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Verbessert

Unser Omache hegte mit ihrem Ehegatten erst im fortgeschrittenen Alter den Wunsch nach einem Kind. Zuerst, so erzählte sie mir, musste die Karriere und das Geld passen, bis überhaupt ein Balg auf die Welt gesetzt werden kann. Dass sie nur wegen des Geldes extra in eine Bankiersfamilie hineingeheiratet hat, dies wollte Omache sich nie nachsagen lassen, weshalb sie sich schon früh dafür entschied, mit in die Geschäfte einzusteigen. Stets in edlem Business Outfit und diszipliniert sah man die Mutter meines Mannes unter der Woche. Besuchte man allerdings die Familie Stein an einem Freitag, dann durfte man Omache von einer ganz anderen Seite kennenlernen. Damals war der Freitag so etwas, wie heute ihr Mittwoch ist.

Nur an diesem Tag zog sie die Zigarettenpackungen aus dem Regal und betrank sich mal richtig anständig. Ich liebte es, sie an ihrem besonderen Tag zu besuchen. Keine Regeln und so manchen Absturz durfte ich hautnah miterleben. Genieren? Dieses Wort kennt Omache nicht und schon gar nicht an diesem Tag. Meine Güte, haben wir gelacht und geredet. So stellte ich mir immer eine Mutter vor, eine Mutter, mit der man auch mal Pferde stehlen kann und nicht nur schlachten.

Im Gegensatz zu meiner Mutter, hörte Omache auch mal zu. Ach Gott, sie schmetterte mir ja geradezu beide Ohren hin, nur damit ich mir den Schmerz und meine Sorgen von der Seele sprechen konnte. Ich erinnere mich heute noch an ihre Ratschläge, einer davon, den verwende ich heute noch insgeheim. Er lautet wie folgt:

›Guddie, merk dir jedes Gesicht, denn mon sieht sich imma zweimal im Lebe und domit man es ach erkennt, muss mon sich die Gesichter gonz genau angugge.‹

Viel trauriger finde ich ihren Lebenswandel, nachdem mein Mann, also ihr Kind, verstorben war. Sein Tod riss nicht nur meine Gefühlswelt auseinander, auch die seiner Eltern. Danach war nichts mehr, danach war keiner mehr, wie er mal war.

Sein Vater suchte Trost bei seiner Sekretärin und Omache suchte eine Psychotherapeutin auf. Sie schluckte plötzlich Einschlaftabletten, um wenigstens Nachts abschalten zu können. Eines Tages stürzte sie die Treppen hinunter. Von da an war sie zwar von der Hüfte abwärts gelähmt, aber von der Psyche her wieder ganz die Alte. Ob es mit Absicht war oder ob es nur ein Unfall gewesen ist – egal – Omache öffnete danach wieder ihre Augen für das Leben. Ihre Lage verbesserte sich trotz allem.

Ich versuchte mich nach dieser Nachricht von meinen eigenen trüben Gedanken zu befreien, um wenigstens dem Teil Hilfe zu leisten, der meinem Mann noch näher war, als ich oder meine Kinder es je sein könnten. Wir zogen uns gegenseitig wieder hoch und ließen eine Woche lang, jeden Tag Freitag sein. Wir philosophierten über das Dasein und dachten an unseren Verlust. Unser privater Leichenschmaus war köstlich. Bis der Tag kam, an dem sie wieder bereit war, nach vorne zu schauen. Omache leckte ihren Ehegatten nicht mehr am Hintern, wünschte ihm und seiner geliebten Sekretärin alles Gute mit all ihrem Geld und entschied sich schlussendlich für das Pflegeheim. Alleine sein, das wollte sie absolut nicht.

Sie schwärmt heute noch, dass sie sich bislang nie lebendiger gefühlt habe, als in diesem Heim. Sie hätte sich noch nie freier gefühlt und so umsorgt. Erst vor Kurzem meinte sie, sie wäre jetzt erst richtig in ihrem Leben angekommen. Zwar verlor sie auf diesem Weg einen Teil von sich, aber trotzdem kann sie nun jeden Tag so sein, wie sie es früher immer nur an einem Freitag war.

Die Abendsonne strahlt durch dicke, dunkle Wolken hindurch, während diese wiederum leichten Nieselregen auf die matschige Erde schicken. Pfützen, so weit das Auge reicht. Blätter, die von Ästen herab ihren Halt auf dem Boden finden, um anschließend vom Wind die Straßen hinuntergeweht zu werden und im dichten Nebel verschwinden. Mit dem Schulrucksack versehen findet sich Clara auf einem leeren Spielplatz wieder. Umgeben von gleichaltrigen Schulkameraden, haben sie gemeinsam Schutz in einem Kletterhaus für Kleinkinder gefunden.

