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LIEBESERWACHEN

(Xavelia)

In der neuen Privatschule habe ich mich nun doch sehr gut eingelebt. Ich wusste nicht, ob ich bleiben würde. Ich bin immer noch scheu und schnell zu vertreiben. Ich bin wild und ungestüm. Ich kann meine Gefühle immer noch nicht vollkommen beherrschen: die Angst, die auftritt und mich überflutet, wenn man mir zu nahe tritt. Die Panik, in der ich Unheil abzuwenden versuche. Die Scham, wieder unterlegen zu sein und nicht Siegerin der Situation.

Auch, wenn ich es mir nicht anmerken lasse, was es mich kostet, wenn ich mich gehen lasse, ich fühle mich jedes Mal wie nach einem verlorenen Kampf. Aber die Hoffnung war da, dass ich es schaffen würde, mich einzuleben und meine Abschlüsse nachzuholen.

Bei Berret spürte ich, dass ich nicht zu kämpfen brauchte. Er hatte genau das richtige Maß, mir entgegen zu kommen oder auf mich zu warten. Er drängte mich nicht. Er war vorsichtig und empfindsam. Es war, als hätte er viele Antennen ausgefahren, um meine geheime Sprache zu verstehen. Er war auf „Empfang“ eingestellt. Das beruhigte mich. In seiner Nähe konnte ich entspannen. Und er sah so schön aus. Er hatte so weiche, braune Augen. Hatte ich mich schon bald in ihn verliebt? Schwärmte ich schon bald für ihn, wie alle jungen Mädchen es hier taten?

Ich kann es nicht sagen. Ich war zunächst mit dem Einleben beschäftigt. Ich bezog mein Zimmer unter dem Dach und richtete es mit vielen bunten Tüchern ein, um eine romantische Stimmung zu schaffen und so oft als möglich meinen Träumen nachhängen zu können. Ich stellte eine Kerze ans Fenster, die später noch eine besondere Bedeutung erhalten sollte. Ich verstaute meine Kleidung, zumeist nur Jeans und Pullover, und einige Erinnerungsstücke im Schrank. Ich schnupperte an meinen Reitsachen, die noch nach meinem Pferd rochen, welches ich lange ausreiten und pflegen durfte und weinte Abschiedstränen.

Aber die Zeit auf dem Steidelhof war vorbei. Ich musste neue Schritte gehen, um meine Ziele zu erreichen, und meine Ziele waren mir wichtig. Ich wollte und wollte meinen Schulabschluss, um später mit Tieren und vor allem mit Pferden zu arbeiten. Mein erster Weg am nächsten Morgen war deshalb der zum Kleingehege, um nach meinem Kaninchen zu schauen, und dann an der Koppel vorbei in den Pferdestall. Nicht die anderen Schülerinnen oder Schüler, die mich neugierig umwarben, interessierten mich, sondern wie immer die Tiere. Dort wollte ich viel freie Zeit verbringen und dort traf ich auch wieder auf Berret. Er beachtete mich kaum. Er grüßte knapp und arbeitete weiter, striegelte ein Pferd, bürstete den Schweif, kontrollierte die Hufe, ordnete das Sattelzeug und bereitete es für die Weide vor. Es war Ende April, die Sonne hatte schon an Kraft gewonnen und versprach einen schönen Tag.

Ich stand und schwieg, aber nicht lange. Ich nahm Kontakt auf mit den Pferden im Stall, merkte mir ihre Namen und verschwand wieder. Ich bin nicht eingeladen worden, mitzuarbeiten, obwohl ich es gut gekonnt hätte. In der Pferdepflege war ich perfekt. Irgendwann würde ich einsteigen. Es würde nicht zu lange dauern, dann würde man meine Kenntnisse hier schätzen.

Ich trieb mich im Haus umher. Noch waren Osterferien und die Tage ungeregelt. Noch waren nicht alle Mitbewohner eingetroffen. Das erfolgte im Laufe des Tages.

