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DER KOMPROMISSLOSE

BERTRAND DE BILLY

* 11. Jänner 1965, Paris

Der Beruf eines Dirigenten wurde Bertrand de Billy nicht in die Wiege gelegt.

Obwohl er sich bereits als Fünfjähriger vor dem heimischen Plattenspieler in Pose warf und das unsichtbare Orchester dirigierte, mit einem Buch in der Hand, das ihm als „Partitur“ diente. Allerdings nahmen seine Eltern, beide nicht eben musikbegeistert, dies nicht allzu ernst und taten es als Kinderei ab. Doch so leicht ließ sich der Filius nicht entmutigen. Er trat einem Chor bei, was er heute als die „beste musikalische Erfahrung“ seiner Kinderzeit bezeichnet. Als Instrument hatte er die Violine gewählt. Glücklicherweise hatte er eine ambitionierte Lehrerin gefunden, die ihn so weit ausbildete, dass er am „Conservatoire national“ in Paris studieren konnte. Zum Entsetzen seines Vaters, der ihm nach dem ersten Gespräch mit seiner Professorin beschied: „Es ist eine Katastrophe, du bist begabt!“ Doch dieser Schock hielt glücklicherweise nur kurz an – sein Talent wurde nun auch von zu Hause aus gefördert.

Nach dem Studium begann er seine professionelle Musikerkarriere als Geiger und Bratschist bei zwei kleineren Orchestern der französischen Hauptstadt. Doch schon nach kurzer Zeit genügte es ihm nicht mehr, seine musikalischen Vorstellungen innerhalb eines Kollektivs auszuleben. Kurzerhand stand er also auf und stellte sich 1986 vor sein Orchestre symphonique des Jeunes d’Île-de-France, wo er für die nächsten vier Jahre als Chefdirigent die gesamte symphonische Bandbreite von der Barockmusik bis zur Moderne durchmessen konnte. Die fehlende Erfahrung der jugendlichen Musiker wurde durch ihre Begeisterung aufgewogen. Die Erfolge, die de Billy mit seinem ambitionierten Ensemble feiern konnte, riefen schließlich sogar das Kulturministerium auf den Plan, das ihn vorlud und zur Zurückhaltung ermahnte, da er mit seinen Studenten so manchem professionellen Orchester den Rang ablaufe. Seine Reaktion auf diese Zurechtweisung war eindeutig: In einer Pariser Kirche führte er mit seinem Orchester triumphal das Verdi-Requiem auf.

Nach einer einjährigen Assistenz bei Philippe Entremont wurde er 1990 zum stellvertretenden Generalmusikdirektor des Pariser Orchestre Colonne ernannt. Weil ihn dies offensichtlich nicht ausfüllte, das Geigenspiel hatte er unterdessen gänzlich aufgegeben, gründete er in demselben Jahr mit der Académie de l’Île Saint-Louis sein eigenes Orchester, dem er bis 1994 vorstand.

Für viele überraschend zog de Billy 1993 in die deutsche Provinz um, wo er für die nächsten zwei Jahre als stellvertretender Generalmusikdirektor an das Anhaltinische Theater in Dessau ging, um sich intensiver mit der Oper auseinandersetzen zu können. Offensichtlich mit Erfolg, denn seine nun dynamisch ansteigende Karriere machte er vorerst an verschiedenen Opernbühnen. Nach seinem Debüt an der Wiener Volksoper im Jahre 1994 wurde de Billy 1996 für zwei Jahre als Erster Kapellmeister an dieses Haus berufen.

Zu diesem Zeitpunkt war er schon ein gefragter Dirigent, der an den größten Opernhäusern wirkte. Ob Londons Covent Garden, wo er 1995 debütierte, an der Pariser Opéra Bastille (Debüt 1996), den Staatsopern in Berlin (1996), Hamburg (1997) und München (1997) oder dem Théâtre de la Monnaie in Brüssel: Überall war de Billy ein gern gesehener Gast.

