Читать книгу: «Auf ihren Spuren», страница 4
Ich machte uns einen Kräutertee und setzte mich zu ihr an den Tisch.
Mir drängten sich so viele Fragen auf, die beantwortet werden wollten. Ich wusste von Michelle nichts und ich weiß nicht, wie lange sie Mama kannte und ob sie so befreundet waren, dass Mama sie in ihre Geheimnisse eingeweiht hatte.
Aber ich befürchte, angesichts der Tatsache, dass sie denkt, die Wohnung wäre über Kredite bezahlt worden, dass sie nicht viel von meiner Mutter weiß.
„Wie lang bist du schon in Mamas Internetcafe Mitbesitzerin?“ fragte ich sie.
Michelle gab einen Löffel Zucker in den Tee und antwortete: „Hm, ich glaube, sie hatte es schon zwei Jahre, als ich dazustieß. Sie hatte Geldprobleme. Darum kaufte ich mich ein und brachte den Laden mit meinem damaligen Freund auf Vordermann.“
Ich muss sie ziemlich dümmlich angestarrt haben, denn sie erklärte: „Wir schufen mehr Plätze, stellten auch noch einige Spielkästen auf, einen Billardtisch, und Marco hat eine Schanklizenz. Damit konnten wir Getränke verkaufen. Deshalb ist er auch noch beteiligt. Es läuft immer noch alles über seine Schanklizenz und er ist auch weiterhin für alles Computertechnische zuständig. Das ist in einem Internetcafe echt wichtig.“ Sie lachte etwas gekünzelt auf und ich hatte das Gefühl, dass ihr der Exfreund eher ein Dorn im Auge ist. Aber bei mir begann etwas zu vibrieren und ich fragte sie: „Er kennt sich mit PCs und Programmen aus? Meinst du, ich kann seine Nummer haben? Ich brauche selbst mal einen fachmännischen Rat.“
Michelle nickte und begann in einer großen Handtasche zu wühlen. Als sie ihr Handy hervorgekramt hatte, holte ich einen Zettel und sie gab mir die Telefonnummer von diesem Marco. Dabei murmelte sie so etwas wie, dass sie sich wundert, dass ich ihn nicht kenne. Aber vielleicht hatte ich mich auch verhört.
Als sie bald darauf ging, erwähnte sie noch, dass sie über die Entscheidung meiner Mutter, ihr weitere Anteile zu geben, sehr froh ist. Ich nickte nur und fragte mich natürlich, wenn Michelle 50% hatte und meine Mutter auch, was der Anteil von diesem Marco ist oder wie seine Beteiligung aussieht.
In der Kiste, die Michelle mitgebracht hatte, befanden sich Fotografie von mir, und von Mama und mir zusammen. Außerdem ein Haufen Zettelwirtschaft, die ich sofort nach brauchbaren Informationen durchforstete. Es gab noch ein altes Adressbuch und Mamas alten Laptop, den sie vor dem jetzigen hatte. Ich wusste gar nicht, dass der noch existiert. Aber ihn in meinen Händen zu halten, elektrisierte mich und ich hoffte inständig, dass auf ihm noch nichts gelöscht worden war.
In meinem Zimmer hatte ich ihn sofort an den Strom angeschlossen, weil das Akku leer war und konnte mich bald mit dem Passwort Vogelmiere einloggen. Und es war noch alles da. Bilder, Emails, Dokumente, Musikdownloads. Einfach alles.
Als ich das Internetkabel angehängt hatte, fand ich sogar Mamas Internet Favoritenliste. Ich war völlig aus dem Häuschen und verbrachte bis tief in die Nacht damit, mir alles anzusehen. Aber er war so sauber, wie der Laptop einer braven Hausfrau und Mutter nur sein kann. Es gab auch keinen Tor Browser und ihre Favoritenliste barg nur Dokus, verschieden Einkaufsmöglichkeiten und Ferienhotels mit Kinderresort. Mir wurde schnell klar, dass Cecilia da noch Cecilia Jekyll war. Cecilia Hyde wurde sie offensichtlich erst später. Vielleicht mit dem neuen Laptop. Aber dann musste es einen Übergang geben. Ich beschloss, Manuel erneut um Beistand zu bitten.
Manuel ist ein Schlaufuchs, wie ich schon einmal erwähnte. Während ich in dem offensichtlichen herumgedattelt hatte, fand er schnell heraus, dass Mama einen Facebookaccount, sowie einen bei Lycos hatte, deren Nutzernamen bei den Einloggfeldern der Anbieter schon gespeichert sind. Ich brauchte nur das Passwort eingeben und das war natürlich Vogelmiere. Bei Lycos hatte sie es sich sogar sehr einfach gemacht. Deshalb war ich erst verwirrt. Da hieß sie auch Vogelmiere33. Manuel meinte, dass sie den Account wahrscheinlich eröffnet hatte, als sie dreiunddreißig war.
Ihr Profilbild war ein altes von meiner Mutter, auf dem sie noch recht jung war. Ansonsten waren wenige Daten eingetragen, die zum Teil sogar falsch waren. Aber sie hatte ihn auch noch zu Lebzeiten ihres neuen Laptops in Gebrauch, was mich etwas irritierte. Ich konnte mir Mama in einem Chat nicht vorstellen.
Facebook hatte ein paar Bilder drinnen, auf denen man meine Mutter nur erahnen konnte. Ansonsten gaben auch die Seiten nicht viel her, außer ein paar Bilder von dem Internetcafe und etwas Werbung diesbezüglich. Aber ihre Posts machten Manuel stutzig und dass sie immer wieder auf den Tor-Browser verwies, was mir von Manuel einen vielversprechenden Blick einbrachte. Aber was mich umhaute war ihre Freundschaftsliste. Sie umfasste mehr als zweihundert Leute und ihr letzter Eintrag war am 28 Juli dieses Jahres erfolgt, als Mama schon lange nicht mehr unter uns weilte. Da hat sie sich für die vielen Glückwünsche zum Geburtstag bedankt. Mama hat nicht am 28 Juli Geburtstag!
„Da ist jemand auf ihrem Account unterwegs gewesen“, sinnierte Manuel und ahnte nicht, wie sehr mich das erschütterte, weil es mir einen Moment vorgaukelte, dass Mama noch lebt.
Heute sitze ich erneut an Mamas altem Laptop und kämpfe mich durch den Lycos Chat, auf der Spur von Mama. Es quatschen mich viele verpeilte Kerle an, die mir zweideutige Angebote machen, aber auch jemand, der sich freut, dass Vogelmiere endlich mal wieder auftaucht.
Ich gehe auf das Profil von dem Kerl und sehe, dass es ein junger fünfundzwanzigjähriger Bursche ist. Er fragt im privaten Chat, ob es Vogelmiere bessergeht und ob sie die dunkle Seite bekämpfen konnte.
Was soll ich darauf antworten? Ich schreibe:
Vogelmiere33 ~Nein, ich suche immer noch nach einem Ausweg~
Schwarzer Hengst ~Ich habe einen gefunden. Du hattest recht. Im Net gibt es alles~
Vogelmiere33 ~Was genau hast du gefunden~
Schwarzer Hengst ~Meinen persönlichen Jeannie~
Ich weiß nicht, was er meint. Darum füge ich nur ein ungläubiges ~Aha~ ein, was sofort damit kommentiert wird, dass schwarzer Hengst auf eine Seite im Darknet verweist.
Ich bedanke mich und logge mich schnell aus. Vielleicht nicht gerade nett, aber ich habe Angst, dass der Typ doch noch merkt, dass ich nicht Cecilia bin.
Ich marschiere zu Manuel hinüber und gebe ihm den Link. „Schau mal, was das ist. Aber geh besser über den Tor-Browser hinein. Wer weiß, was sich da auftut.“
Als mich Manuels Blick trifft, der über Mamas Laptop hockt, werde ich unsicher. Er scheint schon einer faszinierenden Spur zu folgen.
„Mensch Alter. Du glaubst gar nicht, was es hier alles gibt!“ Er ist völlig aus dem Häuschen.
„Wo gibt?“, frage ich, weil ich nicht weiß, was er meint.
„Nah hier … im Darknet. Du kannst alles kaufen. Drogen, Knarren, Auftragsmörder.“
Ich glaube, er spinnt. Darum stelle ich mich neben ihn und starre auf eine Reihe gefesselter Frauen, alle nackt und wenig glücklich.
„Was schaust du dir da an?“, frage ich entrüstet. „Das ist Mamas Laptop!“ Ich habe das Gefühl, dass er mit dem Scheiß Mamas Laptop versaut.
