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Welches Motto steht über Ihrem Leben?

Keines. Das wäre eine Verpflichtung. Ich möchte frei sein. Schließlich ändert sich das Leben, und deshalb möchte ich auch immer mein Motto ändern können.



DER THEATERMACHER

CHRISTOPH VON DOHNÁNYI

* 8. September 1929, Berlin

Es gehört schon ein gerüttelt Maß an Idealismus dazu, neben der musikalischen Leitung eines Opernhauses gleichzeitig noch dessen Intendanz zu übernehmen.

Schließlich trägt man in so einem Fall nicht nur die künstlerische Gesamtverantwortung für ein Theater, sondern muss sich auch ständig um die mühsamen administrativen Belange kümmern. Zudem hat man einen viel schwereren Stand bei seinen musikalischen Mitstreitern, weil man sich nicht als Anwalt des künstlerischen Personals gegenüber der Direktion profilieren kann. Doch Christoph von Dohnányi kümmerte all das nicht. Er war viel zu neugierig, um sich von solchen Vorbehalten abschrecken zu lassen, und ging dieses Risiko sogar gleich zweimal in seinem Leben ein. Zu groß erschien ihm die Verlockung, im damals noch reichlich verstaubten deutschen Musiktheater etwas bewegen zu können.

Möglicherweise ist die Ursache für ein solch außergewöhnliches Verantwortungsbewusstsein in seiner Biografie zu finden. Zwar hatte der hochintelligente Spross einer prominenten Familie – sein Onkel war der Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer – schon frühzeitig mit dem Klavierspiel begonnen und mit fünf Jahren seine ersten Kompositionen zu Papier gebracht. Doch mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs fand der Junge kaum mehr die notwendige Muße, zumal sein Vater Hans, eine entscheidende Figur im Widerstand gegen Hitler, 1943 von der Gestapo verhaftet und zwei Jahre später im Konzentrationslager Sachsenhausen ermordet wurde.

Nachdem er trotz dieser außergewöhnlichen Belastung bereits mit 16 Jahren das Abitur bestanden hatte, strebte er zunächst eine Juristenkarriere an. Denn er war sich dessen bewusst, dass er durch die schicksalhaften Zeitläufte viel zu wenig Zeit gehabt hatte, sich so intensiv mit der Musik auseinanderzusetzen, wie es zur professionellen Ausübung notwendig gewesen wäre. Dennoch gab er nach vier Semestern seiner eigentlichen Neigung nach, verbrachte er doch inzwischen mehr Zeit mit dem Komponieren als mit seinem eigentlichen Studium. So verlegte Dohnányi, der während des Krieges in die Isarstadt verschickt worden war, 1948 seinen Interessenschwerpunkt an die Münchner Musikhochschule, wo er bereits nach drei Jahren sein Studium mit Auszeichnung abschloss.

Nachdem er bei seinem Großvater, dem berühmten Komponisten Ernó´ von Dohnányi, eine einjährige Fortbildung absolviert hatte, traf er 1952 auf Georg Solti, der sich gerade anschickte, die Leitung der Frankfurter Oper zu übernehmen. Von seinem jungen Kollegen offensichtlich angetan, engagierte ihn der ungarische Maestro als Korrepetitor und Dritten Kapellmeister. In Frankfurt sollte Dohnányi von seinem anspruchsvollen Mentor jede Unterstützung erfahren. Sogar ein selbst komponiertes Ballett durfte er in Frankfurt uraufführen. Ansonsten lagen seine Aufgaben auf dem Gebiet der zeitgenössischen Musik und der Operette. Dohnányi wusste seine Chance zu nutzen und lernte viel von Solti, den er damals als „Idol“ ansah und bis heute als „wunderbaren Chef“ bezeichnet.