Im Haupthaus, einem großes Fachwerkgebäude, befand sich im oberen Stock die Wohnung der Familie Gardot. Dort wohnten auch Berrets Schwestern, die ich jedoch erst später kennenlernte. Im Erdgeschoss befanden sich fast über die gesamte Etage der Speise- und Aufenthaltsraum und ein Sekretariat. An einem wuchtigen Holztisch konnten alle, auch wir Schüler, Platz nehmen. Einen Bauernschrank mit schönem Keramikgeschirr sah ich, eine wohnliche Ecke mit flauschigen Decken, einen Korb mit bunter Wolle und Stricknadeln, einen Notenständer vor einem alten Klavier. Ich fühlte mich wohl. Alles war natürlich. Alles atmete. Das war die rechte Luft für mich, das Naturkind, das alles Künstliche verabscheute.

Ich schlenderte durch den Raum, ließ meine Hände über die Einrichtungsgegenstände gleiten und schlüpfte aus der quietschenden alten Tür auf den Flur, um mich nebenan im Büro umzuschauen. Dort traf ich Regine, unsere Sekretärin, mit der ich bis heute noch Kontakt pflege. Sie winkte mir durch ein Glasfenster zu, und ich verschwand grinsend durch eine Verbindungstür in der Scheune. Hier fand ich Berrets Eltern, die das Haus leiteten, die Chefs sozusagen. Sie bereiteten sich in den Werkstätten auf das neue Schulsemester vor. Markus, der Vater von Berret, arbeitete in der Holzwerkstatt, Elisabeth, seine Mutter, in der Töpferei Sie überprüfte das ungebrannte Tongeschirr auf den Regalen. Das kannte ich auch vom Steidelhof. Nebenan stand die Tür zum Webraum mit dem großen Webstuhl offen. Schöne bunte Garne gab es dort.

Alles das interessierte mich sehr, ich ließ es mir aber nicht anmerken. Ich wollte nicht als Streberin gelten und nicht vereinnahmt werden und so lange als möglich die eigene Entscheidungsfreiheit behalten, welches Fach ich belegen würde. Es war alles gut. Aber eines irritierte mich: Elisabeth schwieg und sie tat das verbissen und es sah aus, als hätte es einen Streit gegeben. So ähnlich sah meine Mutter aus, wenn sie mit meinem Vater eine Auseinandersetzung hatte. Aber Markus, Berrets Vater, war nichts anzumerken. Er begrüßte mich mit sehr viel Interesse. Er hatte Ähnlichkeit mit Berret. Ein Typ mit weicher Stimme und einem vielsagenden und einschmeichelnden Blick, immer ein Lächeln in den Augenwinkeln, oder so ähnlich. Es war mir sehr ungewohnt, ihn einfach beim Vornamen zu nennen. Noch schwieriger schien es mir, Berrets Mutter mit ihrem Vornamen anzusprechen. Dies machten hier aber alle so. Ich tat es nicht. Ich umging die direkte Ansprache. Ich traute beiden nicht, spürte, dass etwas nicht in ihrem Verhältnis stimmte, und setzte meine abweisende Miene auf. Wenn man solch eine Elterntrennung mitgemacht hat wie ich, dann hat man im Gespür, wenn etwas nicht in Ordnung ist.

Ein Kätzchen kam herangelaufen, es miaute und strich mir um die Beine. Ich hob es auf den Arm, streichelte es und nahm es mit auf meinem Rundgang nach draußen, über das Kleintiergehege, vorbei an den schweren Findlingsblöcken, über die Wiese zum Schulgebäude und wieder zurück zu dem Wohn- und Schlafhaus der Internatsschüler. Das stand quer zum Haupthaus, war ein langgestrecktes, niedriges Gebäude, in dem sich die Zimmer jeweils im Erdgeschoss und Dachgeschoß aneinanderreihten. Es begrenzte mit dem Haupthaus den gepflasterten Hof.