In Gedanken versunken beobachtet die 13-Jährige die Regentropfen, wie sie allmählich im Sand versickern. Bis sie von einem Jungen, namens Tom, unsanft aus ihrer Starre herausgerissen wird.

»Clara, du hast gesagt, zu Hause wartet keiner auf dich und da dich eh niemand abholt, wird es auch keiner bemerken. Also los, wir verraten es auch nicht. Nimm sie, es wird dir gefallen«, versucht er sie mit Engelszungen zu überreden.

Svetlana, Claras Schulkameradin, zuckt währenddessen grinsend mit den Schultern und zieht dabei, wie eine Große, genüsslich an einer Zigarette.

»Du wirst nicht gleich an Lungenkrebs sterben, Schatzi. Und glotze nicht dauernd auf dein Handy, das macht depressiv.«

»Ja, ist ja gut«, entgegnet Clara verlegen, blinzelt dabei doch wieder verstohlen auf ihr Display, das bereits ein paar Anrufe in Abwesenheit anzeigt.

»Dann lass mich mal ziehen«, fordert Clara den Glimmstängel.

»Du musst dran ziehen, dann erschrocken tief einatmen und anschließend sagen, Achtung, die Mutter kommt.«

»Really? Ich weiß, wie das geht, Tom. Ich brauche dich und deine Mutterratschläge nicht.«

»Gut, wie du willst.«

Und zack, hat Clara wohl das erste Mal eine qualmende Zigarette zwischen den Fingern. Spürt dabei die Hitze an den Fingernägeln, die diese glühende Spitze ausstrahlt. Leicht nervös, schaut Clara zu den Jungs und ihrer Freundin, die sich allerdings lachend unterhalten und lieber das geklaute Bier herumreichen, als sie zu beobachten.

Der Klang des Regens im Hintergrund, vereint mit dem Beben der Stimmbänder ihrer neuen Freunde und die Akzeptanz zu diesem verbotenen Verhalten bringt Clara doch dazu, die Lulle zwischen die Lippen zu stecken. Der Gestank des Sargnagels weht ihr direkt in die Nase. Dieser neue und einzigartige Geruch wird sie wohl für immer an die erste Zigarette erinnern.

Erwartungsvoll lächelnd zieht Clara das erste Mal den Rauch tief in die Lunge, um anschließend völlig lässig den Qualm gegen Svetlana zu pusten. Unterdrückt dabei unübersehbar den heftigen Hustenreiz, um sich bei den Anderen nicht zu blamieren.

»Na Sweetie, da fühlt man sich doch gleich irgendwie viel cooler, was? Dabei fällt mir ein, wolltest nicht heute dein Online-Referat in die Schulhomepage setzen? Abgabetermin, der ist doch morgen?«

»Ähm ja, haben aber morgen erst zur dritten. Also mach ich es morgen früh«, erklärt Clara, die sich nicht mehr von dieser Welt ausgegrenzt fühlt. Die sich plötzlich wieder von Menschen umgeben fühlt, die sich für sie zu interessieren scheinen und Zeit mit ihr verbringen wollen.

»Wir sind öfters hier Clara, wenn du willst, darfst ruhig mit uns abhängen«, bietet Tom betulich an, weshalb Clara aus vollem Herzen strahlt und wieder genüsslich an der Zigarette zieht.

Ein paar Stunden später erlischt allerdings Claras neugewonnene Liebe zum Ausprobieren, denn das Überziehen der Sperrstunde muss sie beim Betreten des Lofts vor ihrem Vater rechtfertigen.

»Wo warst du, junges Fräulein?«, will Papa Brandon nämlich wissen, sieht dabei seine durchnässte Tochter von der Couch aus an, die gerade an ihm vorbeizieht.

»Nur ein wenig länger weg. Mach dir nicht gleich in die Hosen«, antwortet sie stirnrunzelnd.

»Clara Schatz, meine Arbeitskollegen haben selbst auf dem Schulhof nach dir gesucht. Sag mir bitte, wo du warst?«

»Ja, das würde ich dir auf die Nase binden. Interessiert doch sonst auch keinen, ob ich heil in die Schule komme. Gute Nacht, allesamt«, verabschiedet sich Clara, blickt dabei auch zornig zu ihrer Stiefmutter Veronika, die wieder mal teilnahmslos an ihrem Tresen weilt und in Zeitschriften herumblättert.