Ein weiterer Karriereschub setzte 1997 ein, als Placido Domingo einer Vorstellung von Ambroise Thomas’ Hamlet an der Wiener Volksoper beiwohnte. Denn der große Sänger, Leiter der Opernhäuser in Washington und Los Angeles, war von der Leistung des Dirigenten so angetan, dass er ihn spontan dazu einlud, Charles Gounods Roméo et Juliette in der Hauptstadt der Vereinigten Staaten einzustudieren. Was offensichtlich zu Domingos größter Zufriedenheit verlief, denn nach seinem beachtlichen Erfolg in Washington bat er den jungen Dirigenten, im darauffolgenden Jahr auch in Los Angeles zu dirigieren. Und zwar eine Carmen, in der er selbst den Don José singen sollte. Als weiteres Zeichen seines uneingeschränkten Vertrauens in die Fähigkeiten de Billys empfahl ihn der Tenor gleich noch an die Metropolitan Opera in New York, wo er, wiederum mit Roméo et Juliette, einen solchen Erfolg feierte, dass er seitdem regelmäßig an Amerikas berühmtestem Opernhaus gastiert.

Eine weitere Bewährungsprobe stand de Billy im Jahre 1999 bevor. Gerade war das Gran Teatro del Liceu in Barcelona nach einem Brand wiedereröffnet worden, als er dort zum Generalmusikdirektor ernannt wurde. Dafür hatte er sich viel vorgenommen. Innerhalb von fünf Jahren wollte er dem herabgewirtschafteten Opernhaus wieder zu altem Glanz verhelfen und vor allem das Orchester einer weitreichenden Reform unterziehen.

Als Grundlage für seine ehrgeizigen Pläne sollten die Werke Wagners und Mozarts dienen. Nach seiner Meinung bildet Mozart die Grundlage der Spielkultur, während Wagners Opern die technischen Herausforderungen beinhalten, die die Musiker zu ihrer Perfektionierung benötigen. Folgerichtig beinhalteten seine 16 Premieren, die er in fünf Jahren dirigierte, sämtliche große Mozart-Opern sowie einen viel beachteten Tristan und die Ring-Tetralogie.

Sein Ruf als außerordentlicher Operndirigent war inzwischen so weit gediehen, dass er im Jahr 2002 erstmals bei den Salzburger Festspielen mit gleich zwei Produktionen betraut wurde. Mit den Wiener Philharmonikern führte er Mozarts Zauberflöte auf, während er die konzertante Fassung von Gounods Roméo et Juliette mit dem Radio-Symphonieorchester Wien bestritt. Schließlich leitete er an der Wiener Staatsoper 2004 mit der französischen Fassung von Verdis Don Carlos in einer Inszenierung von Peter Konwitschny seine erste, heftig akklamierte Premiere. Dieser folgten die nicht minder erfolgreiche Premieren von Idomeneo (im Theater an der Wien) und Manon mit Anna Netrebko in der Titelrolle.

Doch gerade als man ihn als erstklassigen Operndirigenten anzusehen begann, übernahm de Billy im Jahre 2002 mit der Leitung des Radio-Symphonieorchesters Wien (RSO) wieder die Chefposition bei einem ausgesprochenen Konzertorchester. Dieser Klangkörper, ein bislang vor allem für seine Pflege der zeitgenössischen Musik bekanntes Ensemble, war zu jener Zeit ernsthaft in seiner Existenz bedroht. Doch de Billy ist nicht der Mann, der sich von solchen Problemen abschrecken lässt. Nach zwei Jahren intensiver Arbeit, in denen er die Qualität des Orchesters erheblich gesteigert hatte, und einem daraus resultierenden Erfolg bei Publikum und Kritik war die Krise so weit abgewendet, dass der Personalstand gehalten werden konnte. Sogar zu einem umjubelten Opernorchester hat er sein Orchester umgeformt, das seitdem regelmäßig im Theater an der Wien gastiert.

Ungeachtet der mächtigen Konkurrenz vor Ort hat sich das RSO unterdessen auch erfolgreich mit der Musik der Klassik und Romantik auseinandergesetzt und sich damit neue Hörerschichten erschlossen. Schließlich lautet einer von de Billys Leitsätzen, dass „ein Orchester, das nicht“ dazu fähig ist, „eine ordentliche Mozart-Symphonie“ zu spielen, auch „für eine Uraufführung nicht gut genug ist“, wie er in einem Interview mit „OehmsClassics“ betonte.

