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DAS BILDNIS

(Berret)

Ich sehe mir die alten Fotografien an, sehe dein Bildnis als Jugendliche und dein Bildnis als Frau. Auf einem Foto, zur Zeit, als du mir das erste Mal begegnet bist, sehe ich dich als groß gewachsenes, schlankes Mädchen mit dichtem, braunem Haar, das weit über den Rücken fällt und das Oval deines Gesichtes umhüllt. Aufmerksam blickst du in die Welt. Auf deiner letzten Fotografie, mehr als zwei Jahrzehnte später, sehe ich dich als erwachsene Frau, aber unverändert derselbe Blick, dieselben Augen, klar und direkt blicken sie mich an. Der Schleier aus deinem braunen, langen Haar ist jetzt durchzogen von einzelnen Silberfäden.

Du könntest meine Frau sein, wenn alles anders gekommen wäre. Wir hätten eine Familie gegründet. Wir hätten möglicherweise zwei oder drei Kinder, wenn ich vernünftig und verantwortlich gehandelt hätte. Wenn ich erwachsen und reif gehandelt hätte. Aber es war anders gekommen. Wir hatten geträumt. Wir lebten für einige Zeit in einer anderen Welt, fernab von der Wirklichkeit. Uns hätte am Schluss nur noch die Flucht gerettet.

Wir planten, zu verschwinden. Einfach so, für drei Jahre – irgendwohin nach Andalusien, nach Südamerika, nach Indien, vielleicht auch nur in die tiefe Bergwelt der Abruzzen. Wir beide, Naturkinder damals, mit Wenigem zufrieden, nur mit uns selbst. Wir hätten mein Zelt mitgenommen und unsere Decken, zwei Kochtöpfe, Trinkbecher und Besteck. Wir hätten uns drei Jahre von Wurzeln ernährt und von Früchten oder von den Fischen im Bach. Wir wären durch die tiefen Wälder gewandert, ein Zelt auf dem Rücken, von Quelle zu Quelle.

In den Nächten hätten wir den Frieden der Welt beschworen und die ewige Liebe. Ab und zu wären wir im Trubel einer Stadt untergetaucht. Wir hätten auf dem Marktplatz für einen Nachmittag getanzt und Volksfeste mitgefeiert. Wir hätten uns Dome angeschaut und Häfen, wären mit dem Schiff über einen Fluss entkommen. Wir wären in stille Bergseen eingetaucht und dann wieder in der Dunkelheit der Wälder oder in die Einsamkeit der Berge verschwunden. Drei Jahre hätten wir das durchgehalten, auch ohne die Pferde und den Hund. Wir hätten vielleicht zwei neue Hunde gefunden, Streuner in Spaniens Straßen, abgemagert und verlaust. Wir hätten sie gesund gepflegt.

Wir wären Jäger, Sammler und Fischer geworden – für drei Jahre, und du hättest vielleicht Armbänder geflochten, wie du es in Vierundzwanzig Höfen gerne getan hast, um sie zu verkaufen. Dann erst wären wir wieder zurückgekommen. Die Vermissten, die Betrauerten. Der verlorene Sohn, die verlorene Tochter. Dann hätten wir mit dem Segen der Eltern zusammengelebt, ohne Strafe durch das Gesetz.

Wenn, ja, wenn die Katastrophe nicht eingetreten wäre – oder wenn ich mich mutiger und stärker erwiesen hätte. Ich träumte und ich träume immer noch. Einmal im Jahr wenn ich deinen Brief erwarte.

Ich betrachte dein Bildnis immer noch und vergleiche es mit früheren Bildern: dein dichtes Haar, die Linie deiner Nase in deinem Profil – eine gerade Linie – unverbogen wie dein Herz. Deine Augen, sie blicken in die Welt, und sie sehen sie, wie sie ist. Nicht nach innen gewandt, dein Blick, sondern nach draußen: zu dem Pferd, an das du dich lehnst, zu den Hunden, die spielten, zu mir, der ich den Wagen mit Holz belud. So wach und furchtlos schaust du in den Tag hinein, heute noch genau so wie früher.

Ich erkenne auf dem Foto deine immer noch schlanke Gestalt und deine Hand, die fest die Zügel deines Pferdes hält. Das Pferd steht ruhig, dankbar, geführt zu werden von dir. Ich erinnere mich an deine Hände, die Nüstern streicheln und Äpfel reichen, die eine Decke über den schweißbedeckten Körper eines Pferdes legen und frisches Stroh in die Box. Du, ein Wesen, das mit festen Schritten kommt und geht. Ich sehe uns ausreiten mit unseren Pferden. Wir fliegen dahin. Mit langen Beinen und schlanker Hand führst du, ohne darüber nachzudenken und ohne Arglist, Regie.