Ich wohnte zuerst unten und später auf Nummer 18 im Dachgeschoß. Das Dach war so flach, dass man beinahe darauf spazieren gehen konnte. Das habe ich ja dann auch ausprobiert – und es hat gut geklappt, wenn nachts alles schlief, mein Zimmer zu verlassen und sozusagen „mondsüchtig“ über das Dach zu turnen.

Ich hatte mich bald in Berret verliebt. Er war meine erste Liebe und ich war Feuer und Flamme für ihn, so dass vor allem die Mitschülerinnen bald begannen, mich aufzuziehen. Aber ich verstellte mich, so gut es ging. Ich war es gewohnt, mein Herz nicht zu zeigen und ich legte meine kühle und starre Miene auf, wenn ich ihnen begegnete und das Gespräch auf Berret kam. „Ich doch nicht“ sagte ich. „Ich habe andere Interessen Ich will Pferdepflegerin werden und interessiere mich hauptsächlich für die Tiere“. Trotzdem ging es soweit, dass sie mir eine meiner geheimen Liebesbotschaften entwendeten, die ich in den Nächten schrieb und sie unter Berrets Haustüre schoben. Denn Berret hatte seine eigene Wohnung am Ende des Schülertraktes mit einer eigenen, sehr schweren Eingangstüre aus Eichenholz. Ich wusste das, weil er es einmal erwähnt hatte, dass bei ihm so schnell niemand einbrechen könne.

Es war mir nicht unrecht, dass er meine Botschaft erhielt. Er sollte den Absender erraten, deshalb hatte ich meinen Namen darin nicht erwähnt. Wir waren zu dieser Zeit schon über längere Zeit miteinander vertraut. Denn sehr bald hielt ich mich nachmittags, wenn die Schule beendet war, in seiner Nähe auf und half ihm bei der Pflege der Pferde. Ja, ich hatte diese Aufgabe offiziell von seinen Eltern übertragen bekommen und es sprach nichts dagegen, wenn ich mich im Pferdestall und auf der Koppel betätigte oder mit ihm ausritt.

Dann war ich versorgt und stellte kein Unheil an. Dann musste man sich nicht mit mir auseinandersetzen. Ich hatte den Eindruck, dass manche mich fürchteten. Ich konnte kalt und abweisend sein und so finstere Blicke werfen, dass die meisten zusammenzuckten. Das war meine Macht. Damit konnte ich mir alle vom Leib halten und bald wagte niemand von meinen Mitbewohnern, mich noch einmal auf Berret oder auf meinen Liebesbrief anzusprechen. Es ging sie nichts an. Das vermittelte ich ihnen deutlich und ich achtete streng darauf, dass niemand mir etwas vorwerfen konnte. Ich hütete meine Briefe jetzt besser und fand ein sicheres Versteck, ich hütete auch meine Zunge und meine Blicke, ich hütete jedes Wort. Ich wurde unnahbar. Je mehr ich meine Gefühle für Berret entdeckte und je mehr ich mich ihm nähern durfte, umso unnahbarer wurde ich für die Anderen. Ich befand mich im Ausnahmezustand. Es bedeutete für mich das größte Glück und das Schönste und Tiefste, was ich bisher erlebt hatte, und ich muss gestehen, dass meine Verliebtheit und das neue Gefühl für einen Menschen die Zuneigung zu den Tieren noch übertraf.

Aber nie hätte ich wegen einem Menschen die Tiere vernachlässigt. Wenn Berret das von mir verlangt hätte, wäre meine Verehrung für ihn und mein großes und heftiges Gefühl sicher wie eine Seifenblase zerrplatzt. Da ich ihm niemals solch eine Einstellung zutraute, wuchs mein Glück jeden Tag etwas mehr, wenn ich bei ihm sein konnte.

