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Читать книгу: «Leirichs Zögern», страница 3

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Morgens erwachte ich in diffuser Stimmung. Ich duschte, ich trank einen schnellen Kaffee, ich sah, dass die junge Frau in der Wohnung schräg gegenüber im Nachtgewand barfuß durch ihre Küche lief. Eine Fleischfliege krachte brummend gegen das Fenster. Mir fiel ein, dass Hanna in der frühen Pubertät versucht hatte, Fliegen mit bloßen Händen zu schnappen. Irgendwann einmal war es ihr zufällig gelungen, eine Fliege beim Abheben zwischen ihren Handflächen einzufangen. Ab da hatte sie an ihre Fähigkeit geglaubt, schnell genug zu sein, um spielend Fliegen zu erhaschen, obwohl ich ihr erklärt hatte, dass Fliegen mit ihren Facettenaugen die Bewegung unserer Hände gewissermaßen wie in Zeitlupe verfolgten und sich daher rechtzeitig aus dem Staub machen konnten. Ob meine Fliegenflugerklärung naturwissenschaftlich gesehen richtig gewesen war, wusste ich bis zum heutigen Tag nicht. Hanna hatte monatelang ihr Fliegenfangspiel fortgesetzt, bis sie begann, Wespen in Marmeladegläser zu sperren und in Gefangenschaft zu beobachten.

Ich ließ die Fliege in Ruhe. Obwohl alles für ein Frühstück in der Wohnung vorrätig war, ging ich aus dem Haus. Ein schöner Spätsommertag hatte begonnen, in einer Bäckerei bestellte ich Kaffee und eine Buttersemmel, die ich im Stehen aß. Ich hatte die irrwitzig egomanische Vorstellung, jemand könnte mir gratulieren, so wie man einem neugebackenen Vater zu seinem Nachwuchs gratulierte. Ich war über Nacht nicht Vater geworden, wohl aber Bruder eines Bruders. Eines offenbar älteren Bruders. Beim Aufstehen hatte ich das Foto noch einmal analysiert. Da lachte mein Vater vom Bildschirm, es war verrückt. Der Erwachsene in mir begriff bald, dass die Gratulationen ausbleiben würden. Die Verkäuferinnen in der Schnellbäckerei waren freundlich wie immer, aber sie gratulierten mir natürlich nicht. Nach dem Frühstück erfasste mich eine Stimmung nervöser Planlosigkeit, in der ich nicht in die Wohnung zurückgehen wollte, obwohl es jetzt endgültig Zeit war, die Unterlagen für die Lehrveranstaltungen durchzugehen. Die Nachricht von gestern hatte mich aber in einer Weise durchgerüttelt, dass ich, so kann man sagen, ordentlich durcheinander war.

Über die Jahre hatte ich mir ein System vorauseilender Schutzgedanken aufgebaut. Ich neigte dazu, jederzeit mit allem zu rechnen. Genauer gesagt, ich hatte Angst davor, ständig mit allem rechnen zu müssen, auch mit dem Schlimmsten. Ich malte mir aus, wie ich reagieren würde, wenn etwas sehr Schlimmes eintrat. Ich überlegte, wie ich mich am besten von vornherein so verhielt, dass das Schlimme nicht geschah. Oder, falls ich das Schlimmste nicht verhindern konnte, dass ich mich wenigstens so weit wappnete, dass ich es nicht mehr als das Schlimmste auffassen musste, weil ich ja bereits damit gerechnet hatte.

Im Internat hatte ich mir einmal in der morgendlichen Eile mit einer erst neu angeschafften Brille am Kopf die Haare gekämmt und die Brille in einem unbedachten Augenblick mit dem Kamm vom Kopf und zu Boden gefegt, wo ein Glas zu Bruch gegangen war. Eine Brille war teuer, natürlich hatten wir keine Bruchversicherung abgeschlossen und außerdem war ich durch den Glasbruch für mindestens einen Tag schwer sehbeeinträchtigt. Noch vor dem Spiegel, die Scherben zusammenklaubend, mit Tränen der Wut in den Augen, schwor ich mir, dass dieser Fall nie mehr eintreten sollte. Ich wertete diese Anekdote weniger als Beleg für ein vermeidendes, vorausschauendes Verhalten als das einer Konditionierung. Die unbedachte Bewegung hatte zur Folge, dass ich für immer lernte, vor dem Kämmen die Brille abzulegen.