Nach seiner Lehrzeit am Main wurde er 1957 als jüngster Generalmusikdirektor Deutschlands nach Lübeck berufen. 1963 wechselte er an das Staatstheater Kassel und schon ein Jahr später übernahm er darüber hinaus noch die Leitung des Kölner Rundfunk-Sinfonie-Orchesters, wodurch ihm endlich ein breiteres Podium geboten wurde, sodass er seine Stellung in Kassel nach drei Jahren wieder aufgab. Mit den Städtischen Bühnen Frankfurt wurde Dohnányi 1968 erstmals mit der musikalischen Leitung eines großen Opernhauses betraut. Doch damit nicht genug: Vier Jahre später übernahm er dort zusätzlich noch die Intendanz, was er rückblickend als seine „schönste Zeit“ bezeichnet. Das verwundert nicht, konnte der nunmehrige Intendant im Sog der grundlegenden gesellschaftlichen Veränderungen doch das Wagnis eingehen, völlig neue Konzepte zu verwirklichen. Schließlich war das Frankfurt dieser Tage eines der Epizentren des kulturellen Wandels, von dem Deutschland gerade erschüttert wurde. Zudem stand Dohnányi mit dem damaligen Kulturdezernenten Hilmar Hoffmann und dem Assistenten Gerard Mortier ein streitlustiges Team zur Seite. Junge und experimentierfreudige Regisseure, wie etwa Peter Mussbach, Volker Schlöndorff oder Hans Neuenfels wurden engagiert, zwei Opern, Fidelio und Figaro, inszenierte Dohnányi sogar selbst. Das Opernhaus Frankfurt war unter seiner Leitung zu einem der Hauptzentren progressiver Opernaufführungen geworden. Dennoch verließ er 1977 die Stadt am Main, zu sehr nahmen ihn unterdessen seine internationalen Verpflichtungen in Anspruch.

Doch 1978 konnte er der Versuchung nicht widerstehen, die Intendanz und die Position des Chefdirigenten an der Hamburgischen Staatsoper zu übernehmen. Wie einst in Frankfurt band er junge Regisseure wie Jürgen Flimm und Luc Bondy an sein Haus, mit dem erklärten Ziel, durch progressive Aufführungen auch im Repertoirebetrieb höchstmögliche Qualität zu garantieren. Ungeachtet einiger szenischer und musikalischer Glanzpunkte war die Euphorie des Aufbruchs der „68er“ inzwischen den nüchternen Kalkulationen einer wirtschaftlich schwereren Zeit gewichen. Als weiterer Wermutstropfen kamen größere Schwierigkeiten mit dem Orchester hinzu, was Dohnányi in seiner Doppelfunktion zusätzlich belastete.

In dieser unerfreulichen Situation wurde ihm ein Angebot unterbreitet, das er nicht ablehnen konnte. Als Nachfolger Lorin Maazels wurde er 1982 zum „Music Director Designate“ und 1984 zum Musikdirektor des Cleveland Orchestra ernannt, bei dem er erst 1981 debütiert hatte. Bei diesem profilierten Klangkörper der Neuen Welt, wo er „die vielleicht glücklichste Zeit in seinem Leben“ verbracht hatte, blieb er bis 2002, wobei er 1997 wieder einen Brückenschlag nach Europa vornahm, als er die Stellung des Chefdirigenten beim legendären Philharmonia Orchestra London antrat, von dem er sich als Ehrendirigent nach elf Jahren wieder verabschiedete. In den Jahren von 2004 bis 2011 übernahm der Unermüdliche darüber hinaus die Leitung des NDR-Sinfonieorchesters in Hamburg, was er gleichsam als seinen persönlichen Beitrag zur „einmaligen deutschen Kulturlandschaft“ verstand, für die er eine große Verantwortung empfindet: „Wenn wir hier versagen und den Abbau, der überall stattfindet, mitmachen, ist dies ein schuldhaftes Verhalten diesem Land gegenüber“, begründete er diesen Schritt in einem Radiointerview mit seinem neuen Arbeitgeber. Da sich unter seinen Orchestern lange Zeit kein Opernorchester befand, legte Dohnányi stets großen Wert darauf, regelmäßig an den Zentren des Musikdramas in London, Paris und Zürich präsent zu sein. Was kein Wunder ist, empfand Dohnányi doch immer eine große Affinität zur Oper.

