Читать книгу: «Leirichs Zögern», страница 4

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Später ging ich in die Küche und holte mir ein Bier aus dem Kühlschrank. Ich stellte es auf die Anrichte und suchte nach dem Öffner. Ich sah meinen Vater vor mir, der sein Abendessen gern an der Kredenz stehend eingenommen hatte. Ich sah mich auf der Eckbank in der Wohnküche unseres Hauses sitzen, wie ich den Vater betrachtete, der jausnend an der Anrichte stand. Mit dem Alter war er langsam und bedächtig geworden, er war schnell gealtert, nicht vergleichbar mit den fitten und aktiven Senioren von heute.

Ich erinnerte mich daran, wie ich mich um ihn bemüht hatte, als ich etwa zwanzig Jahre alt gewesen war. Vater hatte sich in sich verkrochen, war einsilbig geworden. Judith gegenüber hatte er einmal angedeutet, dass er sich einsam fühlte. Wahrscheinlich hätte heute ein Arzt eine Depression diagnostiziert und ihm Stimmungsaufheller verschrieben. Ich studierte in Wien und war selten zu Hause, mein Freundeskreis bestand ausschließlich aus Studenten, daheim fehlte mir der Anschluss an Gleichaltrige. Judith lebte bei Vater daheim, sie war bereits befreundet mit einem Mann, mit dem sie später ein paar Jahre zusammenwohnte. Sie verbrachte ihre Zeit oben in ihrem Zimmer, Vater hauste in der Küche. Dennoch war sie aber am meisten von uns in unsägliche Kämpfe mit ihm verwickelt, seinen Launen, seinen gelegentlichen jähen Ausbrüchen ausgeliefert.

Wenn ich nach Hause kam, versuchte ich, mit ihm ins Gespräch zu kommen. Ich spürte, dass den Vater am Ende seines Lebens etwas bedrückte. Etwas, das man wohl die Summe seines Schicksals nennen konnte. Natürlich brachte ich seine Niedergeschlagenheit oft mit dem frühen Tod seiner Frauen in Zusammenhang. Der junge Mann, der ich war, wollte seinem Vater nahekommen. Beim Kartenspielen war er manchmal aus der Reserve zu locken. Während wir spielten, begann ich Fragen zu stellen. Über seine Jugend, über seine Erfahrungen im Krieg. Gelegentlich legte ich meinem Vater, der immer auch geschichtlich interessiert gewesen war, obwohl er keine höhere Schulbildung erhalten hatte, ein Buch auf den Tisch. So hatte er etwa die Erinnerungen von Simon Wiesenthal gelesen, ich hatte ihm, der im Krieg als Sanitäter gedient hatte, Die Prüfung von Willi Bredel, Anna Seghers’ Das siebte Kreuz und Feuchtwangers Die Geschwister Oppermann zu lesen gegeben.

Wir spielten Karten und ich stellte Fragen und versuchte, etwas aus dem Vater herauszubekommen. Ohne zu wissen, wie das ging, bemühte ich mich, seine Stimmung aufzuhellen. Einmal während der Weihnachtsferien – an der Universität war ich gerade mit der Methode der Oral History vertraut gemacht worden – schlug ich ihm vor, ihn über seine Lebensgeschichte zu befragen. Ich stellte einen Kassettenrekorder auf und bat den Vater zu einem Interview. Das erste Interview hatte vielleicht eine Dreiviertelstunde gedauert. Dann hatte es eine Unterbrechung gegeben. Wir hatten eine Fortsetzung vereinbart, zu der es nie gekommen war.

Aus nicht geklärten Gründen hatte sich die Kassette dann zu denen gesellt, mit denen ich Musik aus dem Radio, Jazzsendungen des Bayerischen Rundfunks und des ORF, aufnahm. Unglücklicherweise und unbedacht hatte ich später ausgerechnet das Interview mit dem Vater fast zur Gänze gelöscht. Geblieben waren bloß die letzten Minuten vor der Unterbrechung. An dieses verbliebene Aufnahmefragment mit meinem Vater musste ich denken, als ich durch die Wohnung ging. Irgendwo in einer Kiste, irgendwo in einem Regal, musste diese Kassette liegen, eine der wenigen Tonaufnahmen, auf der die Stimme des Vaters gespeichert war. Heute war auf den Festplatten der Welt alles aus dem Leben einer Familie tausendfach festgehalten, von der Wiege bis zur Bahre. Aus dem Leben des Vaters existierten ein paar wenige Fotos aus einem Kriegslazarett, aber keine einzige Aufnahme aus der Kindheit, und nur ein paar wenige Fotos aus der Zeit mit seinen Frauen.