Nicht das erste Mal, aber beinahe das erste Mal in meinem Leben, dass etwas wirklich Schlimmes geschah, war, als meine Mutter starb. Der Vorgang ihres Sterbens ereignete sich buchstäblich über Nacht. Das achtjährige Kind wusste zwar, dass die Mutter erkrankt war und am nächsten Tag ins Krankenhaus gehen sollte (die Ursache der Erkrankung war dem Kind unbekannt), daher verabschiedete ich mich von der Mutter mit einer Umarmung und einem Kuss, wie sich ein Kind von seiner Mutter abends verabschiedet. Der Unterschied zu anderen Abschieden lag offenbar in einem Satz, den die Mutter zu mir sprach und der später noch viele und verhängnisvolle Grübeleien im Kind, im Jugendlichen, im Erwachsenen auslösen würde: Du bist ja schon groß.

Es war der letzte Satz gewesen, den die Mutter zu mir gesprochen hatte. Daraufhin war ich in mein Zimmer und ins Bett gegangen. Als ich aufwachte, war die Mutter – nach dramatischen nächtlichen Ereignissen, von denen ich nichts mitbekommen hatte – bereits tot. Einmal noch, am Nachmittag des folgenden Tages, in der Prosektur des Krankenhauses, gab ich meiner toten Mutter einen letzten Kuss auf die Wange. Es war nicht das erste Mal, dass etwas Schlimmes geschehen war im Leben des Kindes, aber dieses Schlimmste war völlig unvermutet und, wie man sagt, aus heiterem Himmel geschehen. Der Himmel hatte sich verdüstert an diesem Tag, in einer Art, mit der nicht zu rechnen gewesen war. Besser: mit der das Kind nicht gerechnet hatte.

Mit diesem Geschehen hatte sich eine Erfahrung in das Kind eingebrannt, die für eine gesamte Lebensexistenz reichte: Es gab Dinge, mit denen zu rechnen war. Man konnte nicht vorsichtig genug sein, gegen das gewappnet zu sein, was einem zustoßen konnte. Meine Neigung, ständig mit dem Schlimmsten zu rechnen, war daher auch die Folge dieser traumatischen Erfahrung und mein Versuch, das Schlimmste vorausschauend zu bannen. Eine Art psychischer Trauma-Panzerung? Eine Trauma-Wappnung? Eine Schreckens-Prävention?

Aber warum bedeutete das Auftauchen eines möglichen Bruders etwas Schlimmes? Hatte ich mir nicht eben noch eingebildet, jemand könne mir zum Auftauchen des bisher nicht Existenten gratulieren? Mich ärgerte, dass ich mich gedanklich wieder einmal zu einer Art Opfer stilisiert hatte, etwas, das ich unbedingt vermeiden wollte. Ein Opfer ist passiv, stumm, dumpf und bewegungseingeschränkt. Als Kind hatte ich mich nicht und niemals als Opfer gefühlt. Ich hatte die Umstände meiner Existenz so akzeptiert, wie sie waren. Ich hatte ohnehin keine Wahl gehabt. Dem Vater waren gleich zwei Mal die Frauen gestorben. Systemtechnisch hatte es sich bei uns schon damals um eine Patchworkfamilie gehandelt, ohne dass der Begriff damals gebräuchlich gewesen war: Ulrike war das Kind aus Vaters erster Ehe, ich und Judith stammten aus der zweiten. Schicksalsmäßig schien das Unglück unserer Familie in den Zusammenhang des Dorfes eingepasst. Das Vergleichen, das Hineinrutschen in schicksalsretuschierende Fantasie-Biografien, mein mich Hineinreklamieren in fremde, erfundene Lebensläufe (mein Vater war Universitätsprofessor, meine Mutter Ärztin, ich habe in Wien, Cambridge und Singapur studiert und ein Auslandsjahr in den Staaten absolviert) begann erst viel später, als der Zustand meines jederzeit kündbaren Status als Lehrbeauftragter unmerklich chronisch zu werden begann.

Als Kind hatte ich also immer mit allem Vorstellbaren gerechnet, ausgenommen einem Krieg – der letzte war gerade einmal fünfzehn Jahre vor meiner Geburt zu Ende gegangen. Schnell begriff ich, dass das Unvorhergesehene, eine Katastrophe, ein Unglück, ein Schicksalsschlag nicht nur die eigene Familie, sondern auch andere, benachbarte treffen konnte. Da ereigneten sich tödliche Raserunfälle junger Burschen, da verstarben Kinder plötzlich im Kleinkindalter, da starb ein junges Mädchen beim Bad am Samstagnachmittag wegen einer defekten Gasleitung, während die ältere Schwester den Unfall, bewusstlos geworden, überlebte, da wurde der beliebte Pfarrer während der Silvesteransprache vom Schlag getroffen und verstarb eine Woche später.