Ja, über die Pferde haben wir uns kennen gelernt. Nachdem wir uns zwangsweise lange Zeit nicht mehr sehen durften, begann die erste Zeile deiner Nachricht mit dem Namen meines Pferdes in unserem damaligen Zuhause, das mittlerweile zerfallen ist und nicht viel mehr als Wildnis. „Ich weiß, wie Dein Pferd hieß in Vierundzwanzig Höfen und ein Geheimnis von uns beginnt mit dem Buchstaben ‚M‘. Wer bin ich?“ Mit diesen Worten wolltest du dich mir zu erkennen gebe.

Als ich die Botschaften las, wusste ich, Xavelia ist es. Sie hat sich wieder gemeldet. Sie hat den Schritt getan, der mir verwehrt geblieben wäre. Sie musste den ersten Schritt gehen und ich musste darauf warten – und ich hoffte und glaubte, dass alles wieder von vorne beginnen könnte. Sie war damals achtzehn Jahre alt. Meine Hoffnungen sollten mich trügen. Nie mehr ist sie ganz zurückgekehrt. Nie mehr wurde es wie damals. Denn zwischen uns standen der Schmerz und der Verrat, den ich aus Feigheit beging. Ihr Bildnis aber ist mir geblieben: Xavelia mit wehenden Haaren auf dem Pferd. Xavelia, schlank und stark wie eine Kriegerin. Xavelia in Jeans und Reitstiefeln. Xavelia, die sich nicht um ihre Schönheit bekümmerte. Xavelia, ein Naturereignis.

KINDHEIT

(Xavelia)

Ich bin Xavelia, das Kind und die Jugendliche, ich bin Xavelia, die Frau, von der Berret spricht. Xavelia, die immer noch schwere Träume hat. Xavelia, von der Berret glaubte, sie käme zurück. Ja, wie gerne wäre ich zurückgekommen. Berret ist der Mensch, der mich am besten kennt. Berret ist mir am nächsten, und ich glaube, dass auch ich die wichtigste Person für ihn bin. Seit damals. Ein Kind noch, sagte man. Aber ich glaube nicht, dass ich noch ein Kind war.

Niemand konnte mich zähmen. Ich hatte meinen Willen. Ich passte mich nicht an. Nicht an die Schulen, in die man mich steckte und nicht an das Familienleben zu Hause, nicht an den Tagesablauf in den Heimen und Internaten, in denen ich notgedrungen lebte, und auch nicht an die Liebe von Eltern und Geschwistern.

Meine Freiheitsliebe war ungebrochen und ungebremst. Ich ließ mich von Menschen nicht einengen. Ich hatte das Vertrauen verloren, dass sie es gut mit mir meinten, aber nicht meinen starken Charakter. Seit damals, als ich vor Kopfschmerzen zu schreien begann und niemand mir half, als ich Teller und Tassen zerschmetterte, wenn der Schmerz unerträglich wurde und man mich für böse hielt, hatte ich mich von den Menschen zurückgezogen. Niemand wusste, was ich durchmachte, weil es in meinen Ohren dröhnte und in meinem Kopf hämmerte.

Es waren die Tiere, die mich von meinem Unverstandensein erlösten. Die Tiere und ich, wir fanden uns, als ich mit acht Jahren in die Heimschule kam. Sie verstanden mich. Ihnen passte ich mich an.

Meine Mutter erzählte mir, dass ich krank geworden bin. Als kleines Kind hatte ich das Gehör verloren. Ich habe viel geweint, ja, so viel geschrien, bis sie mein Geschrei nicht mehr ertrug. Ich habe gebissen und um mich geschlagen und auch mit Gegenständen geworfen, wie schon berichtet. Sie ist mit mir von Arzt zu Arzt gegangen und von Klinik zu Klinik, alleine, denn meine Eltern lebten zu der Zeit schon getrennt. Alle Diagnosen trafen nicht zu. Später gab man einer Masernerkrankung und einer darauf folgenden Hirnhautentzündung die Schuld. Fest steht, dass ich immer wilder wurde und nicht aufwuchs wie die anderen Kinder. Ich hatte das Gehör verloren. Weil ich nicht mehr hörte, was man sprach, konnte ich mir die Welt auch nicht erschließen. Ich verlernte die Sprache ganz.