Mit aller Kraft schmettert Clara die Tür in den Rahmen, um diese daraufhin abzuschließen.

»Oh, seit wann verriegeln wir hier die Türen?«, fragt Brandon plötzlich misstrauisch und verängstigt zugleich.

»Du meinst wohl eher, seit wann schmettern wir hier die Türen ins Schloss, mein Lieber«, verbessert Veronika arrogant.

Sprachlos und völlig überfordert presst er sich in die Rückenlehne der Couch, um ratlos mit großen Augen in die Glotze zu starren und somit jeder weiteren Diskussion aus dem Weg zu gehen.

Gleichzeitig ist Clara, geschützt im eigenen Reich, zu erblicken, wie sie es sich bei geöffnetem Fenster auf ihrem Bett gemütlich gemacht hat. Der Wind weht ihr dabei sachte ins Gesicht, während die ruhige Nacht bereits auf die müden Menschen lauert, um sie in die dunkle Decke des Schlafes einzuhüllen. Mit einem Tagebuch auf dem Schoß versehen, füllt sie die leeren Seiten mit ihren intimsten Gedanken. Dabei ist eine gewisse Abgeklärtheit zu erkennen, bei ihrer Rebellion gegen die Familie und ihrer Zuneigung für das Neue und Unerwartete. Die Wahrheit kommt so, Buchstabe für Buchstabe, in ihrem privaten Buch ans Licht.

›Heute das erste Mal geraucht. Man ey, war das aufregend und cool. Svetlana macht das schon länger, sie steht als in der Pause in der verbotenen Raucherecke, ich habe mich das nie getraut. Wenn man da einmal erwischt wird, ob mit oder ohne Zigarette, gab es gleich einen Eintrag ins Klassenbuch. Seit heute aber wird es mir egal sein. Mich interessiert diese Veronika und ihre Zwillinge nicht mehr. Denn ab jetzt zählt nur noch Svetlana, meine Mama und mein Papa. Die andern dürfen mir gestohlen bleiben. Wenn ich dieses Miststück nur schon sehe, wie sie an dem Tresen sitzt, an dem meine Mama gutes Essen gekocht hatte, ey, ich könnte brechen. Ich könnte in ihr Gesicht reihern und sie danach auslachen. Ich finde sie scheiße. Ich finde sie einfach zum Kotzen! Wieso behandelt sie mich so böse und ihre Kinder so lieb? Fabian und Median scheinen immer so perfekt. Sie gehorchen und tun, was ihre Mutter ihnen sagt. Was ich eigentlich cool finde. Really! Aber mich glotzt sie immer so verhasst an. Dabei wünschte ich mir nur, dass sie mich auch behandelt, als wäre ich ihr Kind. Ich dachte, Veronika und ich könnten gute Freundinnen werden. Ich glaubte am Anfang, sie wäre so cool, wie sie aussieht. Ich vermute, dass ich mich allerdings darin geirrt habe. Ich geh nun schlafen und lass mich vom Plätschern des Regens in den Schlaf wiegen.‹

Ab diesem Moment verbringt jedes Mitglied dieser Stieffamilie die letzten Abendstunden alleine im Loft. Denn als Clara noch krampfhaft versucht einzuschlafen und sich wünscht, sie könne im Traum aus ihrem Fenster in die Freiheit schweben, haben Fabian und Median bereits das Land ihrer Träume entdeckt.

Und während Brandon vom Flimmern des Fernsehers die Augen zufielen, denkt Veronika erst gar nicht daran, ihren Lebensgefährten zu wecken und von der Couch zu holen. Sie kuschelt sich lieber gemütlich auf ihrer Seite des Bettes ein, um sich an Tage zu erinnern, an denen sie niemals alleine ins Bett gegangen wäre. Bis sie einschläft und die Nacht vergeht.

Am nächsten Morgen erwacht Clara gemeinsam mit der Morgensonne, die sie hellstrahlend durch ihr geöffnetes Fenster wach küsst. Der Blick auf ihre Uhr kommt gerade noch rechtzeitig, denn nach dem Umziehen ist es schon an der Zeit, sich an den Rechner zu setzen, um das Online-Referat zu erstellen.

Und während die Zwillinge bereits in der Schule abgesetzt wurden und Brandon schon lange beim Dienst ist, nutzt Veronika die Gunst der Stunde und wischt einmal quer durch das Loft, um anschließend seelenruhig Telefonate auf dem Sofa zu führen. Dabei ertönt nicht zu überhörende Musik unter Claras Kinderzimmertür hindurch, welche Veronika versucht, bei ihrem Telefonat mit ihrer Mutter, zu ignorieren.