Alles also war denkbar. Mit vielem hatte ich in der Folge gerechnet. Dass ich nun einen Bruder hatte, konnte daher keine Katastrophe bedeuten, war aber eine überraschende Pointe, mit der ich nicht gerechnet hatte. Ich war vorläufig froh, dass eine Hemmung (nicht zu wissen, wem ich die Geschichte meines neu aufgetauchten Bruders mitteilen sollte) eine andere aufhob (dass ich nämlich die Vorbereitung auf das neue Semester vor mir herschob).

Wenig später war ich am Institut. Zu Semesterbeginn wehte mich dort eine Stimmung an, als könne alles, und also auch das eigene Berufsleben, noch einmal von vorn beginnen, als gewährten einem Herbst- und Schulbeginn eine Chance auf einen Neuanfang. Diese Hochstimmung hielt wie ein warmer Föhnsturm aber bloß ein paar Tage an und flaute dann rasch ab. Denn allen kindlichen, kindischen Erwartungen zum Trotz lief natürlich der Institutsbetrieb nach kurzer Zeit wie gewohnt und die Stimmung kippte, die notorisch gut aufgelegten Sekretärinnen ausgenommen, in einen Modus, über den ich in der Lage gewesen wäre, ein Stück zu schreiben. Einen Titel für dieses Schauspiel – eine tragische Komödie? – hatte ich mir bereits zurechtgelegt: Die Fliehenden. Wer auch immer als Lehrender ohne fixe Anstellung an der Uni zu tun hatte, der wurde schon nach wenigen Wochen Unterrichtstätigkeit von einem schwer zu zügelnden Fluchttrieb ergriffen, als würde es sich bei der Universität um eine gefährliche Zone handeln, um ein kontaminiertes Gelände, auf dem man sich eine ansteckende Krankheit einhandeln konnte. Der heftigste Wunsch aller Lehrenden bestand tatsächlich darin, nach Ende der jeweiligen Unterrichtstätigkeit so rasch als möglich zu fliehen. Egal wohin. Nach Hause, in einen Garten eines Einfamilienhauses in der Vorstadt, in ein Fitnessstudio, auf ein Mountainbike, zu einem abstrusen Hobby, zu einer heimlichen Nebenbeziehung oder vielleicht sogar an einen heimischen Schreibtisch, wo eine unabgeschlossene wissenschaftliche Arbeit lag.

Nichts von dieser Flucht-Atmosphäre war an diesem Tag zu spüren. Noch hatte es keine nervige Konferenz gegeben, manche waren noch gar nicht aus ihren jeweiligen Urlauben zurückgekehrt und reizten die freie Zeit bis zum letzten Tag vor Vorlesungsbeginn aus.

An den Anschlagtafeln waren die Zettel des vergangenen Semesters längst abgenommen worden, jetzt hing dort wieder Zukunft: Die Stundenpläne des folgenden Studienjahres mit den Kürzeln der Lehrenden.

In der Teeküche und auf dem anschließenden Balkon standen einige Kollegen, darunter Gabriele, tiefgebräunt, und Holger Wuttke, der Hobbyradleistungssportler, offenbar über den Sommer noch eine Spur schlanker geworden. Ich schnappte Sätze auf, die eine Art Kurzzusammenfassung von Sommerurlauben waren: war nicht ganz so toll, aber das Wetter hat uns entschädigt / ein paar Höhenmeter habe ich schon zusammengebracht / du kannst hinkommen, wo du willst, die Deutschen sind schon da (ein Satz, der gegen Holger gerichtet war) / und das Beste war dann, als … / das Übliche halt / Familie, verstehst du …

Jemand drückte mir einen Becher in die Hand und goss Kaffee ein, jemand legte mir kurz die Hand auf die Schulter: Und bei dir?

Bei Gabriele riskierte ich einen zweiten Blick. Sie war umringt, sie war besetzt, aber sie zwinkerte mir kurz zu: Ich interpretierte ihr Zwinkern als Zeichen eines Einverständnisses über unser sommerliches Erlebnis. Im Vorbeigehen drückte sie mir den Oberarm, eine Berührung, die ich als angenehm empfand. Ich überlegte kurz, wie viele der Anwesenden mich je anfassten, wen ich überhaupt nicht anfassen würde und bei welchen Kolleginnen eine Berührung vielleicht sogar als Übergriff interpretiert werden und notgedrungen eine unmittelbare Nachberührungsentschuldigung nach sich ziehen würde.

Ich klinkte mich aus der lauten und unstrukturierten Unterhaltung aus, noch ehe ich richtig eingestiegen war. In der Straßenbahn hatte ich in der Gratiszeitung von einer Umfrage gelesen, laut der ein Drittel der Österreicher im Urlaub einmal eine Romanze erlebt hatte. Was genau mit dem Begriff Romanze gemeint war, war dem Artikel nicht zu entnehmen gewesen. Der Titel des Textes hatte etwas holprig Ein Drittel der Österreicher hatte schon eine Romanze im Urlaub gelautet. Für einen Moment sah ich mich im Lehrsaal zu meinen Studierenden sprechen: Die Art und Weise, wie wir über Wirklichkeit sprechen, ist Konstrukt. Genauso richtig (und so holprig) wäre es gewesen, Zwei Drittel der Österreicher hatten noch keine Romanze im Urlaub zu titeln. Die Überschrift war natürlich nicht gegendert gewesen. Ich sah noch einmal zu Gabriele hinüber und fragte mich, zu welchem Drittel sie wohl in diesem Sommer gezählt hatte. Ihr Mann arbeitete als Geschäftsführer einer Firma, die Kinder waren aus dem Haus, ihr Leben, gesettelt und abgesichert, war aber von einer steten unglücklichen Unruhe angekränkelt.

Unvermutet fielen mir mein Vater ein und sein offenbarer Sohn: Hatte es vielleicht in Vaters Leben eine Romanze gegeben, von der ich bisher nichts gewusst hatte? Wer war denn die Mutter gewesen? Und wenn Preinfalk Vaters erster Sohn war, war ich wohl ab jetzt der Zweitgeborene. Der Gedanke mutete seltsam an.

Beim Fußweg zurück zur Straßenbahn durchströmte mich ein kurzes Gefühl der Dankbarkeit, dass ich Holger Wuttke für diesen Tag ausgekommen war. Gleichzeitig schlug mein Vorurteilsbarometer aus. Auf meiner privaten Ressentiment-Skala stand Wuttke relativ weit oben. Es gab kaum eine Sitzung, in der einem Wuttke nicht einen Ratschlag erteilte, wie etwas zu bewerkstelligen, einzuschätzen, abzuhandeln, zu wuppen war, wie er gern sagte. Egal ob es sich um Fachliches oder Privates handelte, Wuttke wusste (auch unaufgefordert) Bescheid. Unsere gegenseitige Sympathie hielt sich in engen Grenzen, obwohl ich den offenen Konflikt mit ihm vermied. Für mich war er ein Klugscheißer, auch wenn ich mir nicht sicher war, ob meine Abwertung nicht doch einem Minderwertigkeitsgefühl entsprang: ich war nicht so eloquent, nicht so taff, nicht so schlagfertig wie Wuttke. Er wusste Bescheid, ich hatte oft keine Ahnung. Er wusste, wie das Leben (auch anderer) zu optimieren war, ich wusste es nicht einmal für mich, ich lavierte mich wie ein blinder Maulwurf dilettierend durch die enge Röhre meines Lebens. Wie Wuttke mich einschätzte, wollte ich lieber gar nicht wissen.

In der Straßenbahn betrachtete ich eine Frau mit Kopftuch, die mir gegenüber saß. Das Tuch, das ihr Haar vollständig verhüllte, betonte ihre schönen, dunklen Augen. Kurz trafen sich unsere Blicke. Schnell schaute sie weg. Ein paar Stationen noch betrachtete ich ihr Gesicht, wie es sich im Fenster spiegelte. In meiner Fantasie betrat gleich darauf eine Abordnung der Moralpolizei das Abteil und unterzog mich einer Kontrolle. Für einen Moment hatte ich eine mir fremde Frau zu lange angeschaut und das Delikt Blickbelästigung ausgelöst. Die Welt war kompliziert. Ich wurde gerade noch einmal abgemahnt.