Neben zahlreichen Aufführungen bei den Salzburger Festspielen, am Opernhaus Zürich und in Wien, wo er 1992/1993 an der Staatsoper etwa den gesamten Ring des Nibelungen aufführte, umfasst seine umfangreiche Diskografie zahlreiche Einspielungen der verschiedensten Bühnenwerke. Mit den Wiener Philharmonikern nahm er etwa Wozzeck, Lulu, Fidelio,

Der fliegende Holländer und Salome auf, mit dem Cleveland Orchestra, als dessen Ehrendirigent er fungiert, Das Rheingold und Die Walküre. Selbstverständlich für einen Dirigenten seines Rufs hat er auch sämtliche Symphonien von Beethoven, Brahms und Schumann sowie zahlreiche andere Werke des symphonischen Repertoires eingespielt.

Christoph von Dohnányi ist auch heute noch keineswegs von Altersweisheit beseelt, noch immer gleicht er dank seines messerscharfen Verstands zuweilen einem Agent Provocateur, etwa wenn er sich so explizit wie kaum ein anderer über die Originalklangbewegung auslässt. Obgleich er einräumt, einiges durch die historische Spielpraxis gelernt zu haben, glaubt er, dass diese Rückbesinnung auch zum Teil einem „Marktlücken“-Denken entspringt.

Und in seiner Begründung dafür blitzt in einem Interview mit Joachim Reiber wieder der „Bilderstürmer“ aus Frankfurter Zeiten in ihm auf: „Retrospektive kann nur interessant sein im Sinne der Gegenwart … Wenn man aus Geschichte lernen kann für heute – ja. Aber Geschichte wiederherstellen – nein!“

Doch auch bezüglich der modernen Musik hat er Unerwartetes zu vermelden. Obwohl er, durchaus berechtigt, als analytischer Vertreter seiner Zunft gilt und ihm dadurch auch der Ruf eines Dirigenten der Moderne vorauseilt, ist er unterdessen der Meinung, dass nach dem Zweiten Weltkrieg „nur sehr weniges geschrieben worden“ ist, wovon er glaubt, „dass es einen wirklich großen Bestandsfaktor beinhaltet, aber da kann man sich sehr irren“, wie er gegenüber Dieter David Scholz sagte. Dennoch ist er der Meinung, dass „heute … leider sehr wenig komponiert [wird], und noch weniger Großes“.

Anlässlich seines 85. Geburtstages antwortete er in einem Interview mit der „Presse“ auf die Frage, ob er seinen Beruf als „Altersjob“ empfände: „Wenn ich nicht immer wieder etwas Neues in der Musik entdeckte, würde ich nicht mehr dirigieren, dann hätte ich Besseres zu tun.“

FRAGEN AN CHRISTOPH VON DOHNÁNYI

Wenn Sie die Möglichkeit hätten, mit irgendeinem Komponisten, ob tot oder lebendig, einen Abend zu verbringen, mit wem wollten Sie sich treffen und was würden Sie ihn fragen?

Bach, um ihm dieselbe Frage zu stellen.

In welcher Zeit hätten Sie als Komponist am liebsten gelebt?

Ich kenne, oder glaube, sie ein bisschen zu kennen: in unserer Zeit.

Auf der Bühne entfernt man sich immer mehr vom Urtext, während man sich im Orchestergraben diesem immer mehr nähert. Wie beurteilen Sie diese Entwicklung?

„Urtext“ – meist doch nur Wörter oder Notenköpfe. Zwischen den Zeilen findet man den „Urtext“.

Seit dem 20. Jahrhundert besteht das Konzertprogramm zu 90 Prozent aus Musik schon längst verstorbener Komponisten. Worin liegt Ihrer Meinung nach die Begründung dafür?