Ich wusste lange Zeit nicht, was die Welt von mir wollte. Ich bekam ein Hörgerät und riss es mir wieder aus den Ohren. Ich wehrte mich und biss, weil niemand, gar niemand an meinen inneren Gedanken und Gefühlen teilhaben konnte. Deshalb habe ich die Tiere entdeckt. Denn die Tiere ließen mich in Ruhe und sendeten Botschaften aus, die ich verstand. Sie waren einfach und klar. Sie wollten Nahrung und Zuwendung, Bewegung und Spiel und wenn sie müde waren, ihre Ruhe. Jedes Tier hatte seine besondere Eigenart, aber darin waren sie sich alle gleich. Sie waren wie ich. Ich war wie sie.

Im Steidelhof, der Heimsonderschule für Hörgeschädigte, in die mich meine Mutter irgendwann brachte, kam ich zum ersten Mal mit den Tieren in Berührung. Er befand sich am Rande einer Ortschaft, mitten in den Wiesen gelegen, und bestand aus dem Schulgebäude, fünf Wohnhäusern, in denen die Hauseltern mit den Schülerinnen und Schülern lebten und einem großen Gehöft. Dort durfte ich den Tag mit den Tieren verbringen. Ich blieb bis zu meinem dreizehnten Lebensjahr.

Die Tiere ersetzten mir bald alles. Sie hörten auf mich, sie trösteten mich – und ich lernte, sie zu versorgen. Sie wurden meine Weggefährten und meine Aufgabe. Ich hielt mich im Schafstall auf und sah, wie die Lämmer zur Welt kamen. Ich strich über das Fell der Kälbchen, wenn sie, nass und wacklig, sich zum ersten Mal auf ihre Füße stellten. Ich ging zu den Fohlen auf die Weide und sah, wie die Stuten sie säugten. Ich konnte bald mit den wildesten Hunden und den schwierigsten Pferden umgehen. Sie wurden sanft und anhänglich mir gegenüber. Ich hatte meine Welt gefunden. Ich brauchte die Menschen nicht mehr.

Gleich zu Beginn lernte ich reiten. Rasch übernahm mein Körper den Rhythmus des Pferdes. Nie hatte ich Angst. Ich hatte eine geschickte Hand und starke Nerven. Das merkte auch der Tierarzt und ich stand ihm bald zur Seite. Ich hielt die Tiere fest, die behandelt werden mussten, und ich beruhigte sie mit Streicheln oder reichte dem Tierarzt die chirurgischen Werkzeuge, die er manchmal benötigte. Ich war zehn Jahre alt, als ich bei der ersten Operation assistierte. Ich tat dies, ohne mit der Wimper zu zucken.

Mittlerweile hatte ich auch das Hörgerät akzeptiert und die Sprache erlernt. Ich begann zu lesen und zu schreiben. Man gab mir Einzelunterricht. Aber an die anderen Kinder schloss ich mich nicht an. Meine Freunde blieben die Tiere, vor allem aber die Pferde. Ich bekam ein eigenes Reitpferd zugeteilt. Eine Einheit werden mit ihm, sein Wesen verstehen, dahin reiten im Trab, im Galopp, im ruhigen Schritt, ihm Futter geben, es abtrocknen, seine Nüstern an meinen Ohren spüren, sein Wiehern, wenn ich kam, das war Glück. Das war tiefe Freude. Ich lebte mein eigenes Leben mit den Tieren fernab von den anderen Kindern – und so blieb es, bis ich den Steidelhof verließ. Ich war noch ein Kind, aber trotzdem kein Kind mehr. Ich war ein Kind, weil ich die Welt noch nicht kannte und noch unerfahren war. Aber ich war auch kein Kind mehr. Denn ich hatte Verantwortung übernommen. Die Erfahrung mit den Tieren hatte mich stark gemacht. Ich war mutig und traute mir das Leben zu. Ich lernte die Anhänglichkeit meiner Tiere kennen, die Verlässlichkeit des Lebens sowie die Achtung und den Respekt, mit dem unser Tierarzt mir begegnete, dem ich immer fachkundiger assistierte. Ich wurde seine rechte Hand.