Im Internet war ich auf eine Liste von 13 Dingen gestoßen, die mental starke Menschen unbedingt vermeiden sollten. Beim Surfen im Netz ging ich immer wieder den Listen und Aufzählungen über Dinge und Sachen auf den Leim, die man entweder kennen, kosten, besuchen, kaufen, essen oder strikt vermeiden sollte. Zahlen spielten in diesen Auflistungen eine große Rolle, etwa die Zahl 111, oder aber, wie in diesem Fall, die Zahl 13. Hier schwang die Bedeutung als Unglückszahl mit. Das Netz war voll von moralischen Imperativen. Früher waren diese strengen Vorschriften von den Kirchenkanzeln verkündet worden. Heute hatte das Netz die Funktion einer moralisierenden Instanz übernommen. Jetzt posteten viele Menschen, die sich längst von den moralischen Anmaßungen der Amtskirchen verabschiedet hatten, freiwillig diese Verhaltenslisten, die das Leben in Anweisungen und Verbote schieden. Ich notierte im Kopf den Begriff Säkularkatechismus.

Von den Dingen, die jeder mental Starke unbedingt vermeiden sollte, hatte ich nichts über das Anschauen/ Anstarren/Beobachten in der Straßenbahn gelesen. Dafür gab es den Hinweis, dass man keine Zeit daran verschwenden sollte, in Selbstmitleid zu baden. Vielleicht badete ich allein durch den Vorgang, dass ich mich innerlich rechtfertigte, die fremde Frau zu lange betrachtet/angesehen/angestarrt zu haben, in Selbstmitleid, das sich als Selbstzensur tarnte.

Ein weiterer Punkt, den ein mental starker Mensch unbedingt vermeiden sollte, war, auf der Vergangenheit herumzureiten, so wörtlich. Ich überlegte, wie sich diese Anweisung auf meine Profession, die Geschichtswissenschaft, auswirken würde. Ob man sagen konnte, dass ein Historiker auf der Vergangenheit herumritt (warum war für dieses Verdikt eigentlich eine Metapher aus der vorindustriellen Zeit verwendet worden?)? Oder aber es war unausgesprochen klar, dass es sich gerade bei Historikern um eine mental schwache Gruppe handelte. Ich versuchte, mir einen redlichen Historiker vorzustellen, der nicht in der Vergangenheit herumritt. Kurz darauf stellte ich mir einen Selbsthilfegesprächskreis mental schwacher Historiker vor, bei dem die Teilnehmer (und innen!) gegenseitig an, auf und in ihren Vergangenheiten herumritten. Ich brach meinen Versuch wegen Ermüdung ab.

Kurz nachdem die Frau ausgestiegen war (ich hatte sie nach der Begegnung mit der Moralpolizei weder direkt noch gespiegelt im Fenster ein weiteres Mal betrachtet), fiel mir ein, dass ich unversehens eine Hauptrolle in dem Stück Die Fliehenden übernommen hatte. Ich war nämlich der Erstfliehende gewesen, ich hatte die kaffeetrinkende, ihre gefilterten Urlaubserinnerungen als konstruierte Erzählungen vor sich hertragende Gruppe als erster verlassen und war als Erstfliehender sogleich in das Netz meiner herbeifantasierten Tugendaufsicht geraten.

Bei der Fahrt über die Donaubrücke überlegte ich, wie ich mit der Nachricht von gestern weiter vorgehen sollte. Ich ertappte mich dabei, zu sehr in aufschiebende Fantasien zu fliehen. Ich nahm mir vor, am Abend meine Schwester Ulrike anzurufen. Gleichzeitig fehlte mir der Plan, wie ich ihr die Nachricht stecken sollte. Weißt du eigentlich, dass wir noch einen Bruder haben? Allein diesen Satz auszusprechen, kam mir nahezu unmöglich vor. Ich blickte mich um. Vielleicht saß der neue Bruder ein Stück weiter vorne in der Straßenbahn. Oder ein naher Angehöriger von ihm. Vielleicht war ich diesem Bruder in meinem Leben schon einmal begegnet, ohne es zu ahnen. Wo? In der Straßenbahn? Im Supermarkt?

Dann läutete mein Handy. Entgegen meiner Gewohnheit, in der Straßenbahn nicht zu telefonieren, hob ich ab. Am anderen Ende der Leitung war Herr Meilinger, der Veranstalter meines Vortrags vom Vortag.

Schöner Abend gestern, sagte Meilinger. Und der Besuch war ja auch ganz ok.

Vielen Dank, sagte ich. Jetzt fiel mir ein, dass ich am Vortag ein seltsames Zucken in seiner Wange bemerkt hatte.

Weswegen ich anrufe, sagte er: Sie haben einen Knirps liegen lassen. Sie können sich den jederzeit bei uns abholen. Wir haben ihn in der Sakristei verwahrt. Für den Fall, dass niemand da sei: Vielleicht ist ja die Reserveorganistin der Pfarre zugange, so Meilingers Ausdrucksweise. Die sitze fast jeden Tag an der Orgel.