»Hallo Mutter, meine Liebe. Ich weiß nicht, ob es morgen oder die Tage passiert, die Ärzte melden sich kurzfristig. Ich habe gestern Morgen den Brief erst erhalten. Auf jeden Fall, was ich fragen möchte, könnten du und Papa in dieser Zeit auf Fabian und Median aufpassen? Brandon ist eh überfordert mit seiner Tochter, ich bin nicht scharf darauf, dass er auch noch auf meine Zwillinge aufpasst, verstehst du?«

Zeitgleich arbeitet sich Clara durch ihr Online-Referat, lässt dabei die Tasten glühen und sich von den ohrenbetäubenden Klängen inspirieren. In Gedanken trällert sie sogar, während sie schreibt, im Takt zur Musik mit und freut sich gleichzeitig über jeden Absatz, den sie mit ›Enter‹ hervorzaubert.

Die eine wird inspiriert, die andere fühlt sich derart gestört, dass sie das Gespräch mit ihrer Mutter pausiert, um lautstark von der Couch aus »Clara, mach die Musik leiser!« zu rufen.

Wütend mit dem Kopf schüttelnd fühlt sich die Stiefmutter extremst provoziert, sodass sie sich vorstellt, wie Clara zur Musik mitsingt und ihr den Stinkefinger zeigend, vor dem Spiegel herumtanzt. Und immer wieder die Lautstärke, mit einem fiesen Grinsen im Gesicht erhöht, um ihre Autorität zu untergraben.

Dieser Gedanke lässt Veronika nicht los, woraufhin sie sich, vor Zorn bebend, erhebt und über den trockenen Boden zum Kämmerchen eilt.

»Der dreh ich die Sicherung raus.«

Das dumpfe Licht über sich angemacht, öffnet Veronika den Stromkasten, um daraufhin die Sicherung von Claras Zimmer, wie vorgehabt, herauszudrehen.

Und plötzlich ist Ruhe.

Geschockt sitzt Clara vor einem schwarzen Bildschirm, inmitten einer gespenstischen Stille, die sich langsam auch in ihr ausbreitet. Sie zittert. Drückt dabei mehrmals den Startknopf ihres Rechners. Allerdings ohne Erfolg. Ihr Gedankenfluss ist lang, lang und anschaulich zornig.

»Das kann nicht sein«, wiederholt sie mehrmals ungläubig, während sie auch ihren Lichtschalter betätigt und auf ihren Wecker blinzelt, der ebenfalls keine Uhrzeit mehr anzeigt.

Ihr Herz rast. Mit zitternden Händen schließt Clara ihre Tür auf und schaut sich im Loft um, bemerkt dabei aber schnell, dass dort der Stromfluss noch intakt ist.

»Nein, nein, nein, nein, nein…«, wispert sie leise vor sich hin, eilt dabei zum Kämmerchen und entdeckt die herausgedrehte Sicherung im Stromkasten.

»Really?!«, schreit Clara den Tränen nah.

»Ein bisschen mehr Loyalität deiner Familie gegenüber und du hast wieder Strom, meine Liebe«, erreicht Veronikas gehässige Stimme, über die Milchglaswände des Bades, Claras Ohren, die wiederum in ihr Zimmer eilt, zuschließt und sich heulend in ihr Kissen vergräbt.

Sekundenlang ertränkt sie ihren Zorn, bis sie ihr Tagebuch unter der Matratze herauszieht, um dann mehrmals auf eine leere Seite ›Ich hasse sie! Ich hasse sie! Ich hasse sie!‹ dick und fett niederzuschreiben.

»Argh! Es ist doch alles scheiße!«, wischt Clara die Tränen vom Gesicht und lässt wutentbrannt das Tagebuch offen auf ihrem Bett liegen.

»Die können mich alle mal. Ich habe keine Lust mehr!«

Völlig am Ende, schmeißt sich der Teenager eine Jacke um die Schultern, zieht die Schuhe an und verschwindet aus dem Loft. Ohne Schulrucksack, ohne Erklärung.

Veronika tritt, nachdem der Aufzug hinuntergefahren ist, hübsch hergemacht aus dem Bad. Sie schaut dabei neugierig auf Claras Zimmertür.

»Was hat die kleine Rotznase darin versteckt? Wieso schließt sie mittlerweile ab?«

Mit großen Schritten läuft Veronika an die Tür, um sich dann nochmals zu vergewissern, ob sie denn auch im Moment alleine im Loft wäre.