Denn er nimmt auch die Vorbehalte des Publikums gegen zeitgenössische Musik sehr ernst und überlegt sich Wege, wie man dem am besten begegnen kann. „Zunächst einmal muss es Spaß machen, auch den Musikern, denn dann ist das Neue nämlich kein Ghetto mehr … Dieses: ‚Man muss sich auskennen!‘, dieses Gefühl, dass man nicht dazugehört, weil man etwas nicht versteht, … das führt zu einem falschen Spezialistentum“, meinte er 2004 in einem Interview mit dem Magazin „Musikfreunde“.

Nachdem er 2010 die Leitung des Radio-Symphonieorchesters Wien aufgegeben hatte, die ihn nach eigener Aussage „viele Nerven“ gekostet hatte, strebte de Billy vorerst keine Chefposition mehr an und arbeitet unterdessen als erster Gastdirigent des Frankfurter Opern- und Museumsorchesters, des Orchestre de Chambre de Lausanne und seit 2014/2015 auch der Dresdner Philharmonie, neben seinen regelmäßigen Auftritten an den größten Opernhäusern der Welt.

Natürlich hat Bertrand de Billy sein Können auch schon mehrfach auf Tonträgern dokumentiert. Mit einigen seiner Projekte ist er sogar in das ureigenste Gebiet der Konkurrenz von der Staatsoper eingedrungen, indem er neben Eugen d’Alberts Tiefland mit einem jungen Sängerensemble auch sämtliche Da-Ponte-Opern von Mozart auf CD eingespielt hat.

Trotz aller Erfolge hält de Billy immer wieder an seinem Grundsatz fest, keine künstlerischen Kompromisse einzugehen, selbst wenn es seiner Karriere nicht förderlich ist. Diese Erfahrung musste schon Daniel Barenboim machen, als der Franzose im Jahre 2007 die Premiere von Jules Massenets Manon an der Berliner Staatsoper absagte, weil mit ihm nicht abgesprochene Kürzungen in der Partitur gemacht werden sollten. Aus demselben Grund legte er im Jahre 2014 die geplante Premiere von Lohengrin an der Wiener Staatsoper zurück, was sogar so weit führte, dass er unter der derzeitigen Direktion nicht mehr an diesem Haus auftreten will.

Eine solche Kompromisslosigkeit ist eben auch ein Charakteristikum eines großen Dirigenten.

FRAGEN AN BERTRAND DE BILLY

Wenn Sie die Möglichkeit hätten, mit irgendeinem Komponisten, ob tot oder lebendig, einen Abend zu verbringen, mit wem wollten Sie sich treffen und was würden Sie ihn fragen?

Sicher nicht Monteverdi, Bach oder Mozart, obwohl ich diese drei am meisten verehre. Aber die waren nicht von dieser Welt. Ohnehin glaube ich nicht, dass es einen großen Sinn hat, mit einem Komponisten über sein Werk zu sprechen, da er üblicherweise nicht viel darüber zu sagen hat. Als ich Henri Dutilleux getroffen habe, haben wir fast überhaupt nicht von seiner Musik gesprochen, sondern über so viele andere interessante Themen – das war wunderbar.

Am liebsten würde ich mit Berlioz zusammentreffen, weil er so eine umfassende Bildung besaß, und einfach mit ihm plaudern.

In welcher Zeit hätten Sie als Komponist am liebsten gelebt?

Sicherlich nicht heute, in der Zeit der verkrampften Suche nach neuen Klangeffekten. Wahrscheinlich in der Zeit von Brahms, Bruckner und Mahler, als die Formen sich völlig aufgelöst haben und so viele neue Richtungen entstanden sind.

Auf der Bühne entfernt man sich immer mehr vom Urtext, während man sich im Orchestergraben diesem immer mehr nähert. Wie beurteilen Sie diese Entwicklung?

Vor einiger Zeit ist die sogenannte „Wiener Fassung“ von Mozarts Don Giovanni herausgekommen. Die Kürzungen, die bei der damaligen Aufführung gemacht wurden, habe ich zwar sofort umgesetzt, doch teilweise wieder rückgängig gemacht, weil Mozart sie offensichtlich nur aus pragmatischen Gründen, etwa wegen einer schlechten Besetzung oder auch wegen der Zensur, gemacht hat. Meine Antwort lautet also: Ja zum Urtext, aber im Endeffekt muss der Dirigent entscheiden dürfen, was er umsetzt. Bei der Regie ist es ganz ähnlich. Solange die Regie die Musik nicht stört, ist alles möglich. Ich habe in Barcelona Don Giovanni mit Calixto Bieito gemacht. Obwohl es fürchterlich brutal war, hat es mich überzeugt. Ein Grundproblem von vielen heutigen Regisseuren liegt allerdings darin, dass sie überhaupt keine Kenntnis mehr von der Musik und dem Libretto haben, und mit denen lehne ich eine Zusammenarbeit ab.