Ich zog ein paar Schubläden aus den Schränken und begann plötzlich, diese Aufnahme zu suchen. Mir war damals wahrscheinlich nicht ganz klar gewesen, warum ich den Vater befragen wollte. Vielleicht wollte ich nur ein Tondokument sichern. Vielleicht trug ich eine Ahnung eines Familiengeheimnisses in mir, vielleicht hoffte ich, der Vater, der in seinen letzten Jahren traurig wirkte und sich mit Rotwein abdämpfte, würde sich mir öffnen oder ich könnte durch meine Befragung für ihn eine Tür zu dem Raum aufstoßen, in dem er sich lebendig fühlte. Ich als Sohn hatte die wahnwitzige Vorstellung gehabt, meinem Vater helfen zu können. Die Kassette fand sich nicht, in einer Lade fiel mir aber ein zusammengefalteter Packen Papier in die Hand, den ich jahrzehntelang nicht beachtet hatte.

Anlässlich seiner Pensionierung hatte der Vater sich von den Bewohnern der Gemeinde, in der er als Sekretär und also rechte Hand von zwei Bürgermeistern fast dreißig Jahre lang tätig gewesen war, mit einer persönlichen Lebensskizze verabschiedet, die er an jeden Haushalt verschickt hatte. Ich war damals gerade frisch an die Universität gekommen und hatte die Pensionierung meines Vaters nur nebenbei miterlebt und auch nicht begriffen, welche Rolle dieser Einschnitt in seinem Leben gespielt hatte. Seinen Lebenslauf hatte ich damals eher beiläufig gelesen, aber wenigstens nicht weggeworfen, sondern in irgendeine Lade gesteckt. Diese Biografie war bis zum heutigen Tag eines der wenigen Dokumente, die mich direkt an ihn erinnerten.

Nach vielen Jahren nahm ich nun Vaters Lebenserinnerungen wieder in die Hand und begann zu lesen. Seine sechzehnseitige Broschüre war gestaltet wie das Informationsblatt, das damals in der Zeit vor Computerprogrammen und Druckern regelmäßig an die Bewohner der Gemeinde ausgesandt wurde. Die Blätter waren auf Matritzen abgezogen worden. Die Abzugmaschine dazu stand in einer Ecke des Amtsraumes. Auf dem Fensterbrett im Amtsraum, mit Blick in den Garten hinter dem Gemeindeamt, war ich als Kind oft gesessen und hatte dort in Büchern geschmökert. Der Platz hinter der Abzugmaschine war für mich der ideale Ort für Lesenachmittage. Dort verschlang ich meine ersten Karl-May-Romane. Nebenbei verrichteten die Kollegen meines Vaters ihre Arbeit. Ich saß also in einem öffentlichen Amtsraum.

Der Vater richtete sich mit seiner Lebensskizze an alle Gemeindebewohnerinnen, nannte zuerst die Frauen, dann die Männer und sprach ausdrücklich auch die Jugend und die Kinder an. Die ersten Sätze dieser Skizze lauteten: Wie allgemein bereits bekannt ist, werde ich mit 1. Juli 1980 in den dauernden Ruhestand gehen. Aus diesem Anlass erlaube ich mir, Euch allen eine kleine Biografie von mir zu widmen.

Der Vater hatte seine Aufzeichnung in mehrere kleine Unterkapitel unterteilt, von denen das erste mit Die Kinderzeit! überschrieben war. Manche Details seines Lebens waren auch mir neu, oder ich hatte sie vergessen oder nicht beachtet, weil sie mir unbedeutend erschienen waren.

Mein Vater war als neuntes Kind einer armen Kleinhäuslerfamilie, so wörtlich, am 5. Jänner 1920 geboren worden. Augenblicklich begann ich mich meiner Onkel und Tanten väterlicherseits zu erinnern, ich kam einschließlich meines Vaters auf sieben Kinder, die ich gekannt hatte und von denen heute niemand mehr am Leben war. Zwei Geschwister meines Vaters mussten also als Kleinkinder oder als Kinder sehr früh gestorben sein, der Vater erwähnte sie in seiner Skizze nicht einmal. Auf nicht mehr als einer halben Textseite beschrieb er seine ersten Lebensjahre, deutete die politische Situation der Nachkriegsjahre an – die Monarchie war aufgelöst, 1920 trat eine totale Geldentwertung ein, die Gemeinden zwang, Notgeld zu drucken. Der Vater summierte: In dieser schweren und harten Zeit wuchs ich auf und kannte nichts als ein hartes, karges Leben.