Ich striegelte Abraxis und Akira und sah nach Scheuerstellen, die ich behandelte, ich putzte Balu die Hufe mit dem Hufkratzer und bürstete seinen Schweif, ich führte Abraxis auf die Koppel, um ihn zu reiten. Ich schleppte Mist und ich schleppte neues Heu herbei. Ich teilte Futter aus. Ich versorgte das Kleintiergehege und war überaus fleißig. Ich tat alles, wozu mich Berret aufforderte und wartete auf den Augenblick, an dem wir beide nachmittags am Zaun lehnten und zufrieden und glücklich die Pferde auf der Weide beobachteten, wie sie ihre Freiheit genossen. Der verschwiegenste Glücksmoment aber war, wenn Berret den Arm über meine Schulter legte und er dort kurz verharrte. Dann träumte ich davon, immer mit ihm zusammen zu sein. Das Beste waren jedoch unzweifelhaft unsere gemeinsamen Ausritte, Seite an Seite mit den Pferden. Ich ritt meistens auf Akira. Der Name heißt „Die Strahlende“ und ich strahlte innerlich. Ich fühlte mich aufgewertet, stolz und lebendig. Das Leben konnte gelingen. Alles war gut.

Es ging lange so mit uns. Viele Monate, ich glaube, fast ein Jahr liebte ich Berret mit meiner neu erwachten Mädchenliebe, ohne es ihm direkt zu sagen. Er hatte über die geheime Liebesbotschaft geschwiegen. Wahrscheinlich erhielt er häufig solche Nachrichten. Zu meinem Glück fehlte mir aber nichts. Ich war jung. Ich hatte Zeit. Aber es beunruhigte mich und versetzte mir einen Stich ins Herz, wenn Berret manchmal mit den angestellten Erzieherinnen flirtete. Ich hatte Angst, ihn zu verlieren. Ich begann, für mein Glück zu kämpfen. Zu viel hatte ich schon im Leben verloren. Ich fühlte mich den Erwachsenen bald gleichberechtigt und ebenbürtig. Ich wollte die Kindheit hinter mir lassen.

DIE PRÜFUNG

(Berret)

Ich, Berret Gardot, hegte bald eine besondere Zuneigung zu dem Mädchen Xavelia. Aber ich beschäftigte mich nicht sonderlich mit dem Gefühl. Ich stürzte mich heftig in die Arbeit. Davon hatte ich genug. Ich stürzte mich auch in eine kurze Affäre mit einer hübschen, jungen Mitarbeiterin. Ich wusste, ich hatte Chancen bei den Frauen. Wirklich einlassen wollte ich mich jedoch nicht. Niemand berührte wirklich mein Herz. Xavelia ist die Einzige geblieben, an die ich mich band und deren Anwesenheit mich dauerhaft hätte glücklich machen können.

Als wir uns nahe kamen, begann ich den Altersunterschied zwischen uns nach und nach zu vergessen. Ich vergaß auch, dass ich als angehender Lehrer ihr gegenüber besondere Distanz hätte wahren müssen. Sie begegnete mir jedoch auf gleicher Augenhöhe, wie ich verwundert feststellte. Ich hatte ein wirkliches Gegenüber, wie mir schien. Sie war gradlinig. Sie ließ sich nicht belügen. Sie war aufmerksam und hatte feine Antennen. Sie merkte sofort, wenn etwas Unausgesprochenes die Atmosphäre störte und sie hatte den Mut, es anzusprechen. Dafür nötigte sie mir Bewunderung ab. Sie konnte aber bei anderen wild und unberechenbar sein.

