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2.4.1 Die gegenwärtige Multikrise

In Seyfrieds (2003: 460) Schilderung der Auseinandersetzung zwischen dem Gouverneur Leutwein und dem General Leutnant von Trotha wird mittels erlebter Rede von einem „Kaffernaufstand am Arsch der Welt“ gesprochen. Die imperiale Weltpolitik, wie sie in Berlin bestimmt wird, unterstützt von „Banken, Handel, Industrie und ihre[n] Vertreter[n] im Reichstag“ oder gelegentlich von „ein paar sozialdemokratischen Negrophilen“ (ebd.: 460) widerlegt, ist weit entfernt. Seyfrieds Roman bietet eine Sicht der Weltgeschichte von der Peripherie aus. Dennoch positioniert sich das Buch, allein durch seinen Umfang und durch die epische Breite der Handlung (vgl. Lukács 1963 [1920]), als eine Art an den Rand der Weltgeschichte gerücktes Krieg und Frieden: Man denke an Friedrich Langes 1907 in Windhoek veröffentlichten Bildband Deutsch-Südwest-Afrika: Kriegs- und Friedensbilder (Lange 2012 [1907]). Seyfrieds Herero steht ambivalent zur Weltgeschichte: Einerseits beansprucht der Roman nach dem gattungsgeschichtlichen Muster des historischen Romans (Lukács 1955 [1937]) einen Anteil an weltgeschichtlichen Geschehnissen für die deutsche Kolonialgeschichte, andererseits attestiert er durch die weitgehend fehlenden Hinweise auf die in Berlin stattfindende Reichspolitik die schiere Distanz zum vermeintlichen europäischen Zentrum der Weltgeschichte und bestätigt dadurch die Hegel’sche (1961: 163) Behauptung, „Afrika [sei] kein geschichtlicher Weltteil“.

Herero bietet somit eine merkwürdig verkehrte Widerspiegelung der heutigen weltgeschichtlichen Lage. Auch die heutige Weltbevölkerung erlebt im Zuge nicht nur der gegenwärtigen Klimakrise eine Art epochale, gar epische Weltgeschichte, die die Belletristik nur mit erheblicher Mühe darstellen kann (vgl. Ghosh 2016). Auch angesichts des unmessbaren Umfangs des globalen Geschehens, in das wir verwickelt sind (vgl. Morton 2013), befinden wir uns sozusagen in einer Randstellung: Das globale, ja planetare Ausmaß der heutigen Entwicklungen lässt den einzelnen Mensch mit seiner Einzelperspektive als völlig unbedeutenden Zaungast erscheinen. Auch die Literaturwissenschaften sind von dieser peripheren Belanglosigkeit nicht ausgenommen: Hatten bzw. haben sie doch oft ausgesprochen wenig über die brisantesten aktuellen globalen Probleme zu sagen (vgl. Johns-Putra 2019) und oft Mühe mit den aktuellen rasanten globalen Ereignissen Schritt zu halten.

Angesichts dieser beinahe sträflichen globaltheoretischen Verspätung beruht der erste theoretische Strang auf der Annahme des epistemologischen und axiologischen Primats der gegenwärtigen „Multikrise“ (Brand / Wissen 2017; vgl. zudem Beck 2016; Heise-von der Lippe / West-Pavlov, Hg. 2018). Streeck (2017a) liefert in diesem Zusammenhang eine detaillierte Analyse der gegenwärtigen Krise des globalen Kapitalismus. Eine Krise, die laut seiner Prognose ein noch nie geahntes Ausmaß erreicht hat (ebd.: 241, 249–50). Streecks Theorie schließt die gegenwärtige Klimakrise ein (ebd.: 248), vernachlässigt jedoch die longue durée-Geschichte des Anthropozäns und ihre zahlreichen Facetten, die auf die globale Kapitalakkumulation seit der Anfangsphase des Industriekapitalismus im 17. Jahrhundert zurückzuführen sind. Umfangreicher in dieser Hinsicht ist die Studie Bloms (2017). Ferner ist Streecks Analyse weitestgehend auf Europa fokussiert (Tooze 2017), so dass die Rolle bzw. das Schicksal des Globalen Südens innerhalb der globalen Krise hier zu kurz kommt. Ein Beispiel einer tiefergreifenden Analyse, die derartigen globalen Zusammenhängen Rechnung trägt, bietet die Studie von Klein (2016).

Die Liste ineinandergreifender Krisen der Gegenwart ist lang, kann jedoch im Rahmen dieser Untersuchung auf die Achse Deutschland-Afrika beschränkt und auf folgende Hauptschwerpunkte fokussiert werden: klimawandelgetriebene Umweltzerstörung, Wüstenausbreitung und Ressourcenmangel quer durch die Sahelzone (Weizman / Sheikh 2015); daraus entstehende Ressourcenkämpfe, Bevölkerungsverschiebungen und Migration auf der Süd-Süd- sowie auf der Nord-Süd-Achse (McAdam 2014; McLeman 2013; Wennersten / Robbins 2017) sowie die damit verbundenen Transformationen der europäischen Politik im Zuge der rapid steigenden Fluchtvolumina, die Mitte 2019 die Marke von 70 Millionen Menschen erreichten (UNHCR 2019) und laut Baumgarten (2018) sehr bald die Marke von 80 Millionen erreichen könnten. Dazu kommen auch die anhaltende Wirkung einer neokolonialen Politik seitens der euroamerikanischen Staaten gegenüber Afrika sowie die verschiedenen Versuche seitens der afrikanischen Staaten, sich angesichts der Herausforderungen stets wachsender Bevölkerungen, vielerorts schrumpfender Ressourcen – teilweise im Zuge steigender Meeresspiegel – einerseits sowie des Besitzes global begehrter Rohstoffe wie Land, Mineralien, erneuerbare Ressourcen wie Sonnenenergie etc. andererseits im ersten Viertel des 21. Jahrhunderts innerhalb der Weltgemeinschaft neu zu positionieren.

Wozu diese Aufzählung der zahlreichen Facetten einer nur allzu gut bekannten Multikrise? Die Grundannahme der Hermeneutik, dass die Interpretation immer vom Standort des Interpreten bzw. der Interpretin aus und anhand seiner bzw. ihrer gegenwartsbezogenen Interessen geleitet wird (Gadamer 1965), gilt als Allgemeinweisheit. In den Literaturwissenschaften jedoch werden die akuten Fragen der Gegenwart generell nicht als hermeneutische Leitfragen aufgegriffen, sondern es gilt nach wie vor ein Historismus, dem es nicht an wissenschaftlichem Rigor mangelt, der aber eine unmittelbare Gegenwartsrelevanz ausschließt. Weiter unten wird die Leitkategorie des verbindenden „Affekts“ als ergänzender literaturwissenschaftlicher Ansatz aufgegriffen, um ein häufig fehlendes Bindeglied zwischen der Literaturwissenschaft und der Gegenwart zu bieten.

2.4.2 Schnittstelle Deutschland – Afrika

Zunächst aber soll ein verbindendes Thema angesprochen werden, das die Relevanz der Literaturwissenschaft hervorhebt: die oft verkappten, verschollenen oder verdeckten, aber nach wie vor brisanten Beziehungen zwischen Afrika und Europa, insbesondere zwischen Namibia und Deutschland. Seyfrieds Herero (2003: 588) schließt mit dem Imperativ: „In Gottes Namen! Gehen wir!“ Symbolisch kehren die Protagonisten dem fiktiv erlebten Afrika den Rücken, als ob die Geschichte (im doppelten Sinne) der deutschen Auseinandersetzung mit dem damaligen Südwestafrika nun abgeschlossen sei und ad acta gelegt werden könne, genau wie der bzw. die Leser*in das Buch nun schließen wird. Dass dem nicht so ist, zeigt ganz einfach die Tatsache, dass solche Romane die Leser*innen der Gegenwart offensichtlich nach wie vor durchaus ansprechen können.