Ein einziges seiner Geschwister erwähnte der Vater in diesem ersten Kapitel nach einem Hinweis, dass es damals noch keine gesunde Kinderernährung gab und viele Kinder früh an Krankheiten starben. Es war der Satz, an dem ich hängen blieb: Es ergab sich, dass ich und mein älterer Bruder diese Zeit überdauerten.

Und dann, ein paar Zeilen später die Anmerkung: Uns beiden Brüdern wurde das Los zuteil, dass wir schon vor der Schulpflicht zu Bauern in der Nachbarschaft Viehhüten und Ochsenweisen gehen mussten.

Formulierungen waren das, die völlig aus der Zeit gefallen anmuteten. Der Historiker in mir versuchte, den Text analytisch zu verstehen. In einer Zeit, in der die Autonomie des Subjekts und die Wahlfreiheit des Individuums betont wurde, in der wir selbstverständlich von der freien Wahl von Partnern, Beruf, Wohnort ausgingen, in der einem jungen Menschen von heute mindestens der ganze Schengenraum offen stand, in einer Zeit, in der viel von Ich-AGs die Rede und eine ständige Selbstoptimierung in den Medien angesagt war, hörten sich die Sätze des Vaters, vor gut fünfunddreißig Jahren geschrieben, seltsam an. Da resümierte ein Mensch, der vor beinahe hundert Jahren geboren worden war, die Tatsache seiner Geburt und Existenz mit einer lapidaren Wortwahl, die mich an die biblische Weihnachtsgeschichte denken ließ: Es ergab sich, dass ich und mein älterer Bruder diese Zeit überdauerten. Nicht erlebten. Nicht überlebten. Überdauerten. Wie bewusst hatte der Vater damals diese Formulierung gewählt und was verbarg sich für ihn dahinter? (Zeitlebens hatte der Vater Texte verfasst, berufsbedingt, Amtsschreiben, Protokolle, Niederschriften, aber auch aus Neigung, Gedichte, literarische Gebrauchstexte, Sketche, und über Jahrzehnte auch Berichte über das lokale Geschehen für mehrere regionale Zeitungen.) Wie überdauerte man eine Zeit, die die Kindheit war?

Wie viel Unfreiheit steckte in dieser Formulierung, wie viel Gefühl von in die Welt geworfen sein aus Zufall? Glück? Schicksal? Fügung?

Wenige Zeilen später dann der Hinweis, dass ihm das Los zuteil wurde.

Zum Leben wurde man eingeteilt, schon als Kind. Als noch nicht schulpflichtiges Kind zur Arbeit verpflichtet. Keine behütete Kindheit. Keine Wahlfreiheit. Nichts anderes gekannt. Das Leben, ein Los. Dieses Los wurde einem zugeteilt.

Ich mochte nicht an eine zufällige Formulierung glauben. In Sätzen steckt Obrigkeit, heißt es in einem Buch von Handke. Die Obrigkeiten dieses Lebens in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts waren eine autoritäre Gesellschaft, ein strenger Vater, die Enge einer dörflichen Gemeinschaft und die rigiden Vorschriften der Kirche.

Beim Lesen seiner Zeilen hatte ich das Gefühl, diesem Kind nahe zu kommen, das mein Vater vor fast hundert Jahren gewesen war. Hanna fiel mir ein, die, vielleicht war sie fünf Jahre alt gewesen, einmal um mich herumgestrichen war und mich dann aus ihren blauen Augen groß angeschaut hatte: Papa, es ist eigentlich komisch, dass es uns gibt. Ich war Zeuge eines ersten philosophischen Anfalls geworden, bei dem Hanna, die unter ganz anderen Bedingungen als ihr Großvater aufgewachsen war, über ihr Leben, über die Realität ihrer puren Existenz nachgedacht hatte.