Seit dem 20. Jahrhundert besteht das Konzertprogramm zu 90 Prozent aus Musik schon längst verstorbener Komponisten. Worin liegt Ihrer Meinung nach die Begründung dafür?

In erster Linie tragen wir daran die Schuld. Die wenigsten Dirigenten sind dazu bereit, ein neues Stück zu lernen. Und wie sollen wir das Publikum von der Qualität eines Stückes überzeugen, wenn wir es selbst nicht wollen. Es ist unsere Aufgabe UND PFLICHT als Dirigent, den Veranstaltern, den Musikern und dem Publikum zu zeigen, dass es auch gute zeitgenössische Musik gibt. Und das erfordert viel Mühe. Dabei ist die Angst vor der neuen Musik nicht angeboren. Als meine Frau „Donna Elvira“, Schönbergs Erwartung und Bergs Wozzeck gesungen hat, sang meine siebenjährige Tochter in der Badewanne alle drei Stücke mit der gleichen Begeisterung.

Es gibt immer mehr sehr gute Orchester und immer weniger herausragende Dirigenten. Woran liegt das?

Man braucht als Dirigent nicht gut zu sein, man muss nur besser sein als die anderen, was allerdings nicht unbedingt bedeutet, dass man gut ist. Einmal saß ich beim Dirigentenabschlusskonzert an der Wiener Musikuniversität – da war niemand, der einmal ein guter Dirigent werden wird! Niemand scheint mehr neugierig zu sein. Ich habe mit den jungen Leuten über die „Erste“ von Mahler geredet und nicht einer kannte die Aufnahme von Bruno Walter, der schließlich noch mit Mahler zusammengearbeitet hatte. Die Studenten hätten in Wien die Möglichkeit, alle großen Dirigenten bei der Probe zu erleben und mit ihnen zu sprechen, doch niemand geht hin. Das ist jedoch nicht nur in Wien so. Als ich vor 20 Jahren Georges Prêtre zum ersten Mal wegen einer Neueinstudierung der Perlenfischer traf, sagte er mir, dass ich der erste Student sei, der sich jemals bei ihm gemeldet hat.

Allerdings muss man auch sagen, dass mit Ausnahme von Daniel Barenboim die wenigsten Dirigenten ihre Verpflichtung erkennen, ihre Erfahrungen an die jungen Kollegen weiterzugeben.

Welche gesellschaftliche Aufgabe hat die Musik in der heutigen Zeit?

Das Ziel eines Konzerts sollte darin bestehen, im Publikum ein positives Gemeinschaftsgefühl zu erzeugen, das die Menschen einander näherbringt.

Wären Sie kein Dirigent geworden, welchen Beruf hätten Sie ergriffen?

Entwicklungshelfer.

Welcher Dirigent ist Ihr Vorbild und warum?

Daniel Barenboim, weil er nicht nur ein großer Musiker, sondern auch ein großer Geist ist. Toscanini wegen seiner Energie und rhythmischen Präsenz. Ebenso Fritz Reiner und Erich Kleiber, dessen Mozartaufnahmen auch heute noch ihre Gültigkeit haben. Der Grandseigneur Bruno Walter, weil man seine natürliche Autorität, die aus Wissen und Können resultierte, noch heute in seinen Aufnahmen spüren kann. Und so viele andere wie Klemperer, Mitropoulos, George Szell, Pierre Monteux, Charles Munch, Istvan Kertesz …

Was war Ihr bewegendstes Musikerlebnis?

Bachs h-Moll-Messe unter Carlo Maria Giulini in Paris. Er hat uns alle zwei Stunden lang in den Himmel geführt.

Womit verbringen Sie am liebsten Ihre Freizeit?

Mit meiner Familie.

Was hören Sie in Ihrer Freizeit?

Sehr viel Jazz und sicher niemals meine CDs! Zur Entspannung auch Gregorianik.