Im Gegensatz zu einer vermeintlich abgeschlossenen Afrika-Geschichte Deutschlands stellt sich hier, analog zu einem gegenwartsorientierten Geschichtsverlauf, die Frage nach einer Verflechtungsgeschichte, die sich in ähnlicher Weise an der gegenwartsorientierten Schnittstelle Deutschland – Afrika ausrichten lässt. Kößler und Melber (2017: 12) stellen fest,

dass die Folgen des deutschen Kolonialismus die Strukturen der namibischen Gesellschaft nachhaltig bis in die Gegenwart veränderten und dass nicht zuletzt die demographische Zusammensetzung der Bevölkerung ohne die Auswirkungen der genozidalen Kriegsführung heute anders wäre. Auch wenn die seinerzeit durch die Gewaltverhältnisse geschaffenen Fakten irreversibel sind, gilt es diese im Sinne einer Völkerverständigung handlungsanleitend bewusst zu machen.

An dieser Stelle sei auf die bereits zitierte Aussage der Herausgeber des wissenschaftlichen Begleitbands zur wichtigen Kölner Ausstellung zur „Geteilte[n] Geschichte“ Namibias und Deutschlands im Jahre 2004 hingewiesen:

Die namibisch-deutsche Geschichte, die aus gegebenem Anlass im Jahre 2004 in den Blickpunkt rückt, ist eine afrikanisch-europäische „Verflechtungsgeschichte“ jenseits euro- aber auch jenseits afrozentrischer Sichtweisen. Kolonialgeschichte, vorkoloniale und auch nachkoloniale Geschichte verbinden namibische und deutsche Geschichte in prägnanter, vielschichtiger Weise – und trennen sie zugleich. Namibier, Deutsche oder Namibia-Deutsche, ehemalige Opfer und Täter, ehemalige Kolonisierte und Kolonisatoren, Befreiungskämpfer und Siedler teilen historische Erfahrungen im Sinne einer shared history, einer verbindenden Geschichte, andererseits im Sinne einer trennenden Erfahrung. […] Koloniale Verflechtungen implizierten höchst ambivalente Interkationen, Spannungen und Abgrenzungen, schufen gemeinsam Konstitutives wie konstitutiv Trennendes. (Förster / Hendrichsen / Bollig 2004: 19)

Aus den oben bereits angeführten Gründen geht es darum, die Beziehung zwischen dem heutigen Deutschland und seiner Kolonialvergangenheit auch im Kontext der steigenden migrationsbedingten Sichtbarkeit Afrikas in der deutschen Demografie zu reflektieren (Mikrozenzus 2017; Hess-Lüttich 2019; vgl. auch Adebajo / Whiteman, Hg. 2012). Des Weiteren ist sie in den Bereichen von Geopolitik, Ressourcenmanagement bzw. -ausbeutung und Entwicklungspolitik zu verorten. Hier sind vor allem die Zusammenhänge von Bildung, Fachkräften und Migration, von drohenden Krisen im Bereich der Energie und Klima-Unstabilität sowie „climate smart“-Praktiken aus dem Globalen Süden, insbesondere aus dem südlichen Afrika gemeint [vgl. z.B. Mathews / Kruger / Wentik 2018; Nakashima / Krupnik / Rubis, Hg. 2018]).