Erstens stimmt das nur regional und zweitens: Geschäft, Geschäft, Geschäft …!

Es gibt immer mehr sehr gute Orchester und immer weniger herausragende Dirigenten. Woran liegt das?

Persönlichkeit ist die Sache.

Welche gesellschaftliche Aufgabe hat die Musik in der heutigen Zeit?

Die, die sie wohl immer hatte. Primär Unterhaltung, für wenige etwas anderes.

Wären Sie kein Dirigent geworden, welchen Beruf hätten Sie ergriffen?

Wenn man in einer Partnerschaft glücklich ist, fällt es schwer, über andere nachzudenken.

Welcher Dirigent ist Ihr Vorbild und warum?

Für jeweils anderes ein anderer.

Was war Ihr bewegendstes Musikerlebnis?

Das ist die Frage nach dem „schönsten“ Tag im Leben.

Was hören Sie in Ihrer Freizeit?

Kinder spielen und Flugzeuge, oder die Unterhaltungen der Fische im Aquarium.

Womit verbringen Sie am liebsten Ihre Freizeit?

Ich habe Höhenangst, also nicht beim Bergsteigen.

Sind Interpretationsschemata dem Zeitgeist unterworfen?

Ich möchte sagen: „hoffentlich“.

Welche Art von wissenschaftlicher Forschung würden Sie unterstützen?

Forschung, die zur Früherkennung von Krebsgeschwüren der Politik in der Geschichte der Menschheit führen könnte.

Würden Sie noch einmal geboren, was würden Sie anders machen? Vielleicht es diesmal in einer anderen Welt versuchen?

Welche drei Dinge würden Sie auf eine einsame Insel mitnehmen? Kommt darauf an, ob ich die Insel wieder verlassen dürfte. Wenn nicht, ginge ich gar nicht dorthin!

Welches Motto steht über Ihrem Leben?

Das weiß der Himmel.



DER ZAUBERLEHRLING

GUSTAVO DUDAMEL

* 26. Jänner 1981, Barquisimeto, Venezuela

Hollywood hätte eine solche Biografie nicht besser erfinden können.

In einem Entwicklungsland, dessen Bevölkerung zu einem großen Teil unter der Armutsgrenze lebt, ersinnt ein Musikwissenschaftler ein Programm, mit dem er die grassierende Gewalttätigkeit unter den Jugendlichen eindämmen will, indem er sie ein Instrument erlernen lässt, um sie von der Straße zu holen und deren soziales Bewusstsein durch das gemeinsame Musizieren zu stärken. Innerhalb dieses Systems wächst ein talentierter Geiger heran, der sich, gerade einmal zwölfjährig, unversehens als Leiter seines Orchesters wiederfindet, als der etatmäßige Dirigent kurzfristig verhindert ist und er dazu aufgefordert wird, ihn zu vertreten. Dabei wird sein außergewöhnliches Talent entdeckt, woraufhin er eine spektakuläre Blitzkarriere macht und binnen Kurzem die besten Orchester der Welt dirigiert.

Was auf den ersten Blick wie ein Märchen klingt, hat sich tatsächlich so ereignet. Der venezolanische Musikwissenschaftler Antonio Abreu fasste angesichts des grassierenden Elends in seinem Heimatland eines Tages den wagemutigen Plan, Kinder und Jugendliche mithilfe der klassischen Musik von der Straße zu holen und ihrem Leben damit eine Perspektive zu geben. Mit der Unterstützung von jungen Berufsmusikern gründete er 1975 ein völlig neuartiges Orchester – das Orquesta Sinfónica de la Juventud Venezolana Simón Bolívar. Damit wollte Abreu die Musik zur Bildung und seelischen und sozialen Stabilisierung von Heranwachsenden nutzen, indem die Musiker ihr Wissen an Kinder aus den ärmsten Verhältnissen weitergeben. Durch Ölreichtum zu Wohlstand gekommen, erklärte sich die Regierung dazu bereit, dieses Experiment zu unterstützen. So konnte Abreu das einmalige System der Kinder- und Jugendorchester realisieren, in dem die Heranwachsenden bereits mit zwei Jahren sechs Tage in der Woche Musikunterricht erhalten. Oft aus schwierigen Verhältnissen stammend, genießen die Kinder in den Musikschulen eine sichere und gewaltfreie Umgebung und werden dort mit Kleidern und Nahrung versorgt.

