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LENINGRAD

1929 – 1938

1929 Das tägliche Brot

Wenige Tage nach der Hochzeit brachen die Neuvermählten nach Leningrad auf. Olga, die Mädchen und Freunde begleiteten das Paar zum Bahnhof. Auch Lena. Es war ein feierlicher Moment. Und gleichzeitig war es ein wehmütiger Abschied von den Menschen, die Trude durch all die Jahre getragen und begleitet hatten. Sie sah ihre Lieben dem wegfahrenden Zug mit Taschentüchern nachwinken, bis eine Kurve den Blickkontakt abbrach. Ihre Wangen glänzten tränennass.

So schwer es ihr fiel, Olgas sicheren Hafen zu verlassen, so sehr freute sie sich auf die neue Zukunft. Es war ihr einerlei, wo sie diese gestalten würden. Hauptsache Valentin und sie waren zusammen. Die beiden verband vom ersten Augenblick an ein entspanntes Wohlbefinden in der Gegenwart des andern, das nur durch den Bruch in Berlin erschüttert worden war. Wie Valentin sich am Ende gegen alle Konventionen und Autoritäten für sie entschieden hatte, zeigte seine Entschlossenheit. Einen größeren Liebesbeweis gab es für Trude nicht.

Mit großem Behagen an der Seite ihres frisch angetrauten Mannes machte sie sich auf nach Leningrad. Das Paar richtete sich die lange Fahrt auf den harten Holzbänken so bequem wie möglich ein. Die meiste Zeit saßen die beiden schweigend, die eine Hand entspannt in der des anderen ruhend. Mit Blick auf die vorbeifliegende Landschaft ließen sie sich von der russischen Eisenbahn in die Zukunft fahren.

Leningrad war Trude bis zu diesem Zeitpunkt nur eine Idee auf der Landkarte und würde nun zu ihrem Lebensmittelpunkt werden. Valentin an seinen Arbeitsort zu folgen bedeutete eine trittsichere Ausgangsposition für alle zukünftigen Schritte.

Trude trat ihren neuen Lebensabschnitt selbstbewusst an. Ihre russischen Sprachkenntnisse würden ihr helfen, Kontakte zu knüpfen. Sie würde die Wohnung ausstatten, die Valentin im Vorfeld gefunden hatte. Irgendwann würde sie einem Kind das Leben schenken – und in den folgenden Jahren eine weiterführende Schule besuchen, studieren und Arbeit finden. Trudes Kopf war voller Pläne, ihr Herz voller Zuversicht.

Nach Tartu und Berlin war Leningrad erst ihre dritte Stadt. Da sie an Berlin keine guten Erinnerungen knüpfte, war Trude einfach zu begeistern. Es war eine prächtige Metropole. Mit den imposanten Palästen und goldenen Kuppeln hatte Leningrad für sie etwas Märchenhaftes. Die Lage am Meer verlieh ihr wie allen Hafenstädten Weltoffenheit. Trude erforschte die Stadt zu Fuß und mit Straßenbahn. Ein in schwarzes Leinen gebundenes Tagebuch, mittlerweile schon das fünfte, war ihr ständiger Begleiter. In ihm hielt sie alle Eindrücke in Worten und Skizzen fest.

Die ersten Monate verflogen wie im Flug. Sie nahm alle neuen Eindrücke durch eine rosarote Brille wahr. Im Rausch der Begeisterung übersah sie die unschönen Flecken der Stadt großzügig. Trude vermied es zu Beginn, genauer hinzusehen. Erst nach und nach schärfte sich ihr Blick und sie konnte die Arbeitslosen, die sich in den Gassen an offenen Feuern die Finger wärmten, und die schmutzigen Kinder, die barfuß und in Lumpen gekleidet für ihre Familien bettelten, nicht mehr ignorieren.

Trude und Valentin standen auf der Sonnenseite des Lebens und brauchten sich keine existenziellen Sorgen zu machen. In den Häfen wurden emsig Schiffe gebaut, um Weltmeere und Überseeländer zu zivilen und militärischen Zwecken zu erobern. Valentin war als Schiffsingenieur ein gefragter und gut bezahlter Mann.

Tagsüber war Valentin weg, verschluckt von einer Arbeitswelt, zu der Trude keinen Zugang hatte. Die Werft lag dreißig Minuten mit der Straßenbahn von der Zweizimmerwohnung entfernt. Am Abend berichtete er, dass er gerade an einem Eisbrecher arbeitete. Trude hörte zu, viel mehr als die technischen Details interessierte sie, mit wem er seine Mittagspause verbrachte, worüber er mit seinen Kollegen sprach, was kulturell in der Stadt passierte, welche politischen Ereignisse die Menschen umtrieben. Valentin war Trudes Informationsbrücke zur Welt.

Ihre selbst auferlegte Aufgabe war, sich ihr neues Territorium zu erobern. Wo und in welchen Entfernungen waren Brot und andere Lebensmittel zu beschaffen? Trude hätte selber backen können, doch sie erachtete es als wichtig, sich mit dem täglichen Gang zum Bäcker eine Dosis Menschenkontakt zu sichern. So wurde Einkaufen zur Forschungsreise. Aus drei Möglichkeiten, die in Fußdistanz lagen, wählte sie die Bäckerei Schmitz für das tägliche Brot. Der Schