Himmel», страница 4

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6

Dann erwachte sie in dem Traum. Sie spürte eine Mattigkeit, die ihr aus all ihren Träumen vertraut war; sie war Emilia und sie wollte wieder einschlafen. Draußen krähte ein Hahn, schrie mit wahnwitziger Inbrunst, weckte sie mit seinem Gezeter, obwohl seine Stimme nur gedämpft zu ihr drang. Die Hühner lebten zwei Straßen weiter. Sie waren das Hofgeflügel von Whitehall Palace. In der Ferne läuteten die Glocken zweier Kirchen, schlugen weiter und immer weiter.

Schrittweise hörte der Traum auf, ein Traum zu sein. Auf ihrem Gesicht war echte Kälte zu spüren, echtes Morgenlicht hinter echten Lidern. Der Moment war so still und trist, wie kein Traum es sein konnte. Sie öffnete die Augen.

Sie lag in einem zu weichen Bett, das von allen vier Seiten von Vorhängen umschlossen war. Die Vorhänge in der Nähe ihres Gesichts rochen nach Staub und Winter. Sie zog daran, sie ließen sich leicht aufziehen und gaben den Blick frei auf eine verputzte Decke und einen schmalen gemauerten Kamin, dessen Feuer zu Asche heruntergebrannt war. Der Boden war mit Binsen bedeckt: ein struppiger Teppich aus blassen getrockneten Gräsern, in dem silbriger Lavendel aufblitzte. Emilia betrachtete ihn mit körperlichem Wohlbefinden. Sie wusste, wo der Lavendel gewachsen war – im Ostgarten, wo sie ihre erste Tabakpfeife geraucht hatte. Sie erinnerte sich, wie sie in den Binsen gesessen und mit ihren Fingern die Halme geknickt hatte, um besser denken zu können. Sie erinnerte sich an eine Fülle von Dingen, die sie vorher nicht gewusst hatte, Dinge über Emilia, aus Emilias Kopf.

Das ist der Traum, dachte Kate. Ich bin in dem Traum. Darum war ich so froh.

Sie kämpfte sich unter den Decken in eine sitzende Haltung, und ihr Atem war dünn. Ihr Bauch war gleichzeitig gedehnt und eingedrückt, sein Gewicht heiß und lebendig an ihrem Arm. Dann erwachte ihr Inneres, ein Treten, das stumpf gegen ihre Rippen stieß. Ihre Brüste waren wund und empfindlich. Sie war schwanger. Darum war ich so froh.

Dann hielt sie inne, um mehr zu erfahren: Es fiel ein Schnee aus Informationen, dessen Flocken sich zu einer neuen Landschaft formten. Dies war nicht der Mond. Dies war der Londoner Stadtteil Longditch. Dies war das neue Haus, von dem Tuchhändler gepachtet, das elegante Haus in der Nähe von Whitehall Palace. Die Königin weilte im Moment nicht in London; es gab eine Seuche. Deshalb war Emilias Gatte abwesend; er war mit dem Hofstaat verreist. Anders als in New York war es nicht Herbst, sondern März. Anno Domini 1593. Ein Unglücksjahr, ein Pestjahr; alle Orte der Vergnügung geschlossen, die vornehme Gesellschaft aus der Stadt geflüchtet, zumindest gab es Gottes Gnaden sei Dank keinen Krieg. Die Informationen häuften sich, und Emilia ließ es zu, fühlte sich wohl, das Kind in ihr ein lebendiger Ballast, die Decken warm.

Als sie blinzelte und sich erinnerte, erschien auf dem Boden neben dem Ofen eine Maus. Ihre Bewegungen erschreckten sie; dann erschreckte sie ihre schiere Anwesenheit. Unheimlicherweise sah sie genauso aus wie die Mäuse, die Kates Wohnung in Brooklyn heimsuchten: eine Maus direkt aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert. Sie beschnupperte wichtigtuerisch die auf dem Boden verstreuten Binsen, genau wie eine Maus aus Brooklyn den Linoleumfußboden beschnuppern würde.