Tatsächlich entwickelte sich das sogenannte Sistema (Sistema de Orquestas Juveniles de Venezuela) zu einer weltweit beachteten Erfolgsgeschichte, das viele Kinder und Jugendliche zu begeisterten Musikern machte und dessen Konzept unterdessen auch in anderen Problemzonen der Welt mit Erfolg angewendet wird.

Aus diesem gingen bereits etliche Spitzenmusiker hervor, wobei Gustavo Dudamel sicherlich die spektakulärste Karriere machte. Nachdem er so überraschend zum Orchesterleiter aufgestiegen war, begann Dudamel 1996 sein Dirigierstudium bei Rodolfo Saglimbeni und trat noch in demselben Jahr sein erstes Amt als Musikdirektor des venezolanischen Amadeus-Kammerorchesters an. Mit gerade einmal 18 Jahren wurde er zum Chefdirigenten des staatlichen venezolanischen Jugendorchesters ernannt und setzte seine Dirigierstudien bei José Antonio Abreu fort. Mit 19 Jahren absolvierte er mit dem Orchester seine erste Deutschland-Tournee und debütierte mit ihm in der Berliner Philharmonie.

Aufgrund der Umstände erscheint die frühe Karriere des venezolanischen Talents geradezu märchenhaft und machte die ganze musikalische Welt auf das einzigartige Erziehungssystem seines Heimatlandes aufmerksam – und auf das singuläre Talent dieses jungen Dirigenten, der sich geradezu prototypisch als Galionsfigur einer neuen Dirigentengeneration eignet. Denn neben seinem außerordentlichen Talent sieht der junge Mann auch noch gut aus und besitzt die Fähigkeit, kraft seines südamerikanischen Temperaments die Massen zu Jubelstürmen hinzureißen und die Musiker gleichermaßen zu Höchstleistungen zu motivieren.

Die Grundlage seiner internationalen Karriere stellte der Gewinn des „Gustav-Mahler-Dirigentenwettbewerbs“ der Bamberger Symphoniker dar. Da war der Heißsporn gerade einmal 23 Jahre alt. Nach seinen Debüts mit dem Israel Philharmonic Orchestra, dem Orchestre Philharmonique de Radio France und dem London Philharmonia Orchestra im Jahre 2005 unterschrieb er bei der Deutschen Grammophon einen Exklusivvertrag, was ihn für alle großen Orchester interessant machte. Seitdem nahm der 2012 mit dem Grammy Award ausgezeichnete Dirigent zahlreiche CDs auf, unter anderem mit den Berliner und Wiener Philharmonikern, mit dem Simón Bolívar Symphony Orchestra of Venezuela und dem Los Angeles Philharmonic Orchestra sowie mit der Staatskapelle Berlin. Doch damit nicht genug: Gustavo Dudamel hat auch Komposition studiert und die Filmmusik zum Spielfilm Libertador geschrieben, der – wie könnte es auch anders sein – vom Leben des Volkshelden Simón Bolívar handelt.

Unterdessen hat er sich selbst zu einer Art Volksheld entwickelt, wovon zahlreiche Fernsehsendungen und die Dokumentation über ihn – Dudamel: Let the Children Play – zeugen, die in mehr als 500 Kinos in den Vereinigten Staaten gezeigt wurde. Die Auszeichnungen, die dem Ausnahmekünstler schon in jungen Jahren verliehen wurden, sind Legion. Bereits 2008 wurde dem Simón Bolívar Youth Orchestra der „Prinz-von-Asturien-Preis“ in der Kategorie Kunst zuerkannt, 2009 wurde er in Paris als Chevalier in den „Ordre des Arts et des Lettres“ aufgenommen, 2011 in die „Gramophone Hall of Fame“ und 2013 von Musical America zum „Künstler des Jahres“ ernannt. 2009 war er vom Time-Magazine in der Liste der 100 einflussreichsten Persönlichkeiten aufgeführt worden.