„Mach dir nicht ins Hemd. Ich lote nur aus, was hier alles so zu finden ist … und wie vor allem. Das ist nicht so leicht. Es gibt kein Google.“
Er zieht mir den Zettel mit meinen Daten aus der Hand und tippt sie ein. Es dauert, bis sich endlich eine Seite öffnet. Sie sieht völlig nett und harmlos aus. Ein echt hübsches Mangamädchen lächelt einem entgegen, gekleidet wie der Flaschengeist Jeannie mit rosa Hütchen und irgendwelchem Tütü, das um das Gesicht geschlungen ist, einem sehr spärlichen rosa Oberteil, dass ansprechend gefüllt ist und einer rosa Hose, dessen Bund man nur sehen kann, weil es aus einem Flaschenhals schlüpft.
Ich starre geschockt auf das Mädchen. Das ist Mama in jünger! Sie trägt sogar Mamas Halskette mit dem runden Anhänger, die jetzt mit ihren Ringen um meinem Hals hängt.
Manuel sieht mich an, dann läuft sein Blick zu meinem T-Shirt, über dem der Anhänger mit den Ringen baumelt, weil ich mich zu ihm vorbeuge. „Guck mal. Ihr habt die gleiche Kette“, stellt er sofort fest und ich greife erschrocken nach dem Anhänger und lasse ihn in meinem T-Shirt verschwinden.
„Davon gibt es bestimmt ganz viele“, murmele ich nur und muss mich aufrichten, um Luft zu bekommen.
Manuel widmet sich schon wieder der Seite, die als Überschrift verkündet: Ich erfülle Dir jeden Wunsch. Alles, was Du gerne einmal ausleben willst, Deine tiefsten geheimen Wünsche und Vorstellungen – all das kann ich für Dich wahr werden lassen.
Darunter steht, wohl als Erklärung gedacht, warum jemand das von sich behauptet: Denn zu jedem Topf passt ein Deckel und ich finde Deinen, der Dir deinen Wunsch erfüllt, ohne dass Du das Gesetz fürchten musst.
„Häh?“, macht Manuel verständnislos und liest offenbar schon weiter.
„Werde mein Kunde und Dir steht alles offen, was du begehrst. Es gibt keine Tabus und keine Wertung deiner Person. Du kannst dir die völlige Freiheit über dein Handeln wünschen und ich erfülle es Dir, wenn ich weiß, was Dir die Erfüllung deines Wunsches Wert ist. Ich mache ihn Dir dann dementsprechend wahr.
Dann kommt ein Button: Kunde werden.
„Willst du da Kunde werden? Vielleicht beschaffen sie dir einen Ferrari oder Porsche?“, ruft Manuel aufgedreht. „Oder einen Picasso oder Van Gogh?“
„Ich glaube nicht, dass es da um Autos oder Kunst geht“, raune ich nur leise und fassungslos, weil sich gerade Mamas Geschichten mit dieser Internetseite in meinem Kopf verbinden. „Geh da wieder raus. Das ist alles Scheiße!“, rufe ich, schnappe mir die Maus, als Manuel nicht reagiert und schließe alles.
Manuel sieht mich aufgebracht an. „Ey, warte! Ich will Kunde werden. Ich will auch so eine Jeannie, die mir alle Wünsche erfüllt.“
„Die macht das nicht umsonst“, zische ich. In meinem Kopf werden Annahmen und Tatsachen immer mehr vermischt und ich greife den Laptop, reiße ihn von dem Ladegerät, ziehe Manuels Mauskabel und Internetverbindung aus der Buchse und greife den Zettel mit dem Link. Manuel soll nicht wieder auf diese Seite gehen … und ich auch nie wieder.
Er ruft mir noch fassungslos etwas hinterher, aber ich laufe schon durch das Wohnzimmer zu meinem Zimmer. Ich sehe noch Katja und Timo, die vor dem Fernseher lümmeln und sich eine Tüte Chips teilen. Offenbar sehen sie sich irgendeinen Gruselfilm an. Damit ist bestimmt wieder garantiert, dass Katja nicht allein schlafen will.
Ich stürme in mein Zimmer und schmeiße die Tür hinter mir zu. Den Laptop lasse ich mit dem Zettel auf meinen Schreibtisch knallen und laufe zum Bett, um mich in die Kissen und Decken zu wickeln und der Welt zu entfliehen. Aber es ist zwecklos. Mein Kopf hat mittlerweile kapiert, dass ich Mamas Seite im Darknet gefunden habe, mit der sie diese Wohnung kaufen konnte. Sie ist ein Jeannie, der allen irgendwelche Wünsche erfüllt.
Ich will lieber nicht darüber nachdenken, was für Wünsche. Aber mit einem Mal bekommen die schrecklichen Geschichten einen Sinn. Sind das Wünsche, die Jeannie erfüllte oder erfüllen sollte?
Ich will darüber nicht nachdenken.
„Hey, Joel? Ist alles in Ordnung?“
Ich höre Katja an mein Bett treten.
„Ja klar. Alles okay“, murmele ich ins Kissen und hoffe, sie verschwindet wieder. Sie soll nicht sehen, dass mir Tränen über die Wange laufen. Tränen des Entsetzens und des Frusts. Ich kann nicht begreifen, wie Mama das alles tun konnte. Und ich kann noch weniger begreifen, dass ich davon nichts mitbekam.
Und jetzt ist Mama tot. Der Jeannie ist gestorben und es werden keine Wünsche mehr erfüllt. Oder?
„Wenn du uns brauchst, wir sind immer für dich da.“ Katja setzt sich wohl auf meine Bettkante, weil meine Matratze etwas nachgibt und ich spüre, wie ihre Hand über meinen Rücken streicht.
Warum tut sie das und was will sie?
„Ich komme klar. Mir geht es gut. Also lass mich bitte in Ruhe“, murre ich in mein Kissen hinein. Sie soll gehen. Schnell gehen. Sonst weiß ich nicht, was ich tue.
Katjas Hand erstarrt und sie erhebt sich. Die Matratze sinkt wieder in den normalen Zustand, nur mit meinem Gewicht belastet. Als die Tür zufällt, atme ich auf. Aber da ist auch etwas in mir, dass hätte sich gerne zu Katja umgedreht und hätte sich in ihre tröstende Umarmung fallen lassen. Mir fehlt das. Mama hatte mich früher oft in den Arm genommen. Aber die letzten zwei-drei Jahre wollte ich das nicht mehr. Es war mir peinlich. Heute würde ich alles dafür geben.
Ein Wunsch an Jeannie …
Marco
Ich brauche einige Tage, in denen ich mich entweder Zuhause verkrieche oder mich außerhalb der Wohnung aufhalte, solange es geht. Aber nichts kann mich vor meinen Gedanken schützen, die mich nicht nur in meinem Zimmer, wo all diese Sachen meiner Mutter sind, überfallen, sondern auch, wann immer ich ein wenig zur Ruhe komme und nicht von Eindrücken von außerhalb erschlagen werde.
Doch allmählich wird es besser. Was bleibt einem auch anderes übrig, als die Tatsachen anzuerkennen?
Manuel hatte noch zwei-dreimal versucht, mit mir über das alles zu sprechen. Er versteht meine Zurückhaltung nicht.
Für ihn mag das Ganze cool und total interessant sein und seine Fantasie scheint schon Purzelbäume zu schlagen, bei der Vorstellung, was so ein Jeannie alles erfüllen kann. Dabei scheint ihm einfach nur das gedankliche Spiel, was man sich wünschen würde - wenn … schon völlig auszureichen.
Natürlich unterlag ich auch schon diesem Gedankenspiel. Aber wohl anders als Manuel. Ich hätte gerne meine Mutter wieder. Schon allein, um sie von dem abzubringen, was sie sich da angetan hatte. Aber zugleich sprang mich die Frage an, ob da mehr dahintersteckt. Was veranlasste sie dazu, sich auf irgendwelche Spielchen einzulassen? Gefährliche Spielchen?
In meinem Kopf fasste nur noch Fuß, was ich in diesem Heft und auf den ausgedruckten Seiten gelesen hatte, und wurde für mich zu dem, was Jennie erfüllen wollte. Wie kam man auf so etwas und wie war das zu bewerkstelligen, ohne ein Verbrechen zu begehen oder strafrechtlich verfolgt zu werden? Fand man wirklich für jede kranke Wunschvorstellung den passenden Menschen, der das gerne mit sich machen ließ?
Ich konnte mir das nicht vorstellen. Überhaupt nicht.
Aber irgendwie lässt mich das Ganze nicht mehr zur Ruhe kommen. Ich will immer noch Mamas Geheimnisse aufdecken, auch wenn sie mittlerweile eine Facette angenommen haben, die mich wirklich erschüttern und ängstigen.
Manuel wird es freuen, wenn ich erneut mit ihm auf Recherche gehe. Er brennt darauf, mehr von der Tätigkeit dieser Jeannie zu erfahren. Aber von dem, was ich jetzt vorhabe, weiß er nichts.
Ich atme tief durch und versuche meine Unruhe, und vielleicht auch Angst, unter Kontrolle zu bringen. Aber mittlerweile ist alles, was ich in Richtung „Mamas Leben“ unternehme, beunruhigend und löst leichte Panikattacken aus.
Während ich mit leicht zittriger Hand das Handy an mein Ohr halte und warte, versuche ich auszublenden, was um mich herum los ist.
Ich stehe im Stadtpark, mitten im Getümmel von Spaziergängern, Joggern, Fahrradfahrern, spielenden Kindern, schreienden Müttern und Hundebesitzern, die ihre Hunde hinter einem Stock herjagen lassen. Auf einer Parkbank hocken Jugendlichen, die sich wegen irgendetwas aufspielen und ich sehe einen Gärtner, der mit einem riesigen Gerät einen Abschnitt des Rasens mäht.
Mir ist irgendwie wohler bei dem Gedanken, das Gespräch in Mitten vieler Menschen zu führen, als würde mich das schützen. Dabei ist das nur ein Telefongespräch!
„Ja?“, höre ich eine dumpfe, dunkle Stimme unfreundlich Brummen.
„Hier ist Joel Kammlagen.“
Vielleicht weiß der Typ nicht, wer ich bin oder ich bin sogar völlig falsch verbunden, weil Michelle mir eine falsche Nummer gab.
„Joel.“ Der Typ scheint völlig perplex zu sein.
„Ich bin der Sohn von Cecilia“, erkläre ich schnell.
„Ich weiß!“, raunt es aus dem Handy. Einen Augenblick höre ich nichts mehr, dann fragt der Mann am anderen Ende der Leitung zurückhaltend: „Wie kann ich dir helfen?“
Dass er das fragt, gibt mir Hoffnung. Er blockt zumindest nicht gleich ab, auch wenn seine Stimme eher abweisend klingt. Aber was soll ich ihm sagen, was ihn fragen?
„Michelle sagte, Sie kennen sich mich PCs aus. Ich habe den von meiner Mutter und kann ihn nicht gebrauchen, weil er kennwortgeschützt ist“, stelle ich mein Anliegen so hin, als wäre ich nur ein armer, verlassener Junge, dem nur der Laptop seiner Mutter geblieben ist. „Und ich möchte gerne wissen, was da drauf ist. So als Erinnerung.“
Der Typ am anderen Ende schockt mich kurz, als er murrt: „Nichts ist da drauf.“ Doch dann besinnt er sich wohl und sagt sehr viel freundlicher: „Und du glaubst, ich kann ihn hacken?“
„Ich kenne niemanden, den ich sonst fragen kann“, lüge ich und hoffe, er springt darauf an, auch wenn ich ansonsten noch nicht weiß, was ich mir von dem Gespräch überhaupt erhoffe. Schließlich ist der Laptop meiner Mutter schon längst gehackt.
Einen Augenblick ist die Leitung wie tot. Dann höre ich ein Seufzen und die brummige Stimme wieder, die antwortet: „Okay. Ich schau mal, was ich für dich tun kann. Wo wollen wir uns treffen? Oder soll ich zu dir in die Wohnung kommen?“
Ich erstarre. „In welche Wohnung?“, frage ich dümmlich, weil ich nicht weiß, ob er die Mietwohnung meint oder tatsächlich unsere WG.
„Die in der Stadt.“
Ich schlucke. Der Typ kennt also Mamas Zufluchtsort. Jetzt will ich ihn erst recht kennenlernen. Er hat sich gerade auf meiner Liste nach ganz oben gespielt.
Schnell überlegend, wende ich dann aber doch ein: „Ich will keine Umstände machen. Ich kann auch zu Ihnen kommen, wenn Sie mir ihre Adresse geben.“
Ich höre ein seltsames, leises Lachen. Dann höre ich ihn sagen: „Soll mir recht sein. Ich habe deine Nummer. Also, wenn ich in der Stadt bin, melde ich mich und schreibe dir, wo du mich findest.“
„Okay“, raune ich.
„Bis dann!“
„Bis dann!“, beeile ich mich zu antworten und höre nur noch das Besetztzeichen.
Mein Herz schlägt mir bis zum Hals und meine Gedanken überschlagen sich. Sofort listet sich alles auf, was ich falsch machte. Ich muss die Nummer unterdrücken, wenn ich irgendwelche Leute anrufe. Aber dass ich zu ihm fahre ist gut. So erfahre ich, wo er wohnt.
Blödsinn! Dummbeutel! Du erfährst nur, wo er absteigt, wenn er in der Stadt ist.
Aber immerhin weiß ich jetzt, dass er nicht hier wohnt.