Sie prüfte lange, ob die Menschen vertrauenswürdig waren, und wenige bestanden die Prüfung. Ihre Schroffheit anderen gegenüber war im Haus bekannt und manche fürchteten sich vor ihr. Man hielt sie für schwierig. Man hielt sie für hart, kalt und berechnend. Doch es war Selbstschutz. Sie hatte ein verwundetes Herz. Wenn sie sich bei mir aufhielt, zeigte sie ihre ganz andere Seite. Sie näherte sich mir vorsichtig und aufmerksam, wie sie sich den Tieren näherte. Sie legte die raue und harte Schale ab, sie öffnete sich und ließ mich in ihr Inneres blicken. Dort sah ich ein Wesen, das beides war, zornig und traurig zugleich, das unter der Trennung ihrer Eltern gelitten hatte, das sich Sorgen um die Mutter und die Geschwister machte, das den fremden Partner in der Familie nicht akzeptieren konnte, das immer noch litt, weil es durch Gehörverlust und die fehlende Sprache von der Welt ausgeschlossen war. Ich erlebte eine einsame Xavelia, die sich schon mal an meiner Schulter ausweinte, aber auch eine starke und liebesfähige Xavelia, die all ihre Gefühle tief in ihrem Inneren verbarg. Vor allem aber konnte sie eine unbändige Lebensfreude entwickeln.

Ich sah auch mich neben ihr. Ich war ihr voraus an Erfahrung, nicht aber an Stärke. Ich war ihr voraus an Lebensjahren, nicht aber an Mut. Merkwürdig, diese Einsamkeit, die sie empfand, war auch meine Einsamkeit.

Ich, Berret, war mit meinen Eltern in einer Heimschule groß geworden. Ich konnte als kleines Kind sehr bald sprechen. Die Sprache wurde mein Element. Dies verleitete meine Umgebung dazu, mich zu bewundern und mir sehr viel zuzutrauen. Doch auch ich vermisste die Liebe meiner Eltern schmerzlich Ich musste sie von Geburt an mit einer Schar fremder Kinder teilen. Das wurde mir bewusst. Fremde Kinder im Haus meiner Eltern, die ihre gesamte Zeit und Zuwendung fraßen wie ein Heuschreckenschwarm. Ich war ihrer oft überdrüssig gewesen. Wie vereinsamt ich war, wurde mir durch Xavelia, klar, als ich sie einmal weinen sah. Auch ich vertraute mich ihr dann an und seit diesem Zeitpunkt waren wir unzertrennlich. Xavelia begann mir immer mehr ihren weichen Kern zu zeigen: ihre Sanftheit, ihre Treue, ihre Fähigkeit zu trösten, wie sie es schon lange bei den Tieren tat.

Meine eigene Zuneigung war plötzlich in gefährliches Fahrwasser geraten. Ich begann ihr immer mehr Platz in meinem Leben einzuräumen. Auch sah ich, wie Xavelia mir mit ihren Blicken eindringlich zu folgen begann. Ich roch den Wind ihrer Nähe, der aus den Tropen zu kommen schien und alle Gerüche üppiger Vegetation und den Geschmack von kostbaren Gewürzen mitbrachte. Doch ich klammerte mich an meinen Verstand und verwarf mit aller Kraft den Wunsch, mich ihr noch mehr zu nähern. Trotzdem konnte ich mir selbst nicht verbergen, dass ein Sog entstanden war. Wir begannen, uns Briefe zu schreiben. Sie offenbarte ihre kleinen Geheimnisse und ich antwortete ihr, indem ich ihre Rechtschreibung verbesserte und Zeichen der Zuneigung hinzufügte, die sie zu deuten wusste. – Wir erfanden einen Geheimcode. Für mich war es noch ein Spiel. Wie oft hatte ich mich in meiner Jugendzeit, die noch nicht so lange zurück lag, auf solche Spiele mit den Mädchen im Hause eingelassen.

Die Grenzen verwischten sich. Ich stürzte mich weiter in so viel Arbeit, wie möglich und redete mir ein, der Zustand ginge bald wieder vorüber, wie es immer war. Ich reparierte Autos von Freunden, wozu ich eine große Begabung hatte. Ich gab Reitkurse. Ich machte die Buchhaltung des Hauses bis tief in die Nacht. Meine Arbeit in Schule und Wohnbereich musste ich zu eingeteilten Zeiten erfüllen.