Wenn ich etwas Neues einstudiere, höre ich mir nach dem Studium sehr viele Aufnahmen davon an, aber im Moment gibt es keine Freizeit mehr.

Sind Interpretationsschemata dem Zeitgeist unterworfen?

Ja. Alles ist, sofern es überzeugend dargebracht wird, legitim, schließlich lebt man auch als Dirigent in seiner Zeit und wandelt sich zusammen mit ihr.

Welche Art von wissenschaftlicher Forschung würden Sie unterstützen?

Die Forschung nach alternativer Energie.

Würden Sie noch einmal geboren, was würden Sie anders machen?

(lacht) Nicht zunehmen! Mehr auf den Ausgleich zwischen Körper und Geist achten.

Welche drei Dinge würden Sie auf eine einsame Insel mitnehmen?

Meine Familie, Der kleine Prinz von Saint-Exupéry und eine Flasche Dom Pérignon 1996.

Welches Motto steht über Ihrem Leben?

Ernst bei der Sache, nicht allzu ernst bei sich selbst.



DER PROVOKATEUR

PIERRE BOULEZ

* 26. März 1925, Montbrison

† 5. Jänner 2016, Baden-Baden

Widersprüchlicher konnte ein Mensch kaum sein.

Bereits als 20-Jähriger hatte Pierre Boulez bei einem Pariser Strawinsky-Konzert lautstark gegen dessen „neoklassische Färbung“ protestiert, obwohl er ihn bis zuletzt als sein Vorbild bezeichnete – und dieser ihn wiederum als seinen legitimen Erben ansah. Als in den 1950er-Jahren die Wiederentdeckung von Schönberg einsetzte, proklamierte er kurzerhand, dass „Schönberg tot“ sei, weil er sich zu wenig radikal von den konventionellen Satzformen entfernt hätte – einige Jahre später führte er ihn exemplarisch auf. Die Kompositionen von Alban Berg bezeichnete er als Kitsch, um an anderer Stelle seine Liebe zu ihm einzugestehen.

Obwohl ihn Otto Klemperer als den Einzigen seiner Generation bezeichnet hat, der ein ausgezeichneter Dirigent und Musiker sei und er für seine zahllosen Aufnahmen unglaubliche 26 „Grammy Awards“ erhielt, betrachtete er sich nicht in erster Linie als Dirigent.

Niemals hätte man solche Widersprüchlichkeiten bei einem anderen Künstler hingenommen – Pierre Boulez war einer der wenigen Musiker, dessen Äußerungen in jedem Falle ernst genommen wurden. Denn er war schon zu Lebzeiten zu einer Institution geworden, wobei man anmerken sollte, dass er auch gleichzeitig als einer der führenden Komponisten unserer Zeit galt.

Allerdings zeitigten seine Äußerungen auch durchaus fatale Folgen. 1967 proklamierte Boulez in einem viel beachteten „Spiegel“-Interview, dass es am besten sei, „die Opernhäuser in die Luft zu sprengen“, was neben den üblichen Verwerfungen auf den Feuilletonseiten 34 Jahre später noch ein Nachspiel hatte, als er von einem Sonderkommando der Schweizer Polizei nächtens in seinem Basler Hotelzimmer überwältigt wurde, da er zu „Sprengstoffattentaten“ aufgerufen hätte … Die wackeren eidgenössischen Gesetzeshüter konnten natürlich nicht wissen, dass diese Äußerung grob aus dem Kontext gerissen war. Der Dirigent hatte damals lediglich die an Opern übliche Routine und ungenügende Vorbereitung bemängelt, der am „elegantesten“ auf diese Art zu begegnen sei. Pierre Boulez liebte es eben, Denkanstöße zu vermitteln. Schließlich hatte er zum Zeitpunkt dieses Aufrufs schon seine ersten großen Erfolge als Operndirigent gefeiert. Wieland Wagner hatte ihn überraschenderweise dazu eingeladen, 1966 den Parsifal in Bayreuth zu dirigieren. Das Wagnis gelang: Zwar brach der 38-Jährige bewusst mit allen Traditionen und entkleidete das „sanctum sanctorum Wagners“ von jeglicher Sentimentalität, doch durch die sachliche Annäherung geriet das Weihefestspiel in ein völlig neues, weil transparentes Licht. Nach diesem viel diskutieren Erfolg wurde Boulez zehn Jahre später damit beauftragt, zusammen mit dem Filmregisseur Patrice Chereau den Jahrhundert-Ring am Grünen Hügel zu gestalten. Die Rezeption durch das Publikum war für Boulez durchaus typisch: Gerieten die Aufführungen im ersten Jahr zum handfesten Skandal, endete die letzte Götterdämmerung vier Jahre später mit 101 Vorhängen und 90 Minuten Applaus, sodass er 2004 erneut zu einem Parsifal nach Bayreuth geladen wurde, wobei durchaus bemerkenswert war, dass er das Weihefestspiel im gleichen ungewöhnlich raschen Tempo durchmaß wie fast 40 Jahre zuvor. Das überrascht nicht, denn Boulez galt als ausgesprochen vernunftgesteuerter Dirigent. Selbst bei hoch emotionalen Werken, wie etwa Mahlers Symphonien, wirkte er niemals persönlich involviert. Mit der durchaus berechtigten Frage konfrontiert, ob er denn während einer Aufführung keine Empfindungen habe, antwortete er nur, dass er sehr wohl Emotionen habe, aber nicht verpflichtet sei, sie zu zeigen.