Dann war sie wieder Kate, erstaunt. Die Maus kroch über den Fußboden, unleugbar lebendig. Sie war echt. Sie lebte und sie war echt.

Dies war nie ein Traum gewesen. Es war die Vergangenheit.

Draußen im Flur war ein Schritt zu hören, eine Pantine, die auf Holz schlurfte. Die Maus erlitt einen flackernden Anfall von Angst und flitzte unter eine bemalte Truhe. Emilia richtete sich auf, verstand zum einen, zum anderen tat sie es aus Gewohnheit. Sie rief nervös (und fühlte ihre Absicht, fühlte sie in ihrem Hals, war überrascht von ihrer tiefen und melodischen Stimme): »Mary, bist du das?«

Der Schritt hielt inne. Einen Atemzug lang war Emilia sich bewusst, dass sie nicht ganz Emilia war. Dann dachte sie an das, was sie sagen musste. In der seltsamen Art, die Träumen anhaftet, rief sie: »Sei so gut, komm und entzünde das Feuer, mein Kind. Es ist hier kalt wie der Mond.«

Sie hörte, wie ein Holzeimer abgestellt wurde, den eigenartig hohlen Hall des Wassers. Die Tür öffnete sich und Mary trat ein. Sie war ein winziges Mädchen von etwa dreizehn Jahren mit rosafarbenem Gesicht. Sie hatte eine schmuddelige Haube auf, doch sie trug ein sauberes Kleid mit weiten Röcken, pfauenblau. Auf Kate wirkte sie wie ein Schulmädchen in einem Kostüm für eine Theateraufführung. Emilia verdross die schmuddelige Haube, ein nie enden wollendes Ärgernis. Mary nestelte mit rußgeschwärzten Fingern daran herum; sie gehörte zu der ewig schmutzigen Sorte Dienstmädchen.

Mary knickste, so schnell, dass es wie ein Stolpern aussah, ging dann zum Herd und förderte mit dem Schürhaken unter der Asche eine dickflüssige Glut zutage, die orange aufflammte, unberechenbar wie eine Schlange. Sie legte einige Zweige in das Leuchten, mit solch eleganter Fingerfertigkeit als vollführe sie ein Kunststück. Sofort wuchsen Zungen an den Seiten empor, und Mary hob zwei Scheite auf und legte sie in die Flammen. Der Geruch des Feuers breitete sich aus, vermischt mit Marys lebendigem Gestank, doch seine Wärme war noch nicht zu spüren; und nun erkannte Emilia auch ihren eigenen Körpergeruch, die Überreste des Parfums, vermischt mit Schweiß und dem säuerlichen Geruch der Flüssigkeit, die aus ihren Brüsten drang. All das war echt.

Darin keimte Bedeutsamkeit auf, die an ihr nagende Eingebung, dass es etwas gab, das Emilia tun musste. Es hatte mit dem Rahmen der Szene zu tun, mit ihrer Form. Sie war hier, um … es lag ihr auf der Zunge. Es hatte nichts mit dem Baby oder der Seuche zu tun. Auch nicht mit der Königin. Sie hatte es ihr ganzes Leben lang gewusst. Es war … sie wusste es, fast.

Währenddessen betrachtete sie Marys schmutziges Gesicht mit einer besitzergreifenden Zuneigung, die Emilias ureigenste Empfindung war, Kate hatte dergleichen noch nie gefühlt. Und nun erwiderte Mary den Blick, hob störrisch ihr Kinn und sagte: »Wie es Euch beliebt, doch ist der Mond nicht kalt.«

Für einen kurzen Moment war Emilia überrumpelt. Sie antwortete vorsichtig: »Wie nun – der Mond ist nicht kalt?«

»Madam, Ihr sagtet, es ist so kalt wie der Mond. Doch ist der Mond näher bei Gott. So wird er schon warm sein. So dachte ich, Madam.«