Ihr, die ihren Opa nur vom Hörensagen kannte, hatte ich damals die Geschichte seiner Errettung durch einen Kameraden im Krieg erzählt, die für mich und meine Geschwister immer eine Ursprungsgeschichte unserer Familie gewesen war. Am 22. Juni 1941, gleich am ersten Tag des Russlandfeldzuges, war unser Vater schwer verwundet worden. Ein Unterarzt, der ihn notdürftig erstversorgt hatte, starb wenig später neben ihm im Schützengraben. Nach einer kurzen Bewusstlosigkeit, war der Vater wieder aufgewacht. Er hatte bereits russische Infanteristen über einen Wiesenhang laufen gesehen, sich aber wegen seiner schweren Verwundung nicht bewegen können. Auch der Satz stand in seinem Lebensbericht: Wie durch ein Wunder wurde ich gerettet. Ein Kompaniesanitäter aus Freistadt, den mein Vater von der Sanitätsausbildung her kannte, entdeckte den Verwundeten und organisierte den Abtransport. Der Vater wurde in eine Zeltplane eingepackt, an ein Geschützrohr gehängt und aus dem Gefahrengebiet herausgebracht. Die Episode gehörte für uns Kinder zu den wenigen Kriegserinnerungen, die er uns öfter erzählt hatte. Der Freistädter Gendarm war dabei vom Vater immer als sein Lebensretter tituliert worden. Ich glaube, dass der Vater nach dem Krieg viele Jahre Kontakt zu dem Mann pflegte, der in Freistadt bis zu seiner Pensionierung bei der Gendarmerie beschäftigt gewesen war.

Auch für Hanna erzählte ich die Geschichte mit einer Frage am Ende: Was wäre geschehen, wenn dein Großvater, also mein Vater, damals nicht gerettet worden wäre?

Mein Vater hatte die harten Jahre seiner Kindheit überdauert und den Krieg überlebt. Nur deshalb konnte ich Jahre später vor seiner Skizze sitzen, um sie zu lesen.

3

Anderntags saß ich erstmals im Einführungsproseminar vor neunzehn Erstsemestrigen, die vor wenigen Monaten noch Mittelschüler gewesen waren und Maturaarbeiten verfasst hatten. Pickelige, junge, hochgewachsene Burschen, junge Mädchen schauten mich an. Mein Proseminar mussten alle Anfänger in Geschichte absolvieren, ich vermittelte die Grundlagen, legte ein paar Überlegungen zum Geschichtsstudium dar, klärte die wichtigsten Begriffe. Was war eine Quelle, was ein Artefakt? Vor allem aber sollte ich ihnen handwerkliche Grundlagen beibringen. Wie erstellte man ein Exzerpt, wie orientierte man sich in der Bibliothek, wie funktionierte richtiges Bibliografieren, wie formulierte man das Erkenntnisinteresse für eine Arbeit? Während des Semesters forderte ich eine Rezension eines historischen Fachbuches, um zu sehen, wie weit die Studenten sich sprachlich ausdrücken konnten und wie weit sie in der Lage waren, komplexe Texte zu verstehen. Am Ende des Semesters stand eine kurze schriftliche Arbeit, in der der Umgang mit Fachliteratur belegt werden sollte. Der Zeitraum von einem Semester war für so ein Programm natürlich lächerlich kurz.

Jede wissenschaftliche Beschäftigung mit Geschichte beginne mit einer Frage, so begann ich meinen Kurs. Durch Quellen belegte historische Tatsachen müssten in einen Sinnzusammenhang gestellt werden, in dem sie interpretiert und ausgelegt würden. Geschichtsschreibung war ein Konstrukt, um historische Abschnitte zeitlich zu gliedern. Natürlich existierten historisch eindeutige Daten: So war man sich einig darüber, wann der Zweite Weltkrieg begonnen hatte. Mit welchem Ereignis aber hatte das Spätmittelalter begonnen? Wann hatte der Minnesang geendet? Hatten sich am Silvesterabend des Jahres 1249 die Minnesänger zusammengesetzt und beschlossen, dass ab dem nächsten Tag der Meistersang begann?

Meine Frage, als Pointe beabsichtigt, hatte meistens ein paar Lacher zur Folge gehabt. Heute blieb die Runde stumm, ich kam mir vor wie ein Komiker, der einen Gag in den Sand gesetzt hatte. Jeder Kurs war anders, ich musste schnell herausbekommen, wie die Gruppe tickte. Der Geschichtsunterricht an den Mittelschulen war je nach Schultyp doch sehr dürftig ausgefallen, auch musste ich immer damit rechnen, dass ein paar Studierende aus Versehen und irrtümlich in meiner Lehrveranstaltung saßen. Nach ein paar Wochen Herumirren hatten die Irrenden ausgeirrt und ich sah sie nie mehr wieder. Manche verschwanden aus meinen Augen, ohne dass ich je ein persönliches Wort mit ihnen gewechselt hatte.