Jetzt war ich erstaunt. Tatsächlich hatte ich einen Knirps bei mir gehabt, aber geglaubt, ich hätte ihn in meiner Tasche verstaut.

Vergisst man ja leicht, sagte Meilinger.

Kurz überlegte ich, ihm von der Frau zu erzählen, die mich gestern angesprochen hatte. Vielleicht kannte er sie. Noch während ich überlegte, hatte er auch schon wieder aufgelegt. Er sei in Eile.

Pflichtbewusst – ich wollte ja abnehmen – verzichtete ich auf den Lift und ging zu Fuß in meine Wohnung hinauf. Um mich vom anstrengenden Aufstieg abzulenken, kippte ich in das Spiel, wen und ob ich dieses Mal jemand im Stiegenhaus antreffen würde. Es wohnten Leute im Haus, denen ich monatelang nicht begegnete. Dann wieder traf ich einen Nachbarn gleich mehrere Tage hintereinander. Viele, die in den oberen Stockwerken wohnten, sah man noch seltener, sie fuhren ja Lift.

Dieses Mal begegnete ich Hüsch, der abwärts ging. Wenn ich ihn sah, musste ich nicht nur an seine Frau, sondern auch an den vor einigen Jahren verstorbenen Kabarettisten gleichen Namens denken und überlegen, ob die beiden vielleicht miteinander verwandt waren. Hüsch trug einen Namen, der zu seinem schleichenden Gang ideal passte: Er huschte regelrecht über die Stufen, gerade dass er nicht, wie wir es als Jugendliche im Internat gemacht hatten, in Pantoffeln die Treppen hinunterrutschte. Wie immer trug er einen grauen Anzug, dazu eine schmale, aus der Mode gekommene Krawatte. Er wirkte wie eine aus dem Fundus geholte Figur aus einem Bürofilm der frühen sechziger Jahre. Er trug tatsächlich eine abgewetzte Aktentasche, die vollends dem Klischee entsprach. Die Tasche hielt er ängstlich an die Brust gepresst. Es hätte nicht gepasst, dass wir uns laut grüßten, kurz trafen sich unsere Blicke.

Später ging ich in die Küche und bereitete mir ein Käsebrot zu, das ich im Stehen aß. In der Wohnung schräg gegenüber saß die Nachbarin am Küchentisch und telefonierte. Sie fuhr sich mehrmals mit der Linken durch ihren blonden Schopf. Die nackten Füße hatte sie auf den Tisch gelegt. Vom Fenster der Toilette sah ich in den Innenhof hinunter. Unten im Büro der Privatdetektei brannte Licht. Das Büro im Erdgeschoß im Haus gegenüber hatte einiges mitgemacht. Früher hatte sich dort ein Sexshop befunden, mit dem Niedergang der Videoindustrie hatte der Laden Pleite gemacht. Ein Bestattungsunternehmen hatte sich kaum ein Jahr lang gehalten, aus mir unbegreiflichen Gründen. Gestorben wurde ja nach wie vor. Anschließend war ein Privatdetektiv in den Laden eingezogen, der vor wenigen Jahren einen spektakulären Abgang geliefert hatte. Der Mann, ein auffälliger Glatzkopf, dessen Name skurrilerweise mit dem eines österreichischen Olympiasiegers im Judo ident war, war bei einer Observierung erschossen und in einem Waldstück an der tschechischen Grenze aufgefunden worden. Der Mord war bis zum heutigen Tag nicht aufgeklärt worden. Ein junger Türke führte den Laden seither weiter.

Dann nahm ich mir doch die Mappe mit meinen Semestervorbereitungen vor, ein Vorgang, der mich beruhigte. Ich hatte die Proseminare sorgfältig erarbeitet. Es würde mir leicht fallen, sie routiniert abzurufen.

Draußen war es bereits ganz dunkel geworden. Die junge Frau in der Wohnung gegenüber hatte das Licht in der Küche abgedreht, aus einem anderen Raum fiel ein schmaler Streifen Licht, den ich an der Decke wahrnehmen konnte.

Später rief ich Ulrike an, meine ältere Schwester, die seit über zwanzig Jahren in Passau lebte und dort an einem Gymnasium unterrichtete. Manchmal telefonierten wir wöchentlich (als es mit Ariane und mir abwärts ging), dann gab es wieder Zeiten, in denen wir monatelang nichts voneinander hörten.