Dabei ging er seine Karriere für seine Verhältnisse geradezu behutsam an. Im Jahre 2007 übernahm Dudamel die Stelle des Chefdirigenten der Göteborger Symphoniker, wo er bis 2012 blieb. Im Jahre 2008 leitete er zum ersten Mal die Berliner Philharmoniker, zu denen er seitdem regelmäßig zurückkehrt. Er war sogar als Nachfolger Sir Simon Rattles als Chef dieses Paradeorchesters im Gespräch, entzog sich dieser Wahl aber durch seine vorzeitige Vertragsverlängerung beim Los Angeles Philharmonic Orchestra, als dessen Erster Musikdirektor er seit dem Jahr 2009 fungiert. Was auch folgerichtig schien, hatte ihm diese Stellung doch ermöglicht, in seinen Programmen eine besondere Vielfalt zu entwickeln – alleine 60 Werke erlebten in den ersten fünf Jahren seiner Ägide ihre Uraufführung, wovon er selbst 20 leitete. Eine solche Programmvielfalt wäre ihm als Chef des deutschen Nobelorchesters wohl kaum möglich gewesen. Zudem konnte er die Philosophie des Sistema auch in Kalifornien realisieren, wo er das Youth Orchestra Los Angeles (YOLA) initiierte, das regelmäßig Kinder aus prekären Verhältnissen aufnimmt und an Instrumenten ausbildet. Was wiederum als Vorbild für etliche andere Einrichtungen dieser Art in den Vereinigten Staaten, wie auch in einigen europäischen Ländern, in Schweden oder Schottland etwa, diente.

Denn Dudamel hat nie vergessen, woher er kam und wem er seine Karriere zu verdanken hat. Gemäß den Vorstellungen seines Mentors José Antonio Abreu will er die scheinbar elitäre klassische Musik allen Menschen zugänglich machen und möglichst viele Heranwachsende davon überzeugen, welch wichtige soziale Komponente das gemeinsame Musizieren beinhaltet. Er ist der festen Überzeugung, dass jeder Mensch Zugang zur Musik haben sollte. Diesem Grundsatz ist auch die Gründung der Gustavo Dudamel Foundation geschuldet, deren Ziel darin besteht, möglichst vielen Kindern – ungeachtet ihrer Herkunft – die Möglichkeit zu geben, Musik aktiv und passiv erleben zu können. Folgerichtig leitet Dudamel nach wie vor das Simón Bolívar Symphony Orchestra of Venezuela, mit dem er regelmäßig auf Reisen geht. Jedes Jahr verbringt er bis zu fünf Monate mit den Orchestern und den Kindern von El Sistema in seinem Heimatland. Die Idee, wie auch die Qualität des Simón-Bolívar-Jugendorchesters haben unterdessen auch Dirigentenstars wie Claudio Abbado, Daniel Barenboim und Sir Simon Rattle überzeugt, die allesamt schon mit ihm musiziert haben. Als Musikdirektor des Simón Bolívar Symphony Orchestra of Venezuela wacht Dudamel bis heute über die Qualität des Ergebnisses dieses einmaligen Erziehungsprojekts.