»Clara?«

Doch keiner gibt Antwort, weshalb sie die Türklinke herunterdrückt und in das Reich ihrer Stieftochter hineintritt. Mit einem mulmigen Gefühl schaut sich Veronika in diesem fremden Zimmer um, starrt sogar für einen kurzen Augenblick in den Spiegel, vor dem sie sich Clara tanzend vorgestellt hat. Natürlich bleibt ihrem Adlerauge das Tagebuch nicht verborgen, das offen auf dem ungemachten Bett herumliegt. Mit boshaft erhobenen Augenbrauen begeht sie wissentlich einen Tabubruch, denn sie wendet sich diesen offensichtlich geheimen Gedanken zu und liest.

›Ich hasse sie! Ich hasse sie! Ich hasse sie!‹

Mit weit aufgerissenen Augen liest Veronika mehrmals diese Sätze, um dann ein wenig an den Anfang und an das Ende zu blättern. Zeilen, geschrieben aus den verschiedensten Emotionen heraus, stechen hervor. Emotionen wie Freude, Kummer und Zorn.

Veronika schafft sich somit heimtückisch einen Einblick in die private Gefühlswelt eines pubertierenden Mädchens. Sie bekommt dabei intime Empfindungen mit, die Clara eigentlich nur sich und ihrem Tagebuch anvertraut hat.

›Mama und Papa, das ewig streitende Liebespaar. Manchmal frag ich mich, warum sie sich nicht einfach scheiden lassen?‹

›Nun ist es soweit, ich muss mit Mama in das olle Dorf ziehen. Papa hätte niemand, der auf mich aufpassen kann, wenn er auf Arbeit ist. Ich könnte kotzen.‹

›Endlich gibt es eine Lösung. Außerdem werde ich große Schwester. Ich freue mich ja so.‹

›Irgendwie scheint Papa trotzdem nicht so glücklich zu sein. Ob Veronika ihm guttut?‹

›Wenn ich dieses Miststück nur schon sehe, wie sie an dem Tresen sitzt, an dem meine Mama gutes Essen gekocht hatte, ey, ich könnte brechen. Ich könnte in ihr Gesicht reihern.‹

›Ich hasse sie! Ich hasse sie! Ich hasse sie!‹

Mit eisernem Blick schlägt Veronika das Tagebuch zu und donnert es auf Claras Bett. Ohne sich auch nur den kleinsten Gedanken über diesen Vertrauensbruch und den möglichen Folgen zu machen, verschwindet sie mit hocherhobenem Kopf aus dem Zimmer, in dem sie wohl niemals erwünscht gewesen war.

Am späten Vormittag tippt Clara in der versteckten Raucherecke des Schulgeländes in ihrem Handy. Sie sitzt dabei auf einem Stein, umgeben von älteren Mitschülern, die sich allerdings weniger für die Kleinen der Schule interessieren.

»Clara Sweetie. Hey, was machst du?«, ertönt es aus Svetlanas Munde, die schockiert ihre Freundin anstarrt, schnell um die Ecke stolziert und sich zu ihr hinsetzt.

Sie hingegen steckt ihr Handy wieder ein und zuckt nur lethargisch mit den Schultern.

»Clara, ich hab 5 Minuten, bin gerade offiziell auf Toilette. Binde wechseln und Pippi machen, kennst ja die Ausreden. Aber hey, du hast noch nie die Schule geschwänzt. Unsere Lehrerin fragte bereits nach dir. Ich wusste gar nicht, was ich sagen soll.«

»Hast ´ne Zigarette?«

»Das hätte ich sagen sollen?«

»Nein, hast du eine für mich?«

»Aber nicht, dass du zur Schnorrerin wirst. Die kann ich gar nicht ab.«

»Ne, ne.«

Will Clara sich diesen Ruf nicht anhängen lassen, nimmt aber trotzdem gerne die Kippe und lässt sich anschließend auch noch Feuer geben. Nur rauchen kann sie selbst.

»Meine Stiefmutter hat mir während des Referats den Strom ausgemacht. Alles was ich Online eingegeben hatte, war futsch.«

»Och du Arme, wenn es doch wenigstens ein Schreibprogramm gewesen wäre, dann hättest du es wiederherstellen können.«

»Really? Ich war fast fertig. Die Note Eins hätte mir gehört. Und jetzt, jetzt habe ich eine sechs und bin in Erklärungsnot. Ich kann meinen Vater nicht bitten, eine Entschuldigung zu schreiben.«

»Mhhh..«, denkt Svetlana angestrengt nach und raucht mit ihrer Freundin zusammen die Zigarette, bis nur noch der Filter übrig ist.

»Musst du nicht. Fälsche doch einfach die Unterschrift. Ist kinderleicht. Bei dir als Musterschülerin, ach, da glaubt nicht mal der Direktor daran, dass sie gefälscht wäre.«

»Du, ich habe keine Lust mehr auf zu Hause. Glaubst du mir das?«

»Sweetie, ich bin für dich da. Wenn sich das Problem nicht von alleine löst, helfen wir eben nach. Versprochen.«

5
Versteinert

Meinen Lebensgefährten lernte ich in meinem Geschäft ›Dreiviertel Mond‹ kennen. Er kam damals als Polizist mit einer Kollegin in meinen Laden. Sie suchten einen Erpresser und vermuteten ihn in meinen Räumen. Der einzige Gauner, den ich allerdings je kannte, war mein Mann, der sich mein Herz für ewig gestohlen hatte.

Gut, um irgendwie mit meinen Kindern aus diesem Laden herauszukommen, kam mir dieser schöne Mann in Polizeiuniform ganz recht. Er sah attraktiv aus, zählte nicht gerade zur hellsten Kerze auf der Torte und hatte offensichtlich großes Interesse an mir.

Seine Kollegin, eine Tratschtante schlecht hin, sah sofort das Strahlen in meinen Augen, als ich bei seinem Anblick das Sorglos-Paket für uns entdeckte. Sie dachte natürlich, es sei Liebe auf den ersten Blick.

Auf jeden Fall nutzte sie ihre Pause zu meinem Vorteil und plauderte ein wenig aus dem Nähkästchen. Er befinde sich gerade im Trennungsjahr, sei derzeit sehr sensibel und auf der Suche nach Liebe. Die Scheidung hätte seine Frau gewollt, da sie mit seinem gefährlichen und anspruchsvollen Job nicht mehr klar kam. Allerdings glaube ich weniger an diese Version, denn Menschen sollen sich ja für gewöhnlich die absurdesten Geschichten erzählen. Doch ich schien die passende Partnerin für ihn zu sein.

Zugegeben, ich wäre es auch, denn eigentlich kann er von mir aus 24 Stunden am Tag die ganze Woche auf Streife sein. Hauptsache das Geld stimmt, wir haben ein Dach über dem Kopf und der Kühlschrank ist gefüllt. Die Kollegin arrangierte ein Date für uns und ich wusste sofort, welche Rolle ich einnehmen muss, um diesen Mann schnellstmöglich an Land zu ziehen.

Es war meine Paraderolle und mein Vorbild hierfür ist meine langweilige Schwester. Erfahrungsgemäß standen die Männer nur bei den ersten Rendezvous auf das unschuldige Mädchen vom Lande, weshalb ich zügig die Maske der heiligen Maria fallen ließ. Ich spielte ihm bei unseren nächsten Treffen in seinem bezaubernden Loft heiße Gefühle vor und machte ihn mit noch heißerem Sex glücklich. Mir war offensichtlich, mit welchem Organ dieser Mann denkt.

Bin ich eine Schlampe? Mir egal, es war mir vor allen Dingen wichtig, dass es meinen Zwillingen an nichts fehlt. Denn ihnen kann es nur gut gehen, wenn es mir gut geht.

Er hatte es eilig, das habe ich von der ersten Minute an bemerkt. Er wollte endlich sein zu Hause wieder mit Leben füllen. Und doch besaß er noch so viel Anstand, mich erobern zu wollen, bevor er mich und meine Kinder in sein Reich einziehen ließ. Das kurzerhand seine Tochter auch noch einzieht, weil sie sich in ihrem Dörfchen gelangweilt fühlt, das hatte er zunächst vergessen zu erwähnen. Ich muss zugeben, da hat mich das erste Mal wieder ein Mensch überrascht. Ich fragte mich ernsthaft bei dieser intellektuellen Persönlichkeit, woher er so viel Dreistigkeit nahm, um mir solch ein wichtiges Detail zu verschweigen. Zumal ich ja die Meisterin der Dreistigkeit sein soll.

Zwischenzeitlich fragte ich mich im Geheimen auch, ob sich mein Lebensgefährte nicht damals die erst Beste schnappte, damit seine kleine Prinzessin eine Ersatzmama hatte und somit wieder zu ihm ziehen konnte. Denn wer soll auf seine verzogene Tochter aufpassen, wenn er sich als Polizist wichtig macht?