Doch der Umstand, dass ich zu diesem Typ fahre, von dem ich nichts weiß, lässt meinen Magen dumpf poltern. Wenn das nun irgend so ein durchgeknalltes Arschloch von denen ist, mit denen meine Mutter zu tun hatte?
Mir wird klar, dass er auf alle Fäll einer von denen ist, mit denen meine Mutter zu tun hatte. Es muss sich bloß noch herausstellen, ob er ein durchgeknalltes Arschloch ist.
Und ich fahre zu ihm!
Ich beruhige mich damit, dass er sich vielleicht auch nicht mehr meldet. Aber das wäre auch schade, weil er bestimmt etwas weiß, was mich interessiert. Und er kennt diese Wohnung!
In meinem Kopf spinnen sich schon Geschichten zurecht. Ich sehe meine Mutter lachend in mein Zimmer stolpern, während ein ekliger Typ sie langsam aus den heißen Dessous schält …
Poor, da kommt mir sogar mein Frühstück wieder hoch.
Früher haben mich solche Gedanken nicht so aufgeregt. Da hatte ich sie auch nicht. Sicher war mir klar, dass meine Mutter mal mit Männern ausging. Dafür gab es ja schließlich die Kondome in ihrer Handtasche. Aber das produzierte kaum Gedankengut, weil sie auch nie jemanden mit nach Hause brachte. Darum musste ich mich nie wirklich mit dem Thema auseinandersetzen. Aber nun ist das anders. Nun ist das alles beherrschend in meinem Kopf und jedes bisschen neue Nahrung erschüttert meine Welt ein bisschen mehr. Schrecklich und seltsam aufreibend, weil es dabei nicht um das normale Mann und Frau Zusammentreffen geht, sondern in meinem Kopf sich sofort die Geschichten und Mamas Wäscheauswahl mit hineindrängen.
Ich gehe durch den Park nach Hause und überlege, ob dieser Marco mir vielleicht etwas sagen kann, dass mich den Tresor knacken lässt. Vielleicht kennt er sogar die Kombination?
Ich habe begonnen, nun mit System vorzugehen und Nummern durchzuprobieren. Aber bei den vielen Möglichkeiten kann das ewig dauern.
Als ich in die Wohnung komme, ist niemand da. Ich gehe direkt in mein Zimmer und werfe meine Schultasche an der Tür auf den Boden. Die Schuhe trete ich auch aus und stehe dann einfach nur da, aus dem Fenster auf die Stadt starrend. Irgendwie drängt es mich, mehr über diesen Marco herauszufinden. Aber wie, wenn ich nichts von ihm weiß. Nicht mal den Nachnamen.
Mir fällt Mamas altes Adressbuch ein, das Michelle mitgebracht hatte. Ich gehe an den Schrank und schließe ihn auf. Im Inneren finde ich die Kiste, die Michelle vorbeigebracht hatte und nehme sie mit zum Schreibtisch. Vielleicht steht auch der ganze Name von dem Typ auf einem der vielen Zettel?
Es scheint fast so, als hätte Michelle eine Pinnwand geplündert.
Ob sie wohl froh ist, das ganze Reich jetzt für sich zu haben, ohne dass ihr jemand hineinredet? Naja, außer diesem Marco vielleicht. Sie scheint ihn nicht sonderlich zu mögen. Obwohl … es muss mal anders gewesen sein. Schließlich ist er ihr Exfreund.
Ich bin wirklich gespannt auf den Typ.
Auf den Zetteln finde ich erneut nichts, womit ich etwas anfangen kann. Aber alle mit irgendwelchen Nummern lege ich beiseite, um sie am Tresor auszuprobieren. Das war mir so geschossen, als ich sie durchsah.
Und Mamas Adressbuch scheint noch aus grauen Vorzeiten zu stammen. Oma und Opas Nummer steht da noch drin, obwohl die schon seit Jahren tot sind. Außerdem meine aller erste Handynummer. Also alles alter Kaffee. Und einen Marco gibt es gar nicht. Auch keine Michelle.
Ich werfe alles in die Kiste zurück und nehme einen der Kugelschreiber in die Hand. Die hatte Mama bestimmt schon zum Schreiben benutzt.
„Ich habe Kuchen!“
Ich schrecke so heftig zusammen, dass mir fast die Kiste herunterfällt.
Katja grinst mich an und hält ein unförmiges Paket in der Hand. „Ist bestimmt noch lecker.“
Noch lecker? Hat sie die aus irgendeiner Mülltonne geholt?