Ich lebte dort sehr selbstbestimmt. Denn ich ließ mich nicht mehr erziehen. Meine Mutter scheiterte an mir und meiner Widerstandskraft. Sie hatte aus Unwissenheit und Hilflosigkeit vieles falsch gemacht. Ein Zurück gab es vorerst nicht mehr. Ich besuchte meine Mutter in den Ferien. Mein Vater hatte mittlerweile eine neue Familie gegründet. Ich sah ihn an Weihnachten, außer er kam zu Besuch in den Steidelhof, um dort über meine Zukunft zu reden, was er zuletzt immer häufiger getan hatte.

Es wurde über meine Berufsausbildung nachgedacht. Im Privatunterricht hatte ich alles notwendige Wissen nachgeholt. Ich ging im letzten Jahr zur Schule, um mich an die Gemeinschaft zu gewöhnen. Ich trat nicht mehr und biss nicht mehr. Ich hielt das Gefühl aus, in einen Klassenraum zu bleiben, ohne mich eingesperrt zu fühlen. Meine Mutter und auch mein Vater waren glücklich über meine Entwicklung. Ich sollte auf eine weiterführende Schule gehen und sie mit der mittleren Reife abschließen. Dann konnte ich Tierpflegerin oder speziell Pferdepflegerin werden. Das waren auch mein Wunsch und mein fester Wille, mein Lebenstraum. Den Traum habe ich auch verwirklicht. Heute besitze ich meinen eigenen kleinen Reiterhof. Ich habe alles erreicht, was ich mir vorgenommen und erträumt habe. Nur eines fehlt mir. Eines ist zu Bruch gegangen bei der alten Geschichte, die so lange zurückliegt und doch immer noch so nah ist.

Einen Wunsch konnte ich mir nicht erfüllen – und er steht zwischen Berret und mir. Er weiß es nicht. Ich habe es ihm nie gesagt. Ich habe nie darüber sprechen können. Es gibt einen Schmerz, der in meiner Seele sticht, wie viele spitze Nadeln und ich spüre das Stechen besonders in den langen Nächten, wenn die Träume wieder kommen und keine Ruhe geben. Ich werde wahrscheinlich keine Kinder bekommen. Ich wäre so gerne Mutter geworden. Ich sehne mich nach einem Kind, es ist ein großer Verlust für mein Leben und ich gebe die Schuld daran der tragisch geendeten Beziehung meiner frühen Jugend. So lebe ich denn mit meinem eingekapselten Kummer und zeige ihn nach außen nicht. Was hätte es geändert und was würde es ändern?

Immer wieder, so dachte ich, würde ein Schatten unseren Tag verdunkeln, wenn ich seinen Antrag annehmen und mit ihm zusammen leben würde. Deshalb zog ich irgendwann eine Trennungslinie und stürzte mich in das wilde Leben der Jugend, die ich nachzuholen versuchte. Außerdem kam mir der Liebhaber meiner frühen Jugend damals so gereift, so wesentlich älter vor, als ich mich mit achtzehn, neunzehn, zwanzig Jahren empfand. Wie kann es sein? Hatte ich mich so getäuscht? Wie hatte ich ihn geliebt!

Ich wolle, ja ich musste meine Jugend nachholen, nachdem ich die zurückliegenden Jahre von Erziehern und dem Jugendamt überwacht so unfrei gelebt hatte. Deshalb bin ich bald Beziehungen mit Gleichaltrigen eingegangen. Ich kehrte aber eine Zeitlang immer zu Berret zurück, weil ich mich auch nicht lösen konnte. Aber es kam der Tag, an dem ich ihn endgültig verließ. Auch Berret konnte das Hin und Her nicht mehr ertragen. Ich ging meinen eigenen Weg, obwohl wir beide die Verbindung nie ganz aufgeben konnten. Wir schrieben uns Briefe, aber leben konnten wir nicht miteinander. Nur so, auf die Entfernung, konnten wir die vergangenen Jahre in Ruhe leben. Ich hatte mich dafür entschieden, so lange zu warten, bis mir meine Gefühle vielleicht einen anderen Weg ermöglichen würden.

DIE BEGEGNUNG

(Berret)

Ich stehe am Fenster und betrachte den Sternenhimmel. In der Villa meiner Großmutter habe ich das oberste Stockwerk ausgebaut wie ein Planetarium. Über mir eine Glaskuppel. Um mich herum riesige Fenster. Ich stehe an einem dieser Fenster ganz allein. Ich und das Weltall. Das Weltall und die Vergangenheit. Die Vergangenheit und das Leben. Das Leben und der Tod.