In einer Vorstellrunde fragte ich die jungen Leute, was sie motiviert hatte, Geschichte als Studienfach zu wählen. Ich ging die Runde der Reihe nach durch, notierte mir die Namen, machte ein paar Stichworte zu den einzelnen Teilnehmern, registrierte die, die mir selbstsicher erschienen, und die, die ich kaum verstand, weil sie so leise sprachen. Morgen würde ich ein Geschäft aufsuchen, um letzte Feinjustierungen an mir angepassten Hörgeräten vornehmen zu lassen.

Ich wusste nicht, wie viele solcher Vorstellrunden ich bisher schon absolviert hatte. Dann und wann hatte sich ein Student als Talent und wissbegieriger und findiger Forscher herausgestellt. Die wenigsten waren allerdings für die Akribie einer forschenden Tätigkeit begabt genug, die meisten, die ich um mich sitzen sah, wünschten eine Berufslizenz für eine Beschäftigung zu erwerben, die ihnen geläufig war: sie hatten schließlich als SchülerInnen mindestens zwölf Jahre lang mit Lehrern zu tun gehabt. Selten spürte ich bei einem der Anfänger das Feuer der Neugier und der Wissbegierigkeit, das mich als Student erfasst hatte. Zu meiner Zeit war es leichter gewesen, den eigenen Spleens und Interessen nachzugehen. Mehrere Professoren hatten mir eine gewisse Narrenfreiheit gelassen, ohne die ich mir eine forschende Tätigkeit nicht vorstellen kann. Schon bald war ich damals im Großformatmagazin der Nationalbibliothek gesessen und hatte mich durch die publizistische Zeitgeschichte der Nachkriegszeit geblättert. Diese Beschäftigung hatte mich das ganze Studium hindurch bis zur Dissertation begleitet.

Manche waren durch die Persönlichkeit eines Lehrers, einer Lehrerin animiert worden zum Studium, einige hatten eine Fachbereichsarbeit im Fach Geschichte geschrieben. Einer erzählte von einem Interview, das er mit seinem Großvater geführt hatte, der als Kind mit seiner Familie aus dem Sudetenland geflohen war. Wenn stimmte, was ich gelesen hatte, besaß mindestens jeder dritte in unserem Bundesland einen Migrationshintergrund, wobei vor allem die Migration nach dem Zweiten Weltkrieg gemeint war. Studenten der Gastarbeitergeneration oder gar der jüngeren Einwanderergeneration waren kaum unter meinen Hörern. Es gab sie, ihre Zahl war aber klein. Und wenn stimmte, dass beinahe jeder zweite der Jugendlichen bei der letzten Bundespräsidentenwahl den Kandidaten der freiheitlichen Partei gewählt hatte, musste es wohl eine erstaunliche Schnittmenge derer geben, die sowohl einen Migrationshintergrund in ihren Familiengeschichten als auch eine Partei gewählt hatten, die sich vehement gegen die Zuwanderung von Flüchtlingen, viele davon aus einem Kriegsgebiet, aussprach. Dass die Studentenschaft aus überwiegend linken kritischen Geistern bestand, wie es zu meiner Zeit gewesen war, konnte heute ausgeschlossen werden. Ich nahm mir vor, so vorurteilsfrei wie möglich an die Studierenden heranzugehen, aber es fiel mir von Jahr zu Jahr schwerer. Die Routine des Berufes wirkte einerseits wie eine Neugierdsbremse, andererseits auch wie ein Schutzschild.

Dann war die Vorstellungsrunde vorbei, es hatte keine peinlichen Ausreißer gegeben. Ich erinnerte mich, dass vor zwei Jahren jemand das Interesse für Geschichte mit seinem Interesse für Harry Potter und andere Fantasy-Romane begründet hatte. Harry-Potter-Leser saßen inzwischen auch in allen möglichen Fächern: in der Germanistik, in der Anglistik sowieso.

Ich gab den Studierenden einige Überlegungen mit nach Hause: Was würden Sie sagen? Hat Ihre persönliche Geschichte mit Ihrer Geburt oder bereits mit der Ihrer Vorfahren begonnen? Kurz wurde ich ein wenig persönlich: Meine Großeltern mütterlicherseits habe ich noch als Kind kennengelernt, als mir uralt erscheinende Menschen, schwerhörig, alt, verbraucht, abgerackert, verkalkt, sagte ich. Aber die Großeltern väterlicherseits waren schon tot, ehe ich geboren wurde. Ich wusste lange nicht einmal, wann genau sie geboren worden waren. Und doch würde ich heute nicht vor Ihnen sitzen, wenn es sie nicht gegeben hätte.