Wie viele seiner Kollegen wollte Boulez eigentlich Pianist werden. Schon mit sieben Jahren erhielt er seinen ersten Klavierunterricht. Nachdem er mit dem Besuch eines mehrjährigen Intensivkurses in Mathematik den Wünschen seines Vaters gefolgt war, wandte er sich 17-jährig endgültig der Musik zu, wurde aber „wegen Unfähigkeit“ nicht zum Klavierstudium am Pariser Konservatorium zugelassen. So studierte er dort eben Harmonielehre und Komposition bei Olivier Messiaen sowie Analyse und Komposition bei René Leibowitz, einem leidenschaftlichen Verfechter der reinen Zwölftonlehre. Dirigieren brachte er sich in erster Linie selbst bei.

Nach einem Intermezzo als Leiter, Arrangeur und Komponist der Bühnenmusik bei der Compagnie Renaud-Barrault trat er zunächst als Komponist in den Vordergrund. Zwar dirigierte er von 1953 bis 1957 die Konzerte des von ihm begründeten Domaine Musical und übernahm 1959 die Leitung der Donaueschinger Musiktage. Dass er schließlich doch häufiger dirigierte, lag einfach daran, dass er „es nicht mehr ertragen konnte, die Musik unserer Zeit schlecht interpretiert zu hören“, wie er in einem Zeitungsinterview sagte. Woraufhin ihm nichts anderes übrig blieb, als selbst Hand anzulegen. Auf einen Taktstock verzichtete er von Anfang an, weil man mit den Händen mehr ausdrücken könne als mit einem Holzstäbchen, das er mit einem Schwert verglich.

Das Schlüsselerlebnis, das ihn schließlich endgültig mit dem süßen Gift des Dirigierens infizieren sollte, hatte Boulez Ende der 1950er-Jahre in Donaueschingen, wo er Hans Rosbaud, den Leiter der dortigen Musiktage, kurzfristig bei einem Konzert mit Béla Bartóks Tanzpantomime Der wunderbare Mandarin ersetzen musste: „Ich war grässlich aufgeregt. Und dann habe ich den Mandarin ganz wild gemacht, so wild wie seitdem nie mehr. Es war ein großer Erfolg. Damit hat alles begonnen“, schilderte er weiter.

Nach einem Streit mit den Pariser Kulturbehörden zog er 1958 nach Baden-Baden um, wo ihn der Südwestfunk, der Heimat seines Mentors Hans Rosbaud, mit offenen Armen aufnahm und sich damit das Recht erwarb, alle Uraufführungen seiner Werke zu senden. 1963 sollte er kurzzeitig nach Paris zurückkehren, um dort mit Le Sacre du printemps im Konzertsaal und mit Wozzeck an der Oper Furore zu machen. Erst als der experimentierfreudige Wieland Wagner ihn schließlich nach Bayreuth berief, wurde er auch als Dirigent der Musik des 19. Jahrhunderts bekannt.