»Ach, Gott ist also warm? Er wärmt den Mond?«

»Sicherlich. Gott ist gut. Und sehr groß. Er kann alle Himmelsgefilde erwärmen.«

Emilia lachte überrascht, und Mary glühte geradezu vor intellektueller Selbstzufriedenheit, schwankte leicht auf ihren Fersen vor und zurück. Mary war – das fiel Emilia nun wieder ein – eine große Denkerin, die unglücklich war, wenn sie ihre Reden nicht halten durfte. Aus diesem Grund hatte man sie aus dem Haushalt der Hunsdons, wo ihr Geschwätz nicht toleriert worden war, hierher geschickt.

Mit zunehmendem Ernst sagte Mary jetzt: »Es ist die Hölle, die kalt ist. Mein Bruder sagt, die Hölle sei heiß vom Höllenfeuer, doch ich sage, es muss eine kalte Flamme in der Hölle sein, die brennt, und doch keine Wärme gibt. Ich weiß, dass ein Priester einmal dergleichen sagte. Es ist also nicht nur meiner Einbildung entwachsen. Es ist die wahre Lehre, Madam.«

»Welch melancholischer Gedanke«, sagte Emilia.

»Was bringt dich zu solcher Grübelung?«

»Der Glaube, falls die Pestilenz allein nicht ausreicht!«

So plapperte Mary immer weiter, beschrieb die Hölle und wie ihre eigene Mutter als Sünderin gestorben sei; und Mary würde dafür beten, dass ihre Mutter nicht in die Hölle gekommen sei, wenn es aber nun so wäre, sei es doch strittig, ob es ihre Pflicht als Tochter sei, gut zu sein oder zu freveln und zu sündigen, denn es heißt, man solle Vater und Mutter ehren, und es wäre doch der Ehre wenig, sie allein in der Hölle schmoren zu lassen. Und dies sei ein allgegenwärtiger Gedanke in dieser pestgeplagten Stadt, dieser Stadt, in der nur noch die Würmer frohlocken würden. Immerhin seien selbst die Katzen vor Londons Siechtum geflohen. So habe Mary es gehört, und sie hinterfrage es nicht, denn oft seien Tiere weise, wo die Menschen töricht seien. Mary redete immer weiter und Emilia hörte zu, mit dem nervösen Gefühl, dass sich ihr irgendein Hinweis offenbaren müsse, während das Feuer im Ofen kühn prasselte, Mary an ihrer Haube zupfte, und die Fensterläden mit jedem Windstoß klapperten. Einige Sätze aus Marys Erzählung lösten bei Emilia ein Kribbeln aus und verfingen sich in ihren Gedanken wie Kletten: Mein Vetter … weiser, zu fliehn … dass sie meinem Vater Hörner gab. Schließlich verstummte Mary, blickte ins Feuer, ihr Gesicht mahnend und düster, als sähe sie dort ihre zitternde Mutter. Sie nahm den Schürhaken und stieß ihn grollend gegen einen der Scheite, biss sich auf die Lippe.

»Weshalb aber bin ich dann hier?«, fragte Emilia heiser. »Kannst du es mir nicht sagen?«

Voller Hohn stieß Mary Luft zwischen den Zähnen hervor. »Wir sind hier, weil Euer Bauch zu groß zum Reisen ist. So sagtet Ihr. Doch ich sage, es wird dem Kind keine guten Dienste erweisen, wenn es seinen ersten Atemzug im Pesthauch Londons nimmt. Und meine Tante ritt einst fünf Tage lang, als ihr Bauch größer war, als –«

Dann riss Mary sich zusammen. Sie stand mit der Steifheit aller Dreizehnjährigen auf, die ob der Dummheit der Erwachsenen störrisch werden, und wandte sich ab, um den Schürhaken zurück an seinen Platz zu hängen. Emilias Blick fiel auf den Griff des Hakens, der die Form eines Salamanders hatte, jedoch mit menschlichen Ohren. Einen Moment lang formten die Scheite und Flammen hinter Mary eine grässliche, gespenstische Silhouette. Es war der schartige Umriss einer Stadt aus Feuer und Asche, das sich windende Gespenst einer toten Welt.