Sie klang verwundert, als sie abhob. Hast du kurz Zeit, fragte ich.

Aus irgendeinem Grund verschlug es mir plötzlich die Stimme: einerseits wortwörtlich, denn ich musste mich plötzlich räuspern, andererseits im übertragenen Sinn. Kaum hatte sie gesagt, dass sie Zeit zum Reden hätte, wusste ich, dass ich ihr noch nicht berichten konnte, was mich seit gestern beschäftigte. Ich entschied mich blitzartig für höfliches Plaudern. Mir erschien alles noch zu diffus, zu unklar. Ich wollte erst mehr Informationen haben. Mehr über den Vater erfahren, mehr über den Bruder. Mit so einer Bombenmeldung wollte ich Ulrike nicht am Telefon kommen. Ich wollte sie nicht belasten. Ich würde ihr erst von der Geschichte erzählen, wenn ich mir selbst ein Bild über den Bruder gemacht hatte.

Wie geht’s dir, sagte ich.

Geht so, sagte sie. Das Schuljahr läuft. Sie haben mir wieder mehr Musikstunden draufgedrückt, sagte sie. Bring du mal Dreizehnjährige zum Singen. Sie lümmeln herum, starren dich an oder bearbeiten ihr Handy. Aber als Sozialarbeiterin werde ich nicht bezahlt, sagte sie.

Und Kurt, fragte ich. Kurt war Beamter im Rathaus. Dort war er in der Verrechnung tätig. Irgendwie hatten wir es über die Jahre nicht geschafft, miteinander in Kontakt zu kommen. Wenn wir einander trafen, redete ich ihn auf das letzte Hochwasser an (ein letztes Hochwasser hatte sich in Passau immer ereignet), er wiederum stichelte in Sachen Fußball. Er als Bayernfan tat sich leicht, für ihn gehörte ich zu den Ösis, die seit ewig nicht mehr gegen die Deutschen gewonnen hatten. Und unser städtischer Fußball lag seit Jahren darnieder. Die Mannschaft war sogar in die dritte Liga abgestiegen und hatte gerade erst wieder den Aufstieg in die zweite Liga geschafft.

Ulrike rapportierte kurz, dass Kurt am Knie operiert worden wäre, aber sich schon wieder aufs Rad geschwungen hätte, und schwenkte dann auf ihre Kinder um. Ich hatte die zwei, beide etwas älter als Hanna, völlig aus den Augen verloren. Der Sohn studierte offenbar in Berlin und die Tochter war dabei, trotz Baby ihr Soziologiestudium abzuschließen.

Ulrike erzählte und lachte ein bisschen, ihrem dunklen Alt hörte ich gern zu. Jedes Mal fiel mir auf, wie sich ihr Akzent dem Bairischen mehr und mehr annäherte, obwohl auch sie, die so lange schon in Passau lebte, dort noch immer als die Österreicherin wahrgenommen wurde. An ihrer Schule galt sie als Expertin für österreichische Literatur. Gemeinsam mit einem Kollegen führte sie auch den Theaterkurs. Einmal hatte sie sogar Nestroys Die schlimmen Buben in der Schule aufgeführt: Die Bayern packen’s halt nicht ganz, das Wienerische, hatte ihr Kommentar damals gelautet.

Und was ist mit dir, fragte Ulrike dann.

Das Semester beginnt, du kennst das ja, sagte ich ausweichend.

Dann kam auch schon ihre peinigende Frage: Und wie geht’s dir mit den Frauen? Das schien Ulrike immer am meisten zu interessieren. Eine Frage, die mir umso unangenehmer wurde, je länger die Scheidung zurücklag.

Die Organisation unseres Alltags, das Gefühl, dass keiner mehr zu dem kam, was ihn ausmachte, hatte die Beziehung zu Ariane zermürbt. In diesem Gezerre um Zeit hatte ich, so sah ich es, den Kürzeren gegen meine taffe Frau gezogen. Jahrelang konnte ich veröffentlichten Studien entnehmen, dass Frauen weniger als ihre Männer verdienten, sich mehr um ihre Familien kümmerten, dass die Gesellschaft männlich dominiert war und so weiter. Statistisch gesehen hatte ich gegen diese wissenschaftlichen Erkenntnisse nichts vorzubringen. Mich ärgerte nur, dass ich laut diesen Statistiken so gut wie nicht existierte. Ökonomisch war bei uns nämlich das Gegenteil der Fall. Ariane hatte immer eine volle Anstellung gehabt, ich hatte mit meinen paar Stunden Lehrauftrag gerade einmal die Grundlage für meine Sozialversicherung geschafft gehabt, mich ansonsten aber auf jahrelanges Jobben auf Werkvertragsbasis eingelassen: eine Sackgasse, wie ich leider zu spät bemerkte. Ich werkte da an einem Beitrag für einen Ausstellungskatalog, arbeitete dort an einer Recherche für eine Ausstellung oder zeitlich begrenzt an einem Forschungsprojekt eines zeitgeschichtlichen Institutes. Gemeinsam war diesen Tätigkeiten, dass sie alle schlecht bezahlt waren. Am Ende dieser Einbahn winkte die Mindestrente.