Nachdem er auf symphonischem Gebiet schon so großartige Erfolge verzeichnet hatte, wagte er sich 2015 erstmals auch in die großen europäischen Opernhäuser. Zwar hatte er schon 2006 mit Don Giovanni an der Mailänder Scala und 2007 mit Gaetano Donizettis L’elisir d’amore an der Berliner Staatsoper als Operndirigent debütiert, doch für eine Neueinstudierung nahm er sich noch ein wenig Zeit. Nach einer Bohème an der Mailänder Scala mit dem Simón Bolívar Symphony Orchestra im Jahre 2015 leitete er an der Berliner Staatsoper eine Neuproduktion von Mozarts Le nozze di Figaro. Im April 2016 gab er sein aufsehenerregendes Debüt an der Wiener Staatsoper mit einer Neuproduktion von Puccinis Turandot. Mit den Wiener Philharmonikern verbindet ihn ohnehin schon länger eine herzliche künstlerische Beziehung.

Wie anders ist es zu erklären, dass sie Dudamel als bislang jüngstem Dirigenten das renommierte Neujahrskonzert 2017 anvertrauten?

FRAGEN AN GUSTAVO DUDAMEL

Wenn Sie die Möglichkeit hätten, mit irgendeinem Komponisten, ob tot oder lebendig, einen Abend zu verbringen, mit wem wollten Sie sich treffen und was würden Sie ihn fragen?

Zweifellos mit Beethoven. Ich würde ihn fragen, welche Oper er als Nächstes geschrieben hätte. Fidelio ist so großartig, dass ich mich oft gefragt habe, was er wohl als Nächstes geschrieben hätte.

In welcher Zeit hätten Sie als Komponist am liebsten gelebt?

Ich bin sehr glücklich in der heutigen Zeit.

Auf der Bühne entfernt man sich immer mehr vom Urtext, während man sich im Orchestergraben diesem immer mehr nähert. Wie beurteilen Sie diese Entwicklung?

Die wesentlichste Aufgabe besteht in meinen Augen darin, den Intentionen des Komponisten mit Demut und Respekt zu begegnen. Natürlich ist es letztlich die Deutung, die den Werken Leben einhaucht und es für die heutige Zeit interessant macht. Ich begegne diesen Ideen stets mit großem Interesse und genieße es, mit verschiedenen Regisseuren zu arbeiten und ihre Gedanken zu teilen.

Seit dem 20. Jahrhundert besteht das Konzertprogramm zu 90 Prozent aus Musik schon längst verstorbener Komponisten. Worin liegt Ihrer Meinung nach die Begründung dafür?

Genau aus diesem Grund tun wir in Los Angeles alles dafür, um das zu ändern. Während meiner ersten sechs Jahre als Musikdirektor haben wir mehr Werke in Auftrag gegeben und aufgeführt als jemals zuvor in der 98-jährigen Geschichte des Orchesters. Im Mai 2016 etwa haben wir Arvo Pärts neues Werk „Greater Antiphones“ zur Uraufführung gebracht, sodass ich nun insgesamt 21 Kompositionen zur amerikanischen Erstaufführung oder Welturaufführung gebracht habe, ganz zu schweigen von den anderen Dirigenten meines Orchesters. Wir feiern die neue Musik – und auch wenn es schwer zu glauben ist, unsere Konzerte mit neuer Musik sind restlos ausverkauft!

Es gibt immer mehr sehr gute Orchester und immer weniger herausragende Dirigenten. Woran liegt das?

Ob ein Orchester außergewöhnlich oder nur mittelmäßig spielt, hängt davon ab, inwieweit sich der Dirigent in das Kollektiv einbringt. Taktschlagen ist die einfachste Übung – eine viel größere Rolle spielt die Psychologie, die weit über die Ausübung der Musik hinausgeht. Deshalb ist es so wichtig, dass junge Dirigenten nicht alleine die technische Seite des Handwerks lernen, sondern sich auch die Zeit dafür nehmen, in Ruhe ihre eigenen Gedanken zu entwickeln.

Welche gesellschaftliche Aufgabe hat die Musik in der heutigen Zeit?