Ein stechender Ruck ging durch Emilias Bauch – das Kind reagierte auf Emilias Empfindung, bevor diese selbst sie wahrgenommen hatte. Es war Furcht. Draußen hatte der Hahn das Krähen aufgegeben, doch die Glocken schlugen immer weiter. Sie schlugen für die Pesttoten. Die Furcht durchfuhr sie wie ein Fanfarenstoß, wie ein Imperativ, der Emilia den Atem anhalten ließ. Im Feuer wurde der Umriss dunkler und deutlicher. Er war echt. Er war eine Vision, deutete jedoch auf etwas Echtes. Eine Stadt am Ende der Welt.

Dann fühlte sie, was zu tun war. Es war da draußen. Wie ein Hund nahm sie die Witterung auf.

Sie machte Anstalten, aufzustehen, und sagte zu Mary: »Es wird uns fern von London besser ergehn. Du tust weislich an deiner Furcht. Wir wollen zu meinem Vetter nach Horne fliehn.«

Das Zimmer begann, sich in Grau aufzulösen. Sie schlief ein. Sie konnte nichts mehr sehen. Alles wurde schwarz.

Sie erwachte in Bens Armen – sie fühlte sich fremd, sie fror und empfand zugleich eine freudige Erregung.

Da war das Hotelzimmer: die weißen, anonymen Wände, der Fernseher, dessen Fernbedienung an einer Kette hing, die so kurz war, dass man neben dem Gerät stehen musste, um den Kanal umzuschalten, der Hinweis, keinen Strom zu verschwenden, mit einer Comiczeichnung der lächelnden Erdkugel. Kate war schweißgebadet. Das Bettzeug war klamm.

O nein, dachte sie in froher Erregung. Ich muss zurück. Hier kann ich überhaupt nichts ausrichten.

7

Der nächste Tag war ein Sonntag, und Kate war mit ihren Eltern verabredet. Ben, so hatten sie es am Abend zuvor besprochen, würde mitkommen und sie kennenlernen.

Ihre Eltern wohnten in Low Droit, einer Migrantenenklave am East River, die von großen Wohnungsbauprojekten aus den Fünfzigern dominiert wurde, über denen die schwärzlichen Schornsteine des Con-Ed-Kraftwerks aufragten, die im Zuge der Proteste von 98 in Brand gesetzt worden waren. Unten in den Straßen waren die Wände mit dem für niedrigpreisige Stadtviertel typischen Patchwork überzogen: Ankündigungen politischer Debatten, Les Girafes-Graffitis – der Slogan QUI VOIT, enigmatisch und bedrohlich, mit der schablonierten Cartoongiraffe, die mit ihrem emporgehobenen Kopf den Weitblick hat. Darunter Schichten von alten Plakaten und Kritzeleien samt eines abblätternden Wandbilds zu Ehren der Marslandung, auf dem die drei todgeweihten Astronauten die UN-Flagge auf einem öden rosafarbenen Mars aufstellen. Auf dem Weg von der U-Bahn hörte man nur Arabisch und Französisch; die Leute auf der Straße sahen so aus, als befänden sie sich in einem Prozess zwangloser Verwahrlosung. Gezeitenströme von Kindern kamen und gingen, Trauben von Frauen hielten die Parkbänke besetzt, die meisten von ihnen waren auf beeindruckende Weise fett, alle rauchten. Einige Passanten gingen am Stock oder auf Krücken; es gab viele gescheiterte Existenzen. Dennoch war die Szenerie friedlich, strahlte den Müßiggang eines angenehmen Nachmittags in einer Nachbarschaft aus, die mit sich zufrieden war, in der die Menschen gut gefüllte Kühlschränke und keine Angst hatten.