Ausgangspunkte der vorliegenden Studie sind die Annahme, dass Afrika nicht nur empirisch, d.h. gemessen an Einwanderungszahlen, in Deutschland zunehmend sichtbar wird sowie die Versuche der Bundesregierung mit einer neujustierten Afrikapolitik (vgl. Ackeret 2016; Auswärtiges Amt 2019; Bundesregierung 2014; Kappel 2017) darauf zu reagieren. Diese Politik zielt, wie bereits angemerkt, hauptsächlich, aber nicht ausschließlich auf Sicherheitsmaßnahmen und die Eindämmung von Flüchtlingsströmen ab. Zusätzlich beinhaltet sie aber auch positive Maßnahmen, welche zusätzlich Ansporn für die Wissenschaft sein sollten, sowohl die Kolonialvergangenheit wie auch Kolonialtexte und deren postkoloniale Adaptionen in einem heutigen Kontext neu zu betrachten, in dem Afrika Deutschland wieder näher kommt. Ein solches Projekt verlangt aber ein neues konzeptuelles Instrumentarium, das imstande ist, den wiederauflebenden Verbindungen zwischen Afrika und Deutschland jenseits der bloßen empirischen Realitäten der Gegenwart Rechnung zu tragen. Der enge empirische Ansatz führt allzu oft lediglich zu kurzsichtigem Pragmatismus bzw. Aktionismus mit vorhersehbaren Konsequenzen, daher bedarf es eines Ansatzes, der in der Lage ist, mittels Einbildungs- bzw. Einfühlungskraft längerfristige Zukunftsszenarien zu imaginieren und an der konkreten Realisierung solcher Szenarien zu arbeiten.

Es ist wichtig, die absolute epistemologische und axiologische Dringlichkeit dieser Gesamtlage und ihrer lokalen deutsch-afrikanischen Manifestationen hervorzuheben, da sie eine grundlegende Neuausrichtung der Geisteswissenschaften fordert.

2.4.3 Fachbezogene Transformationen

Seyfrieds Herero enthält eine Vielzahl von Hinweisen auf transmediale Intertextualität (beispielsweise Fotografien, Skizzen und Landkarten, die in den Text integriert sind), weist jedoch überraschenderweise relativ wenige Instanzen literarischer Intertextualität auf. Einmal wird Fontane (Seyfried 2003: 485) erwähnt: Ettmann reicht Cecilie die wenig nationalpatriotischen Kriegstagebücher Aus den Tagen der Okkupation (1872) von Fontane. Cecilie hingegen kennt nur die Liebesgeschichten Cécile (1887) und Irrungen, Wirrungen (1888). Fontanes Kriegsberichterstattung aus dem Deutsch-Französischen Krieg von 1871 bis 1872 hätte an dieser Stelle als ironischer Kommentar auf die tatsächliche Brutalität des Deutsch-Namibischen Kriegs dienen können. Aber Nachrichten über die bereits angekündigte Kesselschlacht am Waterberg werden von Ettmann im selben Augenblick als „nur Gerüchte“ heruntergespielt; in ähnlicher Weise schenkt er kurz darauf Cecilies Sorgen über die Landenteignung der Eingeborenen keine Beachtung (Seyfried 2003: 486–7). So wird Fontane als Sittenbeobachter statt als Kritiker der deutschen Kriegsführung hingestellt, womit die kolonialpolitische Bedeutung der Intertextualität abgemindert wird. Ähnlich wird auch ein Roman von Gustav Frenssen, Jörn Uhl (1901), eingeführt. Mitten auf einer Lichtung neben einem ausgeplünderten Planwagen, auf der ein Massaker stattgefunden hat, wird ein Exemplar von Frenssens Entwicklungsroman gefunden. Der Roman, der stellvertretend als Träger von Erzähl -bzw. Deutungsmustern des Fortschritts gilt, wird der Szene der Verwüstung gegenübergestellt:

Ringsum liegen verstreute Briefe und teils zerrissene Bücher. Seelig hebt eines auf. Es ist ein deutsches Buch, „Jörn Uhl“ heißt es, von Gustav Frenssen. Es ist nicht einmal alt, 1902 steht drin, aber durch Regen und Sonne ist es ganz verquollen und mürbe. Er schlägt es irgendwo auf und liest: „… aber wir wollen nicht tanzen. Dazu hätte ich Sie nicht eingeladen. Es ist ein Totenfest.“

Seelig wird es unheimlich zumute. Er legt das Buch wieder hin. (Seyfried 2003: 307–8)

Das Buch symbolisiert eine dezimierte deutsche Schriftkultur inmitten einer Landschaft schriftfeindlicher primitiver Barbarei. Trotzdem gelingt es dem deutschen Text fast prophetisch auf seinen eigenen Kontext hinzudeuten und somit seine kulturelle Funktion tapfer aufrechtzuerhalten. Stillschweigend wird hier auch auf Frenssens späteren Roman über Deutsch-Südwestafrika, Peter Moors Fahrt nach Südwest (1906), der von rassistischen Kolonialstereotypen nur so wimmelt, hingewiesen. Wiederum wird die Funktion der Intertextualität nicht nur entpolitisiert, sondern im Rahmen des Seyfried’schen Romans für kolonialpropagandistische Diskurse europäischer Herrschaft instrumentalisiert.

Noch einmal fungiert Seyfrieds Herero als Zerrspiegel für den in dieser Studie verwendeten literaturwissenschaftlichen Ansatz. In Anbetracht der absoluten epistemologischen und axiologischen Dringlichkeit der oben geschilderten Gesamtlage und ihrer lokalen deutsch-afrikanischen Manifestationen stellt sich die Frage einer gegenwartspolitisch orientierten Literaturwissenschaft innerhalb der ähnlich neu ausgerichteten Geisteswissenschaften.

Einerseits müssen die basalen Kategorien des universitären Fachs neu konzipiert werden. Die universitären Fächer sind aus einem Prozess der systemischen Ausdifferenzierung entstanden, die eine „Eigenwelt“ erzeugt hat (Luhmann 1990: 684). Der abgeriegelte Hermetismus der universitären Fächer ähnelt, strukturell betrachtet, der geschlossenen Form des Nationalstaates, dessen Identität die Geisteswissenschaften sowohl historisch begründet als auch politisch-kulturell legitimieren sollte (Rosenberg 1981). Es ist kein Zufall, dass der Entstehungsprozess der modernen Geisteswissenschaften und die Nationalstaatsbildungen im 19. Jahrhundert miteinander einhergingen. Diese Funktion der Universität und ihrer Fächer ist aber im Zuge der Globalisierung weitgehend weggefallen [Readings 1996: 44–53, 62–9] – und dies ist ein weiterer Grund für die Infragestellung der traditionellen Fächergrenzen.

Der weitgehend abgeschottete und selbstreferenzielle Inselcharakter der universitären Fächer gehört zum systemischen Charakter und überhaupt zur „Autopoiesis“ bzw. Selbsterhaltung der Hochschullandschaft und ist deshalb an sich kein Symptom einer Krise. Die Isolation der universitären Fächer ist jedoch insofern problematisch in der heutigen Situation, weil die Geisteswissenschaften größtenteils zur akuten heutigen sozioökonomischen und geopolitischen Multikrise, in der sie selbst eingebettet sind, schweigen. Wie Streeck (2017: 237) anmerkt, gibt es eine merkwürdige Diskrepanz zwischen wissenschaftlicher Expertise in Universitäten und politischer Inkompetenz bei den Führungseliten, die die Universitäten selbst anscheinend gar nicht bemerken oder ansprechen wollen. Die Luhmann’sche Theorie bietet trotz alledem ein hervorragendes diagnostisches Instrumentarium, das es möglich macht, den hermetischen Charakter der universitären Fächer zu durchleuchten, ohne jedoch einen normativen Anspruch zu erheben. Gleichzeitig räumt die Systemtheorie Möglichkeiten der „systemischen Interferenz“ (d.h. Interpenetration und Widersprüchlichkeit) ein (Luhmann 1984: 290–1, 506–7). Solch eine Interferenz, hier in der Form der von „außen“ eindringenden globalen Multikrise, stellt den Ausgangspunkt der vorliegenden Studie dar. Die von „außen“ einbrechende Krise fordert eine „Extroversion“ der Geisteswissenschaften (West-Pavlov 2018b).

Andererseits muss die fast durchgehend kritische Haltung der Geisteswissenschaften an den Stellen, wo sie tatsächlich in die öffentliche Meinungsbildung eingreifen, durch andere Akzente ergänzt werden. Die Kritik als eine der primären soziokonzeptuellen Aufgaben der Geisteswissenschaften bleibt unangetastet und mehr denn je notwendig (für ein hervorragendes Beispiel der Sprachkritik seitens gesellschaftlich bewusster Geisteswissenschaften, siehe das jüngste Manifest des Literaturwissenschaftlers und Grünen-Politikers Habeck 2018; besonders interessant ist diese Streitschrift angesichts Habecks schriftstellerischer Tätigkeit als Mitautor des Herero-Romans Der Schrei der Hyänen [Paluch / Habeck 2004] und als Verfasser des Nachworts zur aktuellsten Ausgabe von Timms Morenga [2020 (1978) / 2020 (1978); siehe auch Boltanski 2011)]. Die Kritik verfügt jedoch über eine relativ begrenzte politische Wirkungskraft. Als Mittel, um tatsächliche Änderungen herbeizuführen, bleibt die Kritik nur bedingt wirksam und muss durch andere, konstruktivere Impulse ergänzt werden (was tatsächlich oft passiert, vor allem im außeruniversitären Aktivismus universitärer Intellektueller). Die Überzeugung seitens der kritischen Literaturwissenschaften, dass allein eine diskurskritische Haltung genüge, um politische Transformationen zu bewirken – egal ob angelsächsischer Provenienz oder aus der Frankfurter Schule stammend – ist gut belegt, wie die Formulierung Mbembes (2012) es zum Ausdruck bringt:

Theory was always conceived as a political intervention, something somewhat beyond critique as such. What gave it its power was its presupposed capacity both to transform the existing structures of power and to create alternative social arrangements. In this sense, Theory was always understood to be a means of struggle – which allows Michael Hardt to define it as a form of „philosophical and political militancy“.

Diese Überzeugung der grundlegenden politischen Wirkung der Diskursanalyse entpuppt sich jedoch größtenteils als Selbstblendung (Poovey 2004). In Grosz’ Worten (2005: 2–3): „The critique of text never actually transforms texts or even necessarily produces better, more elaborated and developed texts; not does it commonly change the opinion of adherents to the positions or claims elaborated in those texts.“ Vielmehr wird die universitäre Kritik vom etablierten politischen System toleriert, weil sie eine relativ harmlose Ausdrucksform des Widerstands bietet. Somit werden andere, wirkungsvollere Bewegungen de facto nach dem Muster des „containment“ eingedämmt und gezügelt. Diese Tatsache verringert keineswegs, wie bereits oben angemerkt, die Wichtigkeit der universitären Kritik. Aber sie kann und darf nicht der einzige Bestandteil der intellektuellen Arbeit bleiben, genau wie die Universität nicht der alleinige Standort des intellektuellen Wirkens bleiben kann (Dollimore 2011; McDonald 2015). Notwendig ist also ein Modus geisteswissenschaftlichen Arbeitens, der nicht nur Kritik, sondern auch positive Wirkungsmuster hervorhebt. Hierzu noch einmal Grosz:

I have instead tried to seize and develop what is of use in a text or position, even in acknowledging its potentially problematic claims or assumptions. […] I have tried to develop an affirmative method, a mode of assenting to rather than dissenting from those „primary“ texts […]. One can write most generously and with the most inspiration working on those texts one loves the most intensely, which have had most impact on one. (Grosz 2005: 2–3)

Um zu dieser Art positiver Textarbeit zu gelangen, muss diese Art geisteswissenschaftlichen Arbeitens eine Zusammenarbeit mit einer breiteren Gruppe von Akteuren miteinschließen, so dass neue Typen der vernetzen Handlungsfähigkeit (agency) und des gemeinsamen Eingreifens, auch des politischen Handelns, entstehen. Auf mögliche Formen der affektiven Handlungsfähigkeit wird weiter unten detaillierter eingegangen.

5 209,28 ₽
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521 стр. 3 иллюстрации
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9783823302322
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