Meine verstorbene Großmutter ist wieder im Raum. Sie ist zurückgekehrt, um mir die Hand aufzulegen und mir zu verzeihen. Mein Vater ist da und spielt wieder Cello, meine Mutter sitzt am Webstuhl und webt und webt, und dann sehe ich das Wohnhaus, wieder in „Vierundzwanzig Höfe“ am höchsten Punkt des Hügels – und ich sehe die schneebedeckten Berge hervortreten aus der Dunkelheit. Weiß leuchtet der Schnee und blutrot war der Himmel über dem Tal, als die Sonne aufging. Der Tag bricht an. Xavelia kommt.

Sie ist angemeldet zum Probewohnen. Sie trägt einen rotweiß karierten Koffer in der rechten Hand und in der linken Hand einen offenen Korb mit einem Kaninchen. Ich soll das neue Mädchen empfangen. Ich bin sehr gespannt. Die Begrüßung neuer Schüler und Schülerinnen ist im Allgemeinen schon ein Grund leichter Anspannung. Wer kommt? Welche Persönlichkeit bringen die Neuen mit? Wie leben sie sich ein? Welche neuen Erfahrungen werden wir miteinander machen? Auf welche Art und Weise wird sich unser Zusammenleben ändern? Denn jeder Mensch bringt eine solch individuelle und einzigartige Lebensgeschichte und seinen einmaligen Charakter mit, der niemals ersetzbar oder austauschbar ist. Ich spürte aber zusätzlich zu diesen Fragen sofort, dass mich die neue Schülerin tief beeindruckte, ja faszinierte.

In Erinnerung ist mir alles gegenwärtig. Ich sehe ihre schöne Gestalt, ihren stolz aufgerichteten Nacken, ihren forschenden, abwartenden, angstfreien Blick. Sie geht keinen Schritt auf mich zu. Sie bleibt mitten im Hof, vor dem Auto, das sie hergebracht hat, stehen und wartet. Sie ist noch nicht gewillt, ihre langen Beine in Bewegung zu setzen. Deshalb muss ich gehen. Ich, Berret. Ich bewege mich langsam und bedächtig auf sie zu. Sie erinnert mich an einen Stern mitten im Weltall, und um sie herum die anderen Sterne Lichtjahre entfernt. Sie leuchtet. Aber sie weiß es vermutlich nicht. Ich befürchte, dass sie gleich wieder verschwindet wie eine Fata Morgana, sich umdreht und in das Auto einsteigt, zuerst den Koffer hineinschubst, dann sich selbst hineinsetzt, das Kaninchen im Korb auf dem Schoß.

Ich gehe einen Schritt auf sie zu, bleibe stehen. Warte. Gehe noch einen Schritt. Warte. Gehe zwei Schritte, warte lange. Dann macht Xavelia ihren ersten Schritt in Richtung ihres neuen Lebens hier bei uns. Ich habe gewonnen. Sie kommt mir entgegen. Langsam. Das Kaninchen im Korb zittert. Am Auto, an den alten Mercedes angelehnt, wartet ihr Begleiter, ein Herr Anfang sechzig. Er wacht über sie und ihre Schritte. Bleibt sie? Ich wage ein Lächeln für sie. Ich gehe zwei Schritte, drei. Dann bin ich ihr so nahe, dass ich das Kaninchen berühren kann.

Ich ziehe eines der Zuckerstücke aus meiner Jackentasche, die ich immer für die Pferde dabei habe. Ich frage Xavelia im Scherz: „Das frisst es wohl nicht“ und ich bin überrascht über ihre klare und feste Stimme und ihre nüchterne Antwort: „Gib den Zucker mal den Pferden! Bring bitte mein Kaninchen in das Gehege. Es will wieder seinen Freilauf. Die Reise war lang.“

Xavelia hatte sich also entschieden zu bleiben. Sie ging neben mir zum Gehege und wir ließen das Kaninchen frei. Sie kraulte ihm noch ein wenig das Fell und schon hüpfte es vorsichtig ins Gras davon. Sie reichte mir ihren Koffer und schwieg. Erspüren musste man, was sie wollte, sich einfühlen. Das war die Bewährungsprobe für sie: ob man über die Dinge schweigen konnte und sich trotzdem verständigen.