Aber ich wollte schon lange nicht mehr auf diese Phase meines Lebens angesprochen werden. Und auch nicht auf meinen anhaltenden Status als Single.

Ich merkte, dass ich Ulrike gar nicht mehr richtig zuhörte. Vielleicht sollte ich auch etwas sagen. Wie wäre es, wenn wir uns wieder einmal treffen, vielleicht auch außerhalb der Feiertage, fragte ich. Was meinst du dazu? Ulrike schien erstaunt, aber nicht abgeneigt.

Judith, unsere jüngere Schwester, würde ich benachrichtigen. Vielleicht konnten wir uns an einem der nächsten Wochenenden zu einer Wanderung irgendwo im Donautal verabreden.

Das fällt dir jetzt einfach so ein, fragte Ulrike verwundert.

Eigentlich schon, sagte ich ausweichend.

Oder hat es doch was mit einer Frau zu tun, bohrte sie nach. Sie konnte es nicht lassen. Wir vereinbarten, dass wir uns per Mail verständigen würden. Kurz darauf legte ich auf.

Ich ging unruhig in der Wohnung herum. Draußen war es stockdunkel geworden. Für heute schien es mir zu spät, ich hatte keine Lust mehr, jetzt noch Judith anzurufen, die abends selten zu Hause war. Sie lebte als Single mit einem starken Bedürfnis nach Menschen. Ihr Verschleiß an Bezugspersonen und unglücklichen Männerbekanntschaften war groß.

Ich schaltete den Fernseher ein und zappte/tappte in eine Sendung, in der in einer abgelegenen, dünn besiedelten Gegend in Deutschland besorgte Bürger vor ihren Einfamilienhäusern mit Doppelgaragen standen und freimütig vor der Kamera bekannten, dass sie sich vor Überfremdung fürchteten. Viele Bewohner von Vorpommern, glaubte ich zu wissen, hatten sich noch während und nach dem Krieg als Flüchtlinge aus Polen, Schlesien und Ostpommern im Osten Deutschlands angesiedelt. Ich wunderte mich, warum mir in diesem Moment der selten gewordene Ausdruck freimütig eingefallen war, und schaltete den Fernseher aus. Jetzt streifte mich die Vorstellung, ich kuratierte eine Ausstellung mit aus der Mode gekommenen Ausdrücken, zu denen unter anderem die Worte gnadenlos, ungnädig und freimütig gehörten. In einer eigenen Vitrine sollten Worte präsentiert werden, die Ausdruck eines freudigen Erstaunens waren, also Stimmungsaufheller. Darunter sollten ebenfalls Worte sein, die früher auf dem Land verwendet worden waren: Höllteufel! Kreuzteufel! Sapperlot! Sie waren längst von wow, cool, krass, abgefahren oder heftig abgelöst worden. In einem speziellen Giftraum sollten die Worte ausgestellt werden, die angesichts der sogenannten Flüchtlingskrise durch die Medien kursierten, Vokabel des neuen Volksbewusstseins: Flüchtlingsstrom, Flut, Gutmensch, Asyl-Industrie, Welcome-Klatscher, Kulturbereicherer, Human-Neurotiker und- soweiter.

Als ich das Fenster öffnete, hörte ich das Folgetonhorn eines Rettungswagens. Mit der kühlen Abendluft kamen leider auch einige Stechmücken ins Zimmer. Ich schloss das Fenster, setzte mich ans Klavier und spielte ein paar Takte von Both Sides Now von Joni Mitchell. Vor ein paar Tagen hatte ich eine Aufnahme dieser Nummer des Pianisten Fred Hersch im Netz gefunden, der aus diesem Hit der Folksongwriter-Ära eine gefinkelt harmonisierte Jazzballade im Dreivierteltakt gemacht hatte.

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9783701362844
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