Aber ihrem Lächeln kann ich natürlich nicht wiederstehen … und auch nicht dem Gefühl, etwas gegen den rumorenden Hunger in meinem Bauch tun zu können. Darum stelle ich die Kiste in den Schrank zurück und folge ihr.
Während sie den Tisch deckt, fragt sie: „Was hast du da eigentlich Wichtiges in dem Schrank, dass er immer abgeschlossen ist.“
Ich starre sie fassungslos an. „Warst du in meinem Zimmer und hast herumspioniert?“
„Ach nein. Ich habe nur unsere Haarbürste gesucht.“
Unsere Haarbürste? Das ist meine Haarbürste, die ich von Mama geschenkt bekam, weil ich nur damit meine vollen, welligen Haare etwas gebändigt bekomme. Und die ist bestimmt nicht in meinem Schrank zu finden, sondern liegt in meinem Regalteil im Badezimmer.
Ich will Katja gerade wütend zusammenstauchen, als sie mit der Hand über meine Wange streicht. „Ich würde nie etwas tun, was dich verärgert.“ Ihr Augenaufschlag dazu ist mittlerweile legendär und das nimmt mir die Möglichkeit, sie richtig zusammenzufalten. Vielleicht, wenn Timo und Manuel da wären, dann würde ich jetzt ausrasten. Aber mit Katja allein … da fehlt mir die Motivation, um den grimmigen und sie verachtenden WG Mitbewohner zu mimen, den ich da gerne raushängen lasse.
Katja geht in die Küche und holt für uns Milch. Der Saft ist alle und der Tee auch. Kaffee gibt es auch schon länger nicht mehr. Ich war einfach in der letzten Zeit zu aufgedreht und ruhelos, um ans Einkaufen zu denken. Und scheinbar tut das auch kein anderer hier, oder eine andere, obwohl jeder dafür zu sorgen hat, dass wir versorgt sind.
Katja schüttet uns die Gläser voll Milch, was heißt, dass es nun auch keine Milch mehr gibt. Dabei lächelt sie versonnen. Dann setzt sie sich endlich und reißt das Papier auf, das den Kuchen umspannt. „Oh, schön. Plundergebäck mit Pudding und Pfirsichen“, sagt sie, als wäre sie darüber überrascht. „Ich hoffe, du magst Pfirsiche. Die sind so schön süß und saftig“, säuselt sie den letzten Satz und beugt sich zu mir rüber, was mir ihre Oberweite näherbringt, die sich aus ihrem tiefgeschnittenen T-Shirt drängt.
Ich lege meinen Zeigefinger an ihre Stirn und drücke sie zurück auf ihren Platz.
Grinsend zieht Katja ihren Arm unter ihren Brüsten weg, was alles wieder in Normalposition bringt und zieht den Pappteller mit dem Kuchen zu sicher heran.
Ich kann nicht umhin mir diesen Wechsel von super wow Brüsten zu immer noch wow Brüsten anzusehen. Es fällt auch schwer, den Blick von diesem Dekolleté zu nehmen, als mir ein Teller mit einem der Kuchenteile vor die Nase geschoben wird.
„Ich weiß gar nicht, wie man sowas unbeachtet in einem Fahrradkorb liegenlassen kann?“, fragt sich Katja gerade, als ich herzhaft in das Puddingteil beiße. Ich verschlucke mich fast.
„Hast du die geklaut?“, rufe ich entrüstet und mit vollem Mund.
„Hat dir deine Mutter nicht beigebracht, dass man mit vollem Mund nicht spricht!“, murrt Katja, weil ihr wohl klar wird, dass ich ihren Ausspruch richtig interpretiere.
Ich funkele sie wütend an und sie mich. „Lass meine Mama da raus!“, zische ich.
„Und du mach mich nicht immer so blöde an, wenn ich schon dafür sorge, dass es etwas Essbares im Haus gibt.“
„Wie wäre es mal mit normalem Einkaufen?“, fauche ich zurück und springe auf, dass es den Stuhl kreischend verschiebt.
„Dann gib mir Geld!“, zischt Katja entrüstet zurück und ihre schönen, braunen Augen bekommen einen Raubkatzenblick.
Ich starre sie fassungslos an. Jetzt will sie auch noch Geld von mir! Ihr reicht nicht, dass ich ihren Wohnanteil zahle, ganz zu schweigen von ihrem Unkostenbeitrag. Jetzt will sie tatsächlich auch noch Bares von mir!