Zeit seines Lebens dirigierte Boulez nur Werke der Komponisten, die zu ihrer Zeit in die Zukunft verwiesen haben: Beethoven, Bruckner, Wagner, Mahler – den er als Bindeglied zwischen Wagner und der Wiener Schule ansah –, daneben Berlioz, den frühen Strawinsky, Bartók, Ravel, Debussy, Varèse, Messiaen und zahlreiche zeitgenössische Komponisten. Tschaikowsky hat er niemals dirigiert, Brahms betrachtete er als „bourgeois und selbstgefällig“, Prokofjew gar als „unbedeutendes Talent“, selbst Britten und Schostakowitsch lehnte er als „konservativ“ ab. Zwar gab er von 1967 bis 1972 als ständiger Gastdirigent regelmäßig Konzerte mit dem Cleveland Orchestra, dennoch sollte es noch einige Jahre dauern, bis er sich fest an ein Symphonieorchester band. 1969 verpflichtete sich Boulez als Chefdirigent des BBC Symphony Orchestra in London und wurde 1971 als Nachfolger des gänzlich anders gearteten Leonard Bernstein Musikdirektor des New York Philharmonic Orchestras, der er bis 1977 blieb. Danach beschränkte er sich wieder auf Gastdirigate und widmete seine restliche Zeit der Komposition und der Erforschung neuer Klänge.

1976 übernahm er in Paris die Präsidentschaft des neu gegründeten Ensembles InterContemporain (EIC) und des Institute de Recherche et de Coordination Acoustique-Musique (IRCAM), das sich der Forschung von neuer Musik widmete und dessen Leiter er bis 2002 blieb. Um den „verlorenen Sohn“ näher an sein Heimatland zu binden, wurde ihm vom französischen Staat ermöglicht, die Cité de la Musique in Paris zu gründen. Zugleich trat er eine Professur für technische Neuerungen und musikalischen Ausdruck am Collège de France an.

Im Jahre 2003 hatte Boulez seine Lehrtätigkeit wieder aufgenommen, übrigens aus einem ähnlichen Grund, aus dem er ursprünglich das Dirigieren begonnen hatte. An der Lucerne Festival Academy, die er begründete und dessen Leitung er innehatte, wurden junge Instrumentalisten ausschließlich in der Musik des 20. und 21. Jahrhunderts ausgebildet.

Obgleich er in den Jahren vor seinem Tod meinte, dass „wir“ – damit meinte er Karlheinz Stockhausen, Bruno Maderna und Luigi Nono, mit denen er die ehedem revolutionären Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik besucht hatte – „damals nicht weit genug gegangen“ sind, war Boulez im Alter besonnener geworden: „Ich bin unbedingt dafür, nach vorne zu schauen …, was nicht unbedingt heißt, dass man überall gleich Feuer legen muss“, meinte er in einem Interview. Allzu weit wollte er mit seiner Konzilianz dann doch nicht gehen. Der Provokateur aus Leidenschaft fügte an gleicher Stelle hinzu: „Ich liebe immer noch den Kampf, unter der Bedingung, dass mir der Gegner ebenbürtig ist.“

Und einen solchen hatte er bis zu seinem Tod nicht gefunden, denn wer wagt es schon, sich mit einer Institution anzulegen?

FRAGEN AN PIERRE BOULEZ

Wenn Sie die Möglichkeit hätten, mit irgendeinem Komponisten, ob tot oder lebendig, einen Abend zu verbringen, mit wem wollten Sie sich treffen und was würden Sie ihn fragen?

Lieber würde ich einen Schriftsteller oder Maler treffen. Das wäre für mich interessanter. Wenn ich etwa Monteverdi treffen würde, was könnte ich mit ihm besprechen?

In welcher Zeit hätten Sie als Komponist am liebsten gelebt?

In der Gegenwart.

Auf der Bühne entfernt man sich immer mehr vom Urtext, während man sich im Orchestergraben diesem immer mehr nähert. Wie beurteilen Sie diese Entwicklung?

Die Musik ist viel präziser als der Text, den man auf vielfältigere Art interpretieren kann. Als Regisseur hat man viel mehr Freiraum als ein Musiker. Wagner etwa hat die Handlung aus seiner Zeit heraus gesehen, während seine Musik außerhalb der Zeit steht.

Seit dem 20. Jahrhundert besteht das Konzertprogramm zu 90 Prozent aus Musik schon längst verstorbener Komponisten. Worin liegt Ihrer Meinung nach die Begründung dafür?