Zu den Aufgaben im Wohnheim, in dem ich ab dem Nachmittag tätig war, gehörte auch das Zeremoniell am Abend. Die Kinder und Jugendlichen wurden mit besonderer, persönlicher Zuwendung in die Nacht verabschiedet. Man sprach mit jedem ein nettes Wort. Manche erhielten medizinische Anwendungen oder Medikamente. Xavelia erhielt abends ein Fußbad und man massierte anschließend ihre Füße mit einer Salbe ein, um die Schwielen zu behandeln, die sie von der Arbeit in Hof und Stall davongetragen hatte. Sie mutete sich viel zu. Ich durfte diese Zeremonie einmal übernehmen. Es war ein Abend, bei dem wir eine Intimität erlebten, die den Abstand noch mehr verringerte. Wir sahen uns schüchtern und verschämt in die Augen, in denen wir unsere Gefühle lesen konnten, wenn wir wollten. Aber ich wollte sie nicht wahrhaben. Ich ging schnell davon.

Es geschah an einem Abend, als meine Eltern im Theater waren und ich die Aufgabe übernommen hatte, sie zu vertreten. Ich schaltete gegen 23.00 Uhr den Computer aus und machte noch handschriftliche Aktennotizen. Das Haus war still. Alles schlief. So schien es. Ich wollte bald das Licht löschen. Da sah ich Xavelia über den dunklen Gang auf mich zukommen Sie kam wie eine Elfe zu mir geschwebt und setzte sich auf meinen Schoß. Sie umschlang mich und weinte still und untröstlich an meiner Schulter.

Sie gestand mir, dass sie verzweifelt sei wegen unseres Altersunterschiedes, dass sie sich innig wünschte, älter zu sein, weil es ihr dann erlaubt sein würde, immer mit mir zusammen zu sein. Dann gab sie mir einen Kuss auf die Wange und verschwand wieder im dunklen Gang. Ich hörte, wie die Treppe nach oben leicht knarrte. In dieser Nacht tat ich kein Auge zu. Die Dämme waren gebrochen. Hatten wir uns vorher nicht immer wieder ohne Absicht liebevoll berührt, aber so getan, als wäre die Berührung zufällig? Waren wir nicht längst schon eine heimliche Einheit geworden?

Es war geschehen und nicht mehr ungeschehen zu machen. Ich habe ihr Geständnis unwidersprochen angenommen. Jeder weitere Schritt war strafbar. Ich wollte die Grenzen zwischen uns nicht überschreiten, aber gleichzeitig wollte ich sie lieben mit meinem ganzen Herzen, mit aller Kraft, aber ich würde mit ihr zusammen ins Unglück stürzen, wenn ich nichts dagegen unternahm. So sollte es auch kommen, obwohl ich zunächst das Verhängnis abwehren konnte. Aber ich tat wohl nicht das Richtige: mich meinen Eltern anzuvertrauen. Warum tat ich das nicht?

DIE FLUCHT

(Berret)

Ich, Berret Gardot, wollte nicht die Gesetze übertreten. Ich wollte uns vor unüberlegten Handlungen schützen. Noch sah ich klar. Ich wollte der unerlaubten Liebe entfliehen. Wusste ich doch, dass ich laut Gesetz und als Lehrer und Erzieher der Einrichtung keine Verbindung mit einer Schülerin eingehen durfte. Am nächsten Morgen erbat ich mir dringlich eine Auszeit von meiner Anstellung als Praktikant. Ich wollte Bedenkzeit. Ich sprach mit solcher Dringlichkeit, dass mein Vater einwilligte, ohne eine Frage zu stellen. Wahrscheinlich hatte er verstanden, was in mir vorging, denn sein Blick ruhte länger auf mir als sonst. Hätte er doch nur Fragen gestellt! Aber er tat es nicht und im Innern war ich froh und erleichtert darüber. Ich hob mir ausreichend Geld von meinem Konto ab, nahm meine Papiere, schnürte heimlich meinen Rucksack und mein Zelt. Ich buchte einen Flug nach Andalusien. Ob ich zurückkehren würde, wusste ich nicht. Xavelia ging ich an diesem letzten Tag aus dem Weg und schrieb ihr in der Nacht vor meiner Abreise folgenden Brief:

„Liebe Xavelia,

Du musst jetzt stark und tapfer sein. Ich bin verreist und habe diese Entscheidung bei Nacht und Nebel getroffen. Ich tue es für uns beide. Du hast mir Deine Liebe erklärt und ich liebe Dich auch. Du wirst es sicherlich verstehen. Aber ich muss verreisen, um Zeit zum Nachdenken zu haben. Ich möchte nicht, dass Dir und mir ein Leid geschieht. Ich möchte, dass unsere Liebe eine wirkliche Chance hat. Diese Reise fällt mir schwer. Fern von Dir zu sein, ist ein unerträglicher Gedanke! Ich habe den großen Wunsch, dass Du mir glaubst, dass ich diese Entscheidung nur aus Liebe getroffen habe. Betreue unsere Tiere gut, so, als wäre ich da. Ich vertraue Dir Abraxis an, mein Pferd. Sorge gut für ihn. Es kann lange dauern, bis ich wieder zurück bin. Aber ich komme, wenn die Zeit dafür besser ist als jetzt,

Dein Berret“

Zwei Stunden später startete ich heimlich und leise. An der Straßenecke wartete mein Freund Paul mit seinem Auto. Paul fuhr mich zum Flughafen. Er war der Einzige, den ich in die Situation halbwegs einweihte. „Paul“, sagte ich zu ihm, „ich muss hier weg! Ich bin in eine Sache hineingeschliddert, aus der ich nicht mehr heraus komme. Gefühle, weißt du! Verbotene Gefühle! Heute Nacht geht mein Flug“.

Er sah mich an, ohne zu fragen. „Verstehe“, antwortete er nur. „Ich bringe dich zum Flughafen“.

„Danke“, sagte ich. „Ich weiß nicht, ob ich zurückkomme“

Paul wartete pünktlich auf mich an der Straßenecke. Wir schwiegen während der ganzen Fahrt. Als wir uns am Flughafen verabschiedeten, klopfte er mir Mut machend auf die Schultern. „Alles Gute“, sagte er, aber es war so ernst gemeint, wie es ein Freund nur meinen kann.

Ich war froh, dass er nichts gefragt hat und dass ich den Namen „Xavelia“ nicht aussprechen musste. Ich verließ Deutschland. Ich bewunderte die Leichtigkeit, mit der das Flugzeug von der Erde abhob, in mir sah es anders aus. Als das Flugzeug von der Erde abhob, erfasste mich ein nie gekannter Schmerz, so, als reiße er mich auseinander. Eine Hälfte blieb bei Xavelia auf der Erde, die andere floh vor einer unüberwindbaren Leidenschaft in dunkle Wolken davon. Vier Stunden später kam ich in Sevilla an. Dort schien die Sonne. Ich hatte vor, nach Cadiz weiterzureisen. In Cadiz hatte ich einmal das wilde Leben genossen und diese Stadt als Ort der Ablenkung und Zerstreuung tief im Gedächtnis behalten. Ich hätte also gleich nach Cadiz weiterreisen können. Aber irgendetwas in mir wollte noch Zeit gewinnen.

In Cadiz hätte es herrliche Strände gegeben, der alte Stadtkern mitten auf einer Landzunge zwischen Wassern erbaut. Vom Hafen fahren Schiffe nach Afrika und den Kanarischen Inseln. Vielleicht sollte ich mich absetzen. Nie mehr zurückkehren. Der Gedanke schmerzte. Nadelstiche. Xavelia nähte eine Naht in mein Muskelgewebe, das sich Herz nannte. Mitten in meiner Brust klaffte, für andere unsichtbar, die ungelenk vernähte, weiter blutende Wunde.

In die Tasche hatte ich Landkarten eingepackt. Vorsorglich. Vielleicht zöge ich auch gegen Norden. Ich hatte gehört von der Ruta de la Plata, der Silberstraße in die Einsamkeit. In das Bergland zur portugiesischen Grenze. Und dann immer der Grenze entlang. Eine Gratwanderung, vielleicht nach Santiago de Compostela. Wochenlang gehen, alleine gehen, den Absturz riskieren, die Gefahr spüren, Einsamkeit. Das wollte ich. Ich spürte es dunkel, noch ungeboren in mir: Ich, Berret Gardot, vierundzwanzig Jahre alt, sollte aufbrechen. Ich sollte meine Familie verlassen und mein geliebtes Zuhause, meine Tiere, mein Pferd, die Weite der Hochebene, den Blick auf die Alpen, um nie mehr zurückzukehren. Ich gehe, um erwachsen zu werden, auch wenn die Nadelstiche hundertfach mein Herz durchstechen.

Wege der Einsamkeit sollte ich gehen, dessen war ich mir jedenfalls sicher, als das Flugzeug in Sevilla zur Landung ansetzte. Es war früher Morgen. Ich suchte mir ein Quartier. Am Abend auf den quirligen und belebten Straßen von Sevilla, wo das Leben pulsierte, auf der Plaza, auf der ich mich bis weit in die Nacht herumtrieb, kamen mir dann doch Zweifel.

Die Musik der Flamencos und der Fandangos, die Tänze auf den Straßen versetzten mich in einen Rausch und verführten mich zu bleiben. Ich fand mich zu jung, um mich wirklich der Ernsthaftigkeit meiner Situation zu stellen. Ich erlag der Verführung und der Oberflächlichkeit. Ich war nicht mehr gewillt, meine Zukunft mit Nadelstichen im Herzen zu leben. Ich wollte vergessen! Statt in die Einsamkeit der Berge trieb es mich in die lebhafte Stadt. Dort, dachte ich, könnte ich am besten vergessen. Ich stürzte mich ins Nachtleben. Den einsamen Weg ins Gebirge, die Ruta de la Plata entlang der portugiesischen Grenze sollte ich Jahre später erst später gehen.

Ich durchlebte die Nächte bei Festen und Feiern, wie sie im Sommer in Sevilla üblich sind. Ich tanzte mit den Frauen aus Sevilla Flamenco, sah bunt bemalten Fächer vor ihren schwarzen Augen wedeln und hörte das Klappern der Kastagnetten in ihrer Hand. Ich ließ alles hinter mir. Dann schloss ich mich einer Gruppe junger Leute an, die den Sommer am Meer verbringen wollten. So reiste ich doch noch nach Cadiz. Immer waren junge Menschen um mich, Mädchen, dunkle Schönheiten. Das Leben der Jugend Andalusiens war frei und ohne Tabus. Ich teilte es. Aber ich vergaß trotzdem nicht. Die Stiche im Herzen kehrten zurück. Sie kamen meistens in der Nacht. Irgendwann wusste ich, dass ich verlieren würde gegen das Erinnern.

Eine Entscheidung musste getroffen werden: Rückkehr oder Weiterreise! Am Ende meiner Reisezeit stand ich am Kai von Cadiz und sah den Schiffen nach, die zu den Inseln oder nach Afrika aufbrachen. Ich trieb mich jetzt stundenlang dort herum. Ich schlief eine Nacht in der Bucht nahe am Hafen, eingewickelt in meinen Schlafsack, und hörte den Wogen des Wassers zu. Ich lag dort lange und dachte an Xavelia. Wenn man eine tiefe Verbindung eingegangen ist, wie Xavelia und ich es getan hatten, kann man sie nicht so leicht lösen. Ich nahm mir viel vor.

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Возрастное ограничение:
0+
Дата выхода на Литрес:
22 декабря 2023
Объем:
211 стр. 2 иллюстрации
ISBN:
9783961456338
Издатель:
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