Ben war spät aufgewacht, mürrisch und mit dem Bedürfnis, allein und in Ruhe die Entscheidung zu durchdenken, mit Kate zusammenzuziehen. Stattdessen hatte er hastig duschen und in die Klamotten vom Vorabend schlüpfen müssen. Auf dem Weg hatten er und Kate kein Wort miteinander gewechselt – ein schreckliches Vorzeichen, ein schreckliches Gefühl, dazu die zahnschmerzartige Beleuchtung in der U-Bahn. Nun gingen sie sehr langsam die Straße entlang, voll schlimmer Vorahnungen, die behandschuhten Hände ineinander verschränkt, während Ben sich am liebsten aus dieser Situation befreit hätte. Er überlegte, wie er ihr sagen könnte, dass er heute nicht dazu imstande war, dass sie mit dem Zusammenziehen noch warten sollten. Doch er liebte Kate. Oder etwa nicht? Bis zu diesem Moment hatte er Kate geliebt.

Sie betraten den Hof des Gebäudes, in dem Kates Eltern wohnten, und fanden dort ein Holzbläserquartett vor; die Musik klang dünn, entkräftet von dem feuchten Luftzug, der vom Fluss hinaufzog. Die Musiker hatten lange genug an Ort und Stelle verharrt, sodass der Wind einen kleinen Blätterhaufen vor ihren Füßen aufgestapelt hatte. Ben und Kate waren eine Viertelstunde zu früh, und sie blieben unschlüssig stehen, setzten sich auf eine Bank. Kates Gesicht strahlte von der Kälte, rote Flecken auf den Wangen. Sie war klar und wunderschön.

Und sie sagte, vorsichtig, behutsam, als hätte sie das lange Schweigen genutzt, um darüber nachzudenken, wie sie es sagen sollte: »Letzte Nacht hatte ich einen Traum.«

In dem Traum sei sie hochschwanger gewesen und habe in dem von der Pest geplagten London des sechzehnten Jahrhunderts gelebt. Sie habe gewusst, dass sie eine entscheidende Aufgabe zu erfüllen habe. Aus diesem Grund sei sie dorthin geschickt worden. Und im Feuer (in dem Zimmer sei ein Kamin gewesen) habe sie die Apokalypse gesehen, die das Resultat ihres Scheiterns gewesen sei, die Erscheinung einer verbrannten, toten Welt.

»Verstehst du, in dem Traum war ich wichtig«, sagte Kate mit scherzhafter Schwermut. »Ich war der wichtigste Mensch auf der Welt.«

»Ich hatte früher auch solche Träume«, sagte Ben. »Sie basierten hauptsächlich auf Comicheften.«

Kate lachte kurz auf, sah aber ein wenig befremdet aus. Die Comichefte waren gerade nicht erwünscht. Sie nahm den Traum ernster, als sie vorgab. Sie sah zu dem Holzbläserquartett, das zu spielen aufgehört hatte. Die Musiker massierten ihre frierenden Hände. Sie sagte: »Tja, ich weiß, dass es außer mir niemanden interessiert.«

Dann war es an der Zeit, zu ihren Eltern hinaufzugehen; nun behielten sie ihre Hände in den Taschen. Der Aufzug war kaputt, also gingen sie durchs Treppenhaus, das trostlos und dreckig war. Die Tür der Eltern sah aus wie alle anderen Türen: klumpiger roter Anstrich, ein schmutziger Türspion, ein Werbeaufkleber vom Schlüsseldienst. Hinter der Tür waren murmelnde Stimmen zu hören, ein fremdartiges Murmeln, das Ben nervös machte. Was, wenn er ihre Eltern nicht mochte? Er war in der falschen Stimmung. Das Ganze war keine gute Idee gewesen.