Ich nahm den Koffer und zeigte ihr das Zimmer. Ich ging voran, aber wenn ich mich umdrehte, sah ich, dass sie mir folgte. Sie folgte mir auf leisen Sohlen. Sie richtete sich häuslich ein und saß schweigend mit uns abends am Tisch. Dort würden wir nach den Ferien bald etwas mehr als zwanzig Personen sein: meine Eltern und ich, zwei Erzieherinnen und die Schülerinnen und Schüler. Sie wohnten mit uns. Sie waren uns anvertraut. Dort saß nun auch Xavelia und nahm ihre samtenen Augen bald nicht mehr von mir. Ich war immer noch der Prinz des Hauses. Der Hoffnungsträger. Als kleiner Junge der Liebling der Eltern, das Lieblingsspielzeug der Schwestern, der Seelenverwandte meiner Großmutter, die schützend bis zum letzten Atemzug die Hand über mich hielt, der glänzende und sprachgewandte Lieblingsschüler und so weiter und so fort. Deshalb war es für mich nichts Außergewöhnliches, dass Xavelias Blick so oft auf mir ruhte.

Die Tage und Wochen vergingen. Xavelia hatte sich ohne viele Worte eingelebt. Am Morgen besuchte sie die Schule, am Nachmittag fand man sie bei den Tieren. Vielleicht wäre auch gar nichts geschehen, wenn Xavelia nicht täglich bei den Pferden aufgetaucht wäre, während ich selbst dort meine Aufgaben erledigte. Ich war verantwortlich für den Reitunterricht und die Pflege und Versorgung der Tiere, und bald war auch Xavelia dort nicht mehr wegzudenken und teilte die Verantwortung mit mir.

Während die anderen Schüler und Schülerinnen sich um die Arbeiten drückten, waren Xavelia und ich in den Ställen und im Gehege meistens alleine und es baute sich nach und nach eine Gemeinsamkeit auf, die immer enger und dichter wurde. Sind Sie schon einmal ausgeritten mit einem mutigen Mädchen? Sind Sie miteinander über die Felder galoppiert? Haben Sie gesehen, wie ihre Hände genau im richtigen Moment die Zügel lockerten und wieder strafften? Wenn nicht, dann urteilen Sie nicht. Schweigen Sie. Sie war jung. Aber auch ich war jung. Zu jung.

Ich begann mehr an sie zu denken, als mir lieb war und sie zu vermissen. Aber noch war mir nicht bewusst, welche Gefahr uns umgab. Sonst wäre ich früh genug geflohen. Dann aber kam jener Abend, an dem meine Eltern ins Theater fuhren und ich sie alleine im Hause vertrat. Ich saß im Büro, das sich im Untergeschoß befand. Ein Stockwerk darüber lag der Schlaftrakt. Ich arbeitete am Computer, was ich immer tat, wenn ich zum Nachtdienst eingeteilt war. Xavelia lebte jetzt schon viele Monate im Haus. Es ging auf den Frühling zu. Wir hatten den Spätsommer, den Herbst miteinander verbracht, sie die Schülerin, ich der Praktikant. Wir hatten die Wälder durchstreift und Bäume zum Abholzen markiert. Wir hatten Brennholz gemacht und für den Winter gestapelt, wir hatten bis weit nach dem ersten Schnee die Pferde geritten und sie dann im warmen Stall abgetrocknet und gefüttert. Wir hatten zum ersten Mal gemeinsam den Weihnachtsbaum geschmückt und die Kerzen angezündet. Sie hatte mich jedes Mal angelächelt, wenn eine neue Kerze entflammte.

Alle wussten, dass Xavelia sich immer, wenn irgend möglich, in meiner Nähe aufhielt, und alle hielten dies für normal. Alle waren froh, dass sie durch meine Anwesenheit so angepasst und freundlich war und ich einen guten Einfluss auf sie ausübte. Nichts und niemand warnte uns. Niemand sah die Gefahr, in der wir uns befanden. Niemand nahm wahr, wie wir immer mehr auf natürliche Weise zusammenwuchsen. Xavelia wurde älter und ging auf das vierzehnte Lebensjahr zu. Sie wurde zusehends Frau: groß und schlank, mit hohen Beinen, aber auch mit weiblichen Rundungen. Ich begann, sie immer mehr als Frau zu sehen, und ich wurde unsicher, wie ich mich ihr gegenüber verhalten sollte, sprach aber mit niemandem. Noch hatte ich keine Vorkehrungen getroffen. Wir trieben schon im gefährlichen Fahrwasser. Bald würde ich mit Xavelia auf hoher See sein und kein Land mehr sehen.

399
477,84 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Дата выхода на Литрес:
22 декабря 2023
Объем:
211 стр. 2 иллюстрации
ISBN:
9783961456338
Издатель:
Правообладатель:
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