Wann begann also eine individuelle Lebensgeschichte? Spannende Frage, sagte ich. Ich freue mich, wenn Sie sich für solche Fragen interessieren und wir uns gemeinsam Antworten darauf überlegen können. Mit diesem Satz schloss ich die erste Sitzung. Lectio prima brevis esto, die erste Vorlesung sei kurz, sagte ich, einen meiner Professoren aus der Mittelschulzeit zitierend.

Im Pausenraum traf ich Gabriele, die zielsicher auf mich zuging. Wir unterhielten uns mit gedämpften Stimmen, es musste nicht der gesamte Raum mithören, was wir besprachen. Wie geht es dir, fragte ich. Man lebt, sagte sie, aber möglicherweise ist mir das zu wenig. Sie blickte mir fest und direkt in die Augen. Für einen Moment entstand eine Verbindung zwischen uns oder konstruierte sich wenigstens die Einbildung einer exklusiven Verbindung zwischen uns, die mich stolz machte. Am liebsten hätte ich ihr auf der Stelle gestanden, dass ich gern zur Verfügung stand, welchen Mangel auch immer in ihrem Leben zu beheben.

Gabriele trug ein Top ohne Ärmel. Ich spürte, wie mich augenblicklich eine Art Berührungswunsch streifte. Gabriele wollte, dass wir einander bald trafen, und deutete an, dass sie mir etwas erzählen wolle. Du schaust gut aus, sagte ich. Blendend, ergänzte ich. Ich sagte ihr nicht, dass sie dazu auch noch ziemlich gut roch. Du flunkerst natürlich schon wieder, sagte sie. Sie zwinkerte mir zu und lächelte. Ich erinnerte mich, wie sie in der Sommernacht in der Wachau vor Wohlgefühl geseufzt hatte. Ich empfand den Wunsch, ihren Wachauer Wohlfühlgesang bald wieder zu hören. Ich hatte keine Ahnung, wie ich diesen Wunsch jetzt, im Konferenzzimmer des Instituts, angemessen zum Ausdruck bringen hätte können.

Wird Zeit, dass wir uns wieder einmal gemütlich zusammensetzen, sagte Gabriele verbindlich. Oder wir finden doch einen Termin, gemeinsam in ein Jazzkonzert zu gehen, sagte ich. Wir verständigten uns darauf, abends zu telefonieren.

In der Straßenbahn fiel mir ein, dass ich einen tags zuvor entwickelten Gedanken nicht zu Ende gedacht hatte. Von den 13 Dingen, die mental starke Menschen vermeiden sollten, hatte ich bis auf den Punkt, nicht in Selbstmitleid zu baden, alle anderen bereits wieder vergessen. Die Zahl 13 hatte in meinem Leben immer schon eine Rolle gespielt. Den Geburtstag sucht man sich nicht aus. Ich war an einem 13. September geboren worden, wie der Komponist Arnold Schönberg, die Schriftstellerin Marie von Ebner-Eschenbach, die Schauspielerin Maria Furtwängler, der deutsche Fußballweltmeister Thomas Müller und der wahrscheinlich weniger bekannte Historiker Holger Afflerbach, der in Leeds lehrte.

Die Zahl 13 hatte mich als Volksschulkind nie verwirrt. Rund um meinen Geburtstag hatte stets das neue Schuljahr begonnen. Der Tag war für mich immer mit einem Gefühl von Aufbruch und Neubeginn verbunden gewesen. Außer zum Weihnachtseinkauf waren meine Eltern nur zu Schulbeginn mit mir einkaufen gefahren. Im nahegelegenen A. besuchten wir das Papierwarengeschäft Neumann, wo ich neue Stifte, Ölkreiden und Schulhefte bekam. Im Geschäft roch es angenehm nach frischem Papier. Wir wurden freundlich bedient und ich genoss es, dass sich an diesem Tag alles um meine Bedürfnisse als kleiner Schüler drehte. Der Schulbeginn und seine ihn begleitenden Umstände hatten mich immer fröhlich gemacht. Für manche begann mit dem Herbst eine Zeit der Einigelung und eine sich gleichsam naturgemäß aufdrängende Depressionszeit, für mich bedeutete vor allem der Frühherbst eine Zeit besonders kostbaren Lichts. Im schräg einfallenden Sonnenlicht kam das Grün der Wiesen noch einmal kräftig zur Geltung. Meine Lieblingsfarbe jener Jahre war immer ein kräftiges Hellgrün gewesen. Das Farbengemisch aus Gelb-, Grün-, Rot- und Brauntönen, mit denen die Laubbäume sich bis zu den Herbststürmen Ende Oktober, Anfang November verfärbten, das Gehen und Schlendern auf belaubten Wegen und Parks, das Rascheln und der Geruch frisch gefallenen Laubes hatten mich immer beflügelt, begeistert. Meine mit Borstenpinsel hingetupften bunten Herbstwiesen und Bäume hatten später sogar einen Zeichenlehrer beeindruckt, obwohl ich zeichnerisch nicht begabt war. Zufall, meinte er und gab mir ein Sehr gut.