Ich greife mir den Teller mit dem Kuchen, weil er einfach zu lecker schmeckt und ich Hunger habe, und gehe in mein Zimmer. Die Tür laut zuknallend, will ich einfach nur meiner eigenen Fassungslosigkeit und Katjas Wut entfliehen. Letzteres verstört mich etwas. Ich will eigentlich nicht, dass sie wütend auf mich ist. Aber sie muss doch einsehen, dass ich im Recht bin.
Aber ich beschließe, wenn ich mich etwas beruhigt habe und der Kuchen in meinem hungrigen Magen für Ruhe sorgt, wirklich loszugehen, um etwas einzukaufen.
Als ich keine zehn Minuten später aus meinem Zimmer trete, hockt Katja immer noch am Tisch. Sie sieht auf und mich direkt an. Dabei wischt sie sich schnell die Wangen trocken.
Mich trifft das, wie der Tritt eines Pferdes. Weint sie etwa?
„Ich will nicht, dass du immer wütend auf mich bist“, höre ich sie in dem Moment leise murmeln. „Ich versuche doch alles richtig zu machen.“
Ihre Worte machen mich erneut fassungslos und sofort regt sich etwas in mir und will ihr sagen, dass alles in Ordnung ist und sie nicht weinen muss … und ich gar nicht mehr wütend bin. Irgendwie will ich ihr diese Traurigkeit aus dem Gesicht nehmen. Ich will, dass sie glücklich ist und lächelt.
Aber ich murmele nur unbeholfen: „Ich gehe eben etwas einkaufen.“
Erneut putzt Katja sich die Tränen von der Wange und erwidert mit einem leichten Anflug eines Leuchtens in den Augen: „Das ist gut. Es tut mir wirklich leid, dass ich so wenig beitragen kann.“
Timo und Manuel schätzen ihren Beitrag bestimmt nicht als gering ein.
Ich winke ab.
„Aber ich könnte tragen helfen“, ruft Katja mit neuer Kraft in der Stimme und ich bin einen Augenblick verdutzt. Was soll das heißen? Will sie etwa mitgehen?
Etwas in meinem Inneren beginnt einen Heizstrahler anzuwerfen und dessen Wärme breitet sich schnell überall aus. Das verunsichert mich.
„Bitte“, säuselt Katja und schiebt sich von ihrem Stuhl, mich mit einem flehenden Blick ansehend, der auch bei mir schnell Einiges zu erflehen droht.
Schnell laufe ich an ihr vorbei zur Tür und brumme nur: „Wenn du unbedingt willst!“ Damit sprinte ich aus der Tür und zum Fahrstuhl.
Ich höre Katja die Tür zuwerfen und dann schlüpft sie hinter mir in den Fahrstuhl. Das macht mir klar, dass sie wirklich mit mir zusammen einkaufen geht.
Ich will es nicht. Aber mich überkommt ein seltsames Hochgefühl, dass ich aber auf keinen Fall zeigen will. Als wir aus dem Fahrstuhl aussteigen, bin ich froh, der Enge zu entkommen und marschiere durch das Portal zum Ausgang.
Da ich kein Geld habe, muss ich erst zum Automaten. Der ist nur drei Häuser entfernt. Da ist auch meine Bank. Die steuere ich an, während ich Katja möglichst versuche zu ignorieren und meine Karte zücke. Ich checke erst meinen Kontostand.
Offensichtlich haben Timo und Manuel ihren monatlichen Obolus gezahlt. Jeder hat für sein Zimmer eigentlich 300 Euro einzuzahlen. Durch Katjas Einzug wurden daraus 225 Euro und jeder muss für ca. 100 Euro einmal im Monat einkaufen.
Ich ziehe zweihundert Euro. Ich kann mir das leisten. Ich habe zwar nicht das Geld meiner Mutter auf dem Konto, weil das Onkel Andreas bis zu meinem achtzehnten Geburtstag verwaltet, aber ich bekomme das Geld der anderen und 300 Euro von Onkel Andreas von meinem Geld. Dafür gehen unsere Unkosten davon ab und ich muss mich selbst finanzieren. Bisher klappte das einigermaßen. Es würde besser klappen, wenn Katja ihren Obolus beitragen würde. Aber natürlich sage ich nichts, obwohl sie hinter mir steht und von einem Fuß auf den anderen trippelt. Ich höre das nervöse Gezappel hinter mir und ziehe das Geld aus dem Schlitz und schiebe es in meine Geldbörse.
„Okay. Gehen wir“, sage ich und klinge freundlich, dabei wollte ich sie doch eigentlich ignorieren.
„Ja, gehen wir“, sagt sie und hakt sich lächelnd bei mir ein, als wären wir ein Paar … oder zumindest befreundet.