Dann die Klingel, die Eltern selbst und ihre Wohnung – eine unglaublich einnehmende Wärme, wie der Duft des Mohnkuchens im Ofen, wie die persischen Teppiche auf dem Fußboden, deren Ecken offensichtlich von einem Hund abgekaut worden waren. Der fragliche Hund, ein nachdenklicher Sheltie, betrachtete Ben von seinem Platz unter einem ramponierten Kaffeetisch aus voller Zweifel, wurde ausgelacht und zum Hervorkommen überredet. (»Sei nicht albern«, sagte Kates Mutter Ágota zu dem Hund, »du bist doch ganz mutig.«) Die Hündin hieß Dogknees, eine Anspielung auf den Kyniker Diogenes – kynisch bedeutet auf Altgriechisch »hundeartig«. Kates kleiner Bruder, der gerade weggezogen war, hatte sie so getauft; er studierte im ersten Jahr an der Penn State. »Das war so unglaublich clever, als er zwölf war«, sagte Ágota, »und jetzt müssen wir ewig mit diesem furchtbaren Witz leben.« Kate hockte sich hin, um dem Hund die Ohren zu kraulen, und sah lächelnd zu Ben auf, der den Hund mochte, und die Eltern, und sie, und der eine verworrene Erleichterung empfand.

Kates Vater Salman wirkte auf extravagante Weise persisch, obwohl er einen breiten Bostoner Dialekt sprach und ein Red-Sox-Trikot trug. Er gestikulierte viel und war hinreißend präsent; Kate war die weibliche Version von ihm. Ihnen eignete derselbe kindliche Ernst, eine körperliche Ungezwungenheit, bei der es eindeutig um den Körper als solchen ging, um Sinnlichkeit. Während Salman redete und redete, sah Ágota immer wieder mit einem ironischen Lächeln zu Ben, und einmal sagte sie: »Ich hoffe, das ist nicht allzu albern.« Sie war grazil und mäuseartig, blass, mit graumeliertem Haar und winzigen Händen, die sie bewegte, als würde sie Handschuhe tragen. Sie sprach mit einem schleppenden ungarischen Akzent, der von osteuropäischer Folklore durchtränkt zu sein schien, pelagisch und weise und gütig.

Kates Eltern mochten Ben auf Anhieb. Während Kate den Tisch deckte, ließen sie ihn eines seiner Gedichte rezitieren und nannten es beachtlich, intensiv, hervorragend. Ágota fragte Ben nach seiner Doktorarbeit und schien sehr interessiert an den Schwierigkeiten der CO2-Sequestrierung in tiefen salinen Aquiferen (sein Dissertationsthema), obwohl es ganz und gar nicht interessant war; darum brauchte er ja so lange, um die Arbeit zu schreiben.

Dann schwärmte Salman überschwänglich von einer Fra-Angelico-Ausstellung im Metropolitan Museum, die so fantastisch gewesen sei, dass sie ihn zum Glauben bekehrt habe – die Gemälde seien heilig, Salman habe es gespürt, ihnen wohne die unverkennbare Natur der Wahrheit inne, der Wahrheit einer Gotteserfahrung –, bis Kate lächelnd sagte: »Aber du glaubst nicht an Gott«, und Salman antwortete, ohne aus dem Schritt zu kommen: »Selbstverständlich glaube ich nicht an Gott«, und alle lachten. Alles war gut, vielleicht besser als gut. Ben hatte das Gefühl, dass er zum ersten Mal begriff, wie es wäre, eine glückliche Familie zu haben.

In der Zwischenzeit kam der Mohnkuchen auf den Tisch. Es gab eine Pause, um den ersten Bissen zu nehmen, zu reagieren, ihm genug Raum für eine Wertschätzung zu geben. Dann sagte Kate, als würde sie eine große Ankündigung machen, als hätte sie alle allein zu diesem Zweck versammelt: »Letzte Nacht hatte ich einen Traum.«

Sie erzählte den Traum erneut und fügte einige Details hinzu – in dem Traum sei sie vom Lord Chamberlain schwanger gewesen, einem Mann namens Hunsdon. Sie sei seine Geliebte gewesen, verheiratet war sie mit einem anderen Mann, einem Hofmusikanten. Er spiele Blockflöte, aber sei dieses Instrument damals wirklich gespielt worden?