Von meiner Vorliebe für frisch gefallene Kastanien habe ich noch nicht berichtet. Scheinbar weniger nutzlose Früchte gab es nicht. Man kann sie nicht essen, sie fallen einfach vom Baum. Ich liebte es aber, mit den glatten Kastanien zu spielen. Noch als Erwachsener hatte ich oft monatelang eine Kastanie in einer Manteltasche mitgetragen, um sie gelegentlich zu fühlen. Einmal verirrte sich eine durch ein Loch in meiner Jacke. Jahrelang trug ich sie im Unterfutter mit mir herum.

Die Erinnerung an den 13. September meiner Kindheit schien mir so weit weg zu sein wie die Einführung des elektrischen Lichtes. Damals waren die Bauern noch mit Ochsen zum Heuen gefahren, täglich waren wir Kinder um die noch körperwarme Milch zum Nachbarbauern gegangen, hatten dort im Keller den Most aus dem Fass gezapft, als Kinder hatten wir Späne für das Einheizen gekloben, damit wir es in einem Raum der Wohnung warm hatten. Morgens kratzten wir im Kinderzimmer an den Eisblumen im Fenster oder brachten sie mit unserem warmen Atem zum Schmelzen.

Gerade als die Straßenbahn am Gelände des Jahrmarktes vorbeifuhr, fiel mir ein, dass ich als Kind ein einziges Mal die Zeltbude einer sogenannten Wahrsagerin betreten hatte. Spontan und ungeplant war ich in das Zelt eingetreten, in dem eine Frau als Wahrsagerin verkleidet in eine Glaskugel geblickt und irgendetwas vor sich hin gemurmelt hatte. Ihre ganze Aufmachung und alles, was in dem Zelt an gläsernem Klunker und glitzerndem Beiwerk herumlag und- hing, war dem Kind vom ersten Augenblick an als lächerlich und unseriös erschienen. Möglicherweise hatte der Junge, der vielleicht zwölf Jahre alt gewesen war, das Zelt deswegen betreten, weil der Kauf eines Kärtchens, das man aus einer Glasschüssel fischte und worauf ein Spruch über die eigene Zukunft stand, erschwinglich gewesen war. Während andere aus meiner Klasse sich selbstverständlich auch mit verschiedenen Fahrgeschäften vergnügten, beschränkte sich das Vergnügen des Zwölfjährigen auf eine Schaumrolle und eben eine Spruchkarte, die die verkleidete Wahrsagerin dem Kind vorgelesen hatte. Für mehr hatte mein Taschengeld nicht gereicht.

An der Rudolfskreuzung stieg ein jüngerer, nicht sehr groß gewachsener Mann ein, der mich sofort an einen Bergsteiger erinnerte. Der Mann, bärtig und braun gebrannt, trug einen Rucksack, der auch um seine Brust festgezurrt war. In seinen Ohren steckten kleine Kopfhörer, als wäre der Mann mit irgendeiner Leitstelle verbunden. In der Hand trug er das vordere Saugrohr eines Staubsaugers mit Bürste, das er während der Fahrt zwischen seine Beine klemmte. Ich hatte zwingend den Eindruck, der Mann befinde sich gerade unmittelbar vor dem Aufbruch zu einer größeren Bergexpedition zum Zweck der Gipfelreinigung. Mir fiel sofort der Begriff der Staubfreimachung ein, ein Begriff, der in den sechziger Jahren in der Arbeitsstelle meines Vaters häufig und jahrelang verwendet worden war, als damals die Landes- und Gemeindestraßen, später auch die Güterwege des Dorfes asphaltiert worden waren. Heute war das Bundesland nicht nur fast lückenlos staubfrei gemacht, heute war es weitgehend verdichtet und die Böden versiegelt. Bei Starkregen, die immer häufiger auftraten, wurden daher nicht Staubsauger, sondern vor allem Wasserpumpen benötigt, um abgesoffene Keller und Garagen auszupumpen. Ich stieg aus und ließ den Berggipfelreiniger in der Straßenbahn zurück. In der Nähe unserer Stadt gibt es keine nennenswerten Gipfel.