Liebe ist es bis heute zwischen uns niemals gewesen, das weiß ich. Denn die wahre Liebe zwischen zwei Menschen geht über den Tod hinaus und geliebt habe ich in meinem Leben nur einen Mann.

Am Abend betritt Clara durch den Aufzug ihr Heim und sichtet ihren Vater, der gelangweilt auf der Couch sitzt.

»Clara Schatz. Hast du Hunger? Willst du noch was essen?«

»Ich hatte einen Döner, danke«, antwortet sie mit erhobener Nase, marschiert dabei im Stechschritt an ihrem Vater vorbei und blickt wieder zu Veronika, die apathisch an ihrem Tresen Zeitschriften umblättert.

Kurz geschockt kann Clara den Anblick ihrer desinteressierten Stiefmutter keine Sekunde länger mehr ertragen, denn zu groß ist ihre Enttäuschung und ihr Zorn dieser Frau gegenüber.

Tief Luft holend quetscht Clara ein »Hallo« aus ihren Lungen. Doch auf eine Erwiderung des Grußes kann sie lange warten. Empört den Kopf schüttelnd verschwindet Clara in ihr Zimmer und drückt wie gewohnt auf den Lichtschalter. Sofort bemerkt sie das helle Licht über ihr, was wohl bedeutet, dass ihr die Sicherung wieder hineingedreht wurde. Ihren Ballast wie Jacke und Schuhe schafft sie sich zügig vom Leib. Nur die Last, die auf ihrer Seele liegt, kann sie leider nicht so schnell ablegen. Kaum erledigt spaziert ihr Vater die Tür herein und schließt sie.

»Schau mal, Clara. Ich habe dir kurzfristig etwas besorgt.«

Skeptisch betrachtet die Tochter das Paket, das sie von ihrem Vater in die Hand gedrückt bekommt. Darin befinden sich augenscheinlich große Kopfhörer, die kabellos auf die Ohren gesetzt werden können.

»Veronika hat heute Morgen wichtige Telefonate geführt und dir zigmal gesagt, dass du die Musik leiser machen sollst beim Tanzen. Aber ich denke, hiermit ist das Problem gelöst.«

Missverstanden und von der Stiefmutter ins völlig falsche Licht gerückt, nimmt Clara widerwillig die Lösung im Paket an und schüttelt dabei zornig ihren Kopf.

»Alles okay, Clara mein Schatz?«

»Ja, alles okay. Damit ist wohl mein Problem gelöst.«

»Schön, falls du noch Hunger hast, ich habe Sucuk im Kühlschrank für dich aufgehoben. Ich weiß doch, wie sehr du sie magst.«

»Ja, danke. Ich werde bestimmt darauf zurückkommen«, antwortet Clara betrübt, blickt dabei auf ihr Paket, das sie wohl gänzlich vom Rest der Familie abschatten soll.

Brandon verlässt zufrieden den Raum und eine völlig enttäuschte Clara verriegelt sofort die Tür. Mit ihrem neuen Geschenk, platziert sie sich an ihren Rechner, setzt die Kopfhörer auf, um dann anschließend begleitet von lauter Musik in der digitalen Welt zu versinken.

Draußen gesellt sich Brandon an den Küchentresen zu seiner Lebensgefährtin Veronika, fragt dabei verlegen an, wenn sie im Krankenhaus ist, was er denn mit Clara machen soll.

»Sag mal mein Lieber, lass dich Krankschreiben oder organisier ein Kindermädchen. Ich sorge dafür, dass Leben gerettet wird. Du weißt, was in diesem Brief stand.«

»Ja stimmt, du hast recht. Das geht mir irgendwie gerade alles so schnell.«

»So schnell? Wenn du mir mal zuhören würdest, wüsstest du, dass ich schon lange auf dieser Liste stehe und ich bereits vor Tagen sagte, dass ich einen Anruf erhalten habe. Mein Lieber, hör einfach mal deinen Mitmenschen zu und tue nicht so überrascht, wenn du auf einmal vor vollendeten Tatsachen stehst.«

»Fabian und Median?«

»Sind bei meinen Eltern für die paar Tage untergebracht. Und jetzt mach dir keine Sorgen, es wird schon schiefgehen.«

Zu dieser Zeit herrscht im Kinderzimmer der Zwillinge schon Totenstille. Und während das Licht einer alten Laterne durch ihr Fenster scheint, ist Median zu sehen, der wohlbehütet auf seiner Seite des Zimmers, bereits seinen Träumen hinterherjagt.

Fabian hingegen sitzt aufrecht im Bett und chattet auf seinem Handy. Er sendet dabei seiner Stiefschwester digital eine Nachricht zu, um zu erfahren, ob Clara denn morgen wieder mit ihnen zur Schule fährt.

Ruckzuck erhält der 11-Jährige eine Antwort und die Chatverläufe der zwei vergrößern sich.

Clara: ›Wohl nie wieder. XD Habe Busfahrkarten bekommen. Eure Mutter will mich nicht mehr fahren.‹

Fabian: ›Unsere Mutter? Glaub ihc nicht, davon hatte sie nichts erwähnt. Nur beim gestern, da musst du sie geärgert haben.‹

Clara: ›Ich glaube nicht das es meinem Papa seine Idee war!!1‹

Fabian: ›Bist dir sicher? Mama übertreibt gerne, aber das sie so arg ist,? kann ich mir nicht vorstellen.‹

Clara: ›Ist ja auch geal. Habe schon gedacht ihr redet jetzt auch nicht mehr mit mir. :-( ‹

Fabian: ›Warum sollten wir nicht mit dir reden. Sitzen nur bisschen zwischen den Stühlen. Konnen dich doch trotzdem leiden. :-) ‹

Clara: ›Das freut mich. Hat dein bruder das Buch verrückt?. ‹

Clara: ›*zurück :-D ‹

Fabian: ›Ja hat er geh jetzt schlafen. GN8‹

Clara: ›Ich nicht, ich bleib heute Nacht wach. Kein Bock zu schlafen. Aber euch auch eine gute Nacht... ‹

Und so gleitet auch Fabian in den hauseigenen Schlaf, bis er in der späten Nacht durch ein Gerumpel, welches lautstark aus dem Wohnbereich ertönt, unsanft geweckt wird.

»Median?«, flüstert Fabian verschlafen und schwingt sich daraufhin voller Neugier aus den Federn.

Doch seinen Bruder scheinen keine zehn Pferde wecken zu können. Auf leisen Sohlen tippelt Fabian im düsteren Raum an seine Zimmertür und schaut gespannt durch das Schlüsselloch. Zu sehen bekommt der junge Mann seine Mutter, die eine Vase wieder zurechtstellt sowie Brandon, der in seiner Polizeiuniform im Aufzug steht und auf das Schließen der Türen wartet.

»Der muss wohl arbeiten und wird gegen die Vase geknallt sein.«

Fabian eilt beruhigt wieder zurück ins Bett und zieht sich seelenruhig die Decke bis zum Hals. Und während er still versucht einzuschlafen, stört ihn seine volle Blase, die er zu ignorieren versucht. Doch ohne Erfolg.

Fabian muss sich erneut von der wohligen Wärme verabschieden und schlendert schlaftrunken aus seiner Kinderstube. Veronika scheint auch bereits wieder in ihrem Schlafgemach zu sein, denn auf dem Weg ins Badezimmer begegnet Fabian keiner Menschenseele. An der Milchglaswand vorbei, tritt Fabian ins dunkle Badezimmer, um den nervenden Inhalt seiner Blase der Kloschüssel zu übergeben. Nach seinem Toilettengang marschiert Fabian wieder raus, woraufhin er Licht durch Claras Türschlitz schimmern sieht. Freudig schlägt er den Weg, durchs große Loft, in Richtung Kinderzimmer ein, um ein paar Sekunden später sachte an Claras Tür zu klopfen.

»Clara, bist du noch wach?«, flüstert er erwartungsvoll durch das Schlüsselloch, wiederholt dabei seinen Satz so lange, bis der Schlüssel endlich umgedreht wird und Clara die Tür öffnet.

»Ich habe doch gewusst, da war ein Geräusch. Komm doch rein, Fabian.«

»Hier stinkt es aber ein bisschen seltsam«, bemerkt Fabian, die Nase rümpfend, während er das hell erleuchtete Zimmer betritt und Clara ohne abzuschließen, die Tür wieder zumacht.

Auf den ersten Blick wirkt die Situation im Zimmer auf Fabian sehr befremdlich, denn mitten in der Nacht läuft in Claras Zimmer noch der Rechner, auf dessen Monitor mehrere Chats geöffnet sind. Außerdem ertönt leise Musik aus dem Kopfhörer, der neben die Tastatur hingelegt wurde. Zu sichten ist auch Claras Tagebuch, das immer noch zugeklappt mitten auf dem unberührten Bett weilt.

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9783742706041
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