»In dem Traum beschloss ich, London mit meinen Bediensteten zu verlassen. Ich hatte so eine Ahnung, dass ich es tun muss. Es klingt wirklich doof, wenn ich es erzähle. Ich war da, um etwas Wichtiges zu tun, vielleicht sollte ich die Pest aufhalten? Aber dafür müsste man Antibiotika im großen Maßstab herstellen, also weiß ich nicht, wie man das anstellen sollte.«

»Sehr interessant«, sagte Ágota in einem Tonfall, der andeutete, dass sie das Thema wechseln wollte, und Salman ging in die Küche, um sich noch einen Kaffee zu machen. Da war eine Veränderung in der Stimmung, eine Steifheit. Kate verstummte. Sie starrte auf das Nichts vor ihren Augen, sah isoliert aus, als sei ihr jemand in die Quere gekommen.

Ágota lächelte ihr sorgenvoll zu und sagte zu Ben: »Kitty ist eine große Träumerin. Ich sage immer, sie ist wie der kleine Junge, der sich im Traum verlief. Kennst du die Geschichte?«

»Natürlich kennt er sie nicht«, sagte Kate abwesend.

»Niemand in Amerika kennt sie.«

»Ich kenne sie nicht«, sagte Ben.

»Es ist die Geschichte von einem Jungen, der im Traum eine falsche Abzweigung nimmt«, sagte Ágota. »Er kann den Weg zurück zu seinem Bett nicht finden, also reist er durch viele Länder, tötet einen Drachen und wird schließlich zu einem Prinzen, der eine Prinzessin heiratet. Ganz normale Märchengeschichten. Die Jahre vergehen, und im Traum wird er alt und stirbt.

Dann erwacht er in seinem Bett und ist wieder ein Kind. Doch sein Vater, der ein sehr armer Mann gewesen war, ist nun ein wohlhabender Geschäftsmann; seine Mutter, die vorher im Sterben gelegen hatte, ist dick und gesund. Wir verstehen also, dass es an dem liegt, was er im Traum erreicht hat. Es ist ein ungarisches Kinderbuch«, sagte Ágota. »Unser alter Freund Gabor hat es geschrieben.«

»Gabor glaubt solche Dinge wirklich«, sagte Salman, der aus der Küche zurückkam. »Er ist immerhin derjenige, der sich im Traum verliebt hat.«

»So ein Blödsinn«, sagte Ágota.

Salman stellte seinen Kaffee ab und lächelte Ben zu. »Gabor hat seine Frau für jemanden verlassen, den er im Traum getroffen hat.«

»Er hat sie nicht im Traum getroffen«, sagte Ágota. »Sie war eine seiner Studentinnen.«

»Er sah sie im Traum zum ersten Mal und verliebte sich«, sagt Salman. »Und dann, eines Tages, kam sie in seine Vorlesung.«

»Blödsinn«, sagte Ágota.

»Vielleicht ist es wahr«, sagte Kate.

Ben sagte: »Ich stimme für Blödsinn.«

Alle außer Kate lachten. Salman sagte zu Ágota: »Du glaubst, dass er lügt? Aber warum sollte er sich diese Lüge ausdenken?«

»Ich glaube, dass er ein Mann ist, der sich in eine Zwanzigjährige verliebt hat«, sagte Ágota. »Das ist doch nicht so schwer zu durchschauen.«

»Früher hat mir das Buch Angst gemacht«, sagte Kate. »Der Junge, der sich im Traum verlief. Ich dachte, mir würde dasselbe passieren.«

»Das wissen wir doch«, sagte Ágota. »Reg dich nicht auf.«

»Ich rege mich nicht auf.« Kate sah zu Ben. »Sehe ich aus, als würde ich mich aufregen?«

»Manchmal regst du dich auf«, sagte Salman in einem weicheren, versöhnlichen Ton.

Kate zuckte mit den Achseln. »Ich erzähle nur, wie ich mich gefühlt habe.«

»Gabor ist tablettenabhängig«, sagte Ágota. »Du bist nicht wie Gabor. Was Gabor passiert, wird dir bestimmt nicht passieren.«

»Und wenn es schon passiert ist?«, sagte Kate.