Die klassische Musik ist heutzutage nicht mehr länger an ein bestimmtes Land oder an eine bestimmte Kultur gebunden. Sie ist global und universell zugleich. Genau das versuchen wir mit El Sistema in Venezuela zu zeigen, ungeachtet der Tatsache, dass wir dort den Zugang zur Musik für jeden ermöglicht haben. Dabei wollen wir keine Musiker heranzüchten. Wir wollen den Menschen die Möglichkeit geben, sich zu entwickeln und sich selbst zu verwirklichen. Unser Ziel ist es, etwas Gutes für jeden Einzelnen zu erreichen. Einen gemeinsamen Fortschritt also, mit dem Ziel, dass Kinder und Jugendliche den Großteil ihrer Zeit sinnvoll verbringen können. Dadurch werden ihre Emotionen in die richtige Richtung kanalisiert, nämlich auf die Suche nach der Schönheit. Die Kunst ist der wichtigste Teil unserer Erziehung, sie gibt uns die Möglichkeit, etwas Schönes zu schaffen. Die Zeit ist unser größtes Kapital und wir müssen sie nutzen, um unsere natürliche Sensibilität zu nutzen und uns zu besseren Menschen zu entwickeln.

Wären Sie kein Dirigent geworden, welchen Beruf hätten Sie ergriffen?

Da bin ich mir ganz sicher: Ich wäre Koch geworden! Ein ganz dicker Koch – denn meine zweite Leidenschaft ist kochen und essen. Sie können sich nicht vorstellen, wie viel Vergnügen mir gutes Essen bereitet!

Welcher Dirigent ist Ihr Vorbild und warum?

Das ist eine schwierige Frage: Karajan, Harnoncourt, Bernstein, Giulini und natürlich Claudio! Abbado war wie ein Vater zu mir und ich vermisse ihn schrecklich!

Was war Ihr bewegendstes Musikerlebnis?

Meine Inspiration, Motivation und Energie bekomme ich durch die Begeisterungsfähigkeit der Kinder in meinen musikalischen Projekten überall in der Welt. Manchmal fühle ich mich wie deren geistiger Vater.

Es erfüllt mich mit großem Stolz, wenn die jungen Menschen gemeinsam so viel Freude in der Musik erleben, und ich fühle mich davon so erfüllt, wenn ich in Caracas war.

Ich erinnere mich genau daran, als ich das erste Mal in einem Orchester spielte, an einem der letzten Pulte der zweiten Geigen in einem riesigen Orchester von ungefähr 300 Musikern und Maestro Abreu zu mir sagte: „Setz dich hin, erlebe die Erfahrung, höre zu und spiele.“ Und ich tat, wie mir geheißen. Glauben Sie mir, ich hatte keine Ahnung von den Noten, aber in diesem Klangmeer zu sitzen und zu spielen, als gäbe es kein Morgen … Ich spielte wie besessen. Dieser unbeschreibliche Moment von gemeinsamer Anstrengung, das war unglaublich inspirierend für mich.

Womit verbringen Sie am liebsten Ihre Freizeit?

Freizeit habe ich nicht viel, aber die verbringe ich am liebsten mit meiner Familie.

Was hören Sie in Ihrer Freizeit?

Alles. Ich bin mir nicht sicher, ob es irgendeine Musikrichtung gibt, die ich nicht in meiner Sammlung habe. Und wenn nicht, dann habe ich sie wahrscheinlich im Internet gefunden.

Sind Interpretationsschemata dem Zeitgeist unterworfen?

Absolut!

Welche Art von wissenschaftlicher Forschung würden Sie unterstützen?

Ich bin vom menschlichen Gehirn fasziniert: Es ist so komplex, wunderbar und geheimnisvoll.

Würden Sie noch einmal geboren, was würden Sie anders machen?

Nichts.

Welche drei Dinge würden Sie auf eine einsame Insel mitnehmen?

Ich benötige nichts außer der Liebe meines Lebens.

Welches Motto steht über Ihrem Leben?

„Keine Wirkung ist ohne Ursache. Und wir leben in der besten aller Welten.“

(Nach Voltaires „Candide“.)

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Дата выхода на Литрес:
22 декабря 2023
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266 стр. 45 иллюстраций
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9783990404249
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