Dieses Problem herrscht schon eine lange Zeit. Schon Berlioz hat in seinen Memoiren beklagt, dass in Paris immer derselbe Beethoven und dieselben Werke von konservativen Komponisten gespielt würden, weil man gegenüber den Neuigkeiten nicht aufgeschlossen war. Bereits im 19. Jahrhundert hat man wegen des historischen Bewusstseins viel mehr Musik der Vergangenheit gespielt, weil die gegenwärtige Musik so individuell geworden war. Es gab schon immer einen Abstand zwischen dem neu Geschaffenen und dem bereits Akzeptierten. Das ist dasselbe wie in der Malerei. Die Impressionisten etwa, die heute überall gefeiert werden, waren in ihrer Zeit keineswegs angesehen.

Es gibt immer mehr sehr gute Orchester und immer weniger herausragende Dirigenten. Woran liegt das?

Das ist eine Frage der Persönlichkeiten – und der Genetik.

Welche gesellschaftliche Aufgabe hat die Musik in der heutigen Zeit?

Die Musik hatte bis zu Mozarts Zeiten, in der Kirche wie auch in der Gesellschaft, die Aufgabe der Unterhaltung. Jetzt ist sie leider eine elitäre Kultur geworden, die für viele nicht notwendig ist. Das liegt an der Erziehung, bei der die Kultur immer mehr vernachlässigt wird. Zudem hat die Kirche keinen Einfluss mehr auf die Musikkultur, wodurch diese nur mehr für eine Konzertgesellschaft relevant ist, die nur eine kleine Gruppe im Vergleich zur Bevölkerung bildet. Deshalb sollte man sich viel mehr um die kulturelle Erziehung kümmern, damit unsere Nachfahren erkennen können, wie wichtig die Kultur für das Leben ist.

Wären Sie kein Dirigent geworden, welchen Beruf hätten Sie ergriffen?

Keinen, weil ich keine andere Begabung habe.

Welcher Dirigent ist Ihr Vorbild und warum?

Es gibt kein Dirigentenvorbild für mich. Ich bin ja ziemlich spät zum Dirigieren gekommen, und als ich jung war und eigentlich bis heute, steht für mich im Konzert nicht der Dirigent im Vordergrund, sondern das Werk.

Was war Ihr bewegendstes Musikerlebnis?

Es sind immer die Jugenderlebnisse, die wichtig sind, weil man zum ersten Mal etwas Bestimmtes gehört hat. Ich bin in einer kleinen Stadt aufgewachsen, wo es kein Orchester gab. Erst als Student habe ich zum ersten Mal ein Orchesterkonzert erlebt, was ein großes Erlebnis war. Auch meine ersten Opern, die ich gehört habe, Die Meistersinger von Nürnberg und Boris Godunow, waren für mich eine ganz neue Welt. Diese ersten Eindrücke sind unwiederholbar.

Womit verbringen Sie am liebsten Ihre Freizeit?

Mit Dingen, bei denen ich mich geistig erfrische: Ich gehe spazieren, lese oder gehe in Ausstellungen.

Was hören Sie in Ihrer Freizeit?

Nichts.

Sind Interpretationsschemata dem Zeitgeist unterworfen?

Sicher. Wenn man etwa Furtwänglers Beethoven-Interpretationen hört, bemerkt man sehr stark den Einfluss von Wagner. Wenn man heutige Aufnahmen damit vergleicht, die von der Erfahrung mit der Barockmusik gekennzeichnet sind, ist das ein ganz anderer Gesichtspunkt. Wobei beides legitim ist. Es gibt für mich keine Authentizität. Das ist reine Fantasie.

Welche Art von wissenschaftlicher Forschung würden Sie unterstützen?

Jede Forschung, die nicht dem Kriege dient, obwohl unsere Kultur sehr oft davon profitiert hat. All die Fortschritte, die nach dem Krieg in der Wissenschaft gemacht wurden, waren zuerst für diesen entwickelt.

Würden Sie noch einmal geboren, was würden Sie anders machen?

Nichts. Vielleicht würde ich die Zeit zwischen Komponieren und Dirigieren besser aufteilen.

Welche drei Dinge würden Sie auf eine einsame Insel mitnehmen?

Nur Notenpapier. Um in Ruhe zu komponieren.

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Дата выхода на Литрес:
22 декабря 2023
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266 стр. 45 иллюстраций
ISBN:
9783990404249
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