Als ich nach Hause kam, war es bereits Nachmittag. Jetzt konnte ich keinen Herrn Preinfalk mehr anrufen. Ich betrachtete die drapierte Ungeordnetheit der Gegenstände auf meinem Küchentisch. In der linken Ecke lagen, auf dem Wirtschaftsteil der Süddeutschen von vorgestern, eine Schüssel mit Löffel (darin hatte sich mein Frühstücksmüsli befunden), der Plastikdeckel eines Joghurtbechers, darauf ein Messer, mit dem ich in der Früh einen Pfirsich klein geschnitten hatte, daneben standen eine Tasse mit kalt gewordenem Kaffee und ein Glas mit Mineralwasser, halbvoll. Diese Belegung betraf nur den linken unteren Rand des Küchentisches, gleichsam den südwestlichen. Auch der Rest des Tisches war vollbelegt oder vollgestellt. Ich war der einzige Mensch, der über die archäologische Schichtung und chronologische Besiedelung meines Küchentisches annähernd wahrheitsgetreu Auskunft geben hätte können. Anfangs, das heißt, vor mehreren Tagen, als ich zuletzt den Tisch abgeräumt und abgewischt hatte, stand da nur ein leerer Brotkorb. Dann folgten eine Wanderkarte der Region Schärding, weiters ein Salzstreuer, später die Müslibox aus Plastik, eine ausgepresste halbe Zitrone, ein Plastiklöffel mit zwei abgenagten Pfirsichkernen, zwei Medikamentenschachteln mit dem Wirkstoff Paracetamol (eine Originalmarke, ein Generikum), ein Sackerl mit einem halben Roggenbrot, eine Einkaufstasche der Grünen mit der Aufschrift Bio macht schön (zusammengeknüllt). Wie zwei Türme in einem überdimensionalen Schachspiel standen eine Mineralwasserflasche (in der Mitte) und eine angebrochene Flasche Cola Light (im rechten oberen Eck), zentral dann ein beim Frühstück geöffneter Tetrapak mit Kondensmilch, daneben der ausgelöffelte Joghurtbecher (500 g, das reichte für mehrere Tage). Links oben (Nordwesten) hatte die leere Kaffeekanne ihre Position eingenommen. Die Kanne war wohl der einzige Gegenstand, der in den letzten Tagen regelmäßig, wenn auch nur für den Vorgang der Neubefüllung, den Tisch verlassen und wieder betreten hatte. Ein weiteres Schneidmesser fiel mir erst jetzt auf. Ich überlegte, ob ich die Position des Tatortforensikers (-archäologen) in die Liste der Karrieremöglichkeiten nach unten/oben aufnehmen sollte.

Ich schob das Abräumen des Esstisches (das der gegenständlichen Archäologie ein gewaltsames Ende gesetzt hätte) noch einmal auf. Stattdessen setzte ich die Rückholung meines Knirpses auf die Agenda und wiederholte die Fahrt in das Pfarrzentrum am Stadtrand von vor zwei Tagen.

Besser wäre es gewesen, vorher dort anzurufen. Als ich ankam (gegen halb acht am Abend), fand ich die Kirchentüre offen, die Sakristei aber verschlossen vor. Zum Glück übte jemand recht tadellos einen Choral auf der Orgel, dessen Melodie, bloß anders harmonisiert, man auch für einen Jazzstandard halten hätte können. Ich machte mich bemerkbar, indem ich in die Hände klatschte, wonach das Orgelspiel abrupt abbrach und gleich darauf das jugendliche Gesicht eines Mädchens, vielleicht fünfzehn Jahre alt, auf der Empore erschien. Ich trug mein Anliegen vor, kurz darauf war das Mädchen bei mir, schloss die Sakristei auf und drückte mir den Knirps in die Hand. Ich konnte meine Neugier nicht unterdrücken und fragte das Mädel, welches Stück es denn gerade gespielt habe. War von Pachelbel, sagte sie und ergänzte lapidar: Alle Menschen müssen sterben, alles Fleisch vergeht wie Heu.

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