»Der Mann nimmt zwei Handvoll Tabletten am Tag.« Ágota streckte ihre hohlen Hände aus, um die zwei Handvoll zu zeigen.

Kate sagte: »Er könnte tablettenabhängig sein und Träume haben, die das reale Leben beeinflussen. Korrelation ist nicht gleich Kausalität.«

»Kitty, ich bitte dich«, sagte Ágota. »Das ist kein echtes Problem.«

Plötzlich duckte Kate sich unter den Tisch. Sie kroch auf allen Vieren herum. Ihre Eltern runzelten irritiert die Stirn.

Salman sagte zu Ben: »Normalerweise macht sie das nicht. Das ist nicht Teil des Familienrituals.«

»Kitty?«, sagte Ágota. »Was machst du da?«

Unter dem Tisch rief Kate: »Ich suche die Siegel, die ich und Petey gemacht haben. Ich wollte sie Ben zeigen.«

»Wovon redest du?«, sagte Ágota.

»Die Siegel!«, sagte Kate. »Ich kann sie aber nicht finden. Die Siegel, die ich und Petey in die Tischbeine geritzt haben?«

»Ihr habt in die Tischbeine geritzt?«, sagte Ágota.

»Du weißt, dass wir in die Tischbeine geritzt haben. Wir haben immer das kleine Cloisonné-Messer benutzt. Das Messer mit den Drosseln auf dem Griff.«

»Das Messer haben wir noch«, sagte Ágota. »Aber ich wüsste nicht, dass ihr damit an meinen Möbeln zugange wart.«

Kates Kopf tauchte neben Bens Knie auf, zerzaust und mit einem Lächeln. »Ich kann sie nicht finden.«

»Wie sahen sie denn aus?«, fragte Ben.

»Mein Bruder, Petey, hat ein Peace-Zeichen gemacht, und ich wollte einen Falken schnitzen, aber am Ende sah er aus wie eine Robbe. Wir haben so getan, als wären wir adlige Herren aus dem Mittelalter. Mein Siegel war der Falke und seines das Peace-Zeichen.«

»Das hat nie stattgefunden«, sagte Salman lächelnd zu Ben.

»An das Spiel kann ich mich erinnern, aber ich verstehe nicht ganz«, sagte Ágota. »Habt ihr beide wirklich in die Tischbeine geritzt?«

»Ja, haben wir«, sagte Kate. »Aber es ist weg. Da ist nichts.«

»Gott sei Dank«, sagte Ágota.

Kate flüsterte Ben zu: »Wir haben die Siegel wirklich gemacht. Das macht mich ein bisschen verrückt.«

»Das hat nie stattgefunden«, sagte Salman.

Im Treppenhaus, auf dem Weg nach draußen, sagte Ben: »Ich mag deine Eltern.«

Sie blieb auf der Stufe unter ihm stehen. »Also wirst du mich jetzt nicht verlassen?«

Er lachte und nahm sie in die Arme. Sie küssten sich. Das Treppenhaus roch nach kaltem Staub, und das Fenster war schmutzig, deshalb sah auch das Licht schmutzig aus, aber sie beide leuchteten klar wie ein Juwel in diesem Licht, das irgendwie fern und nah zugleich war. Als Kind hatte er vom Rücksitz des Autos seiner Eltern die fernen Lichter der Ortschaften gesehen, und die Lichter waren bunt und verwunschen gewesen, köstlich wie verzauberte Früchte. Er hatte sich vorgestellt, dass es magische Orte wären, die man mit dem Auto seiner Eltern niemals erreichen würde. Nur Ben könnte eines Tages dorthin gelangen, wenn er mutig genug wäre, wenn er nur fest daran glaubte.

Zwei Wochen später zogen Ben und Kate zusammen. Für eine sehr lange Zeit war alles gut zwischen ihnen. Der Herbst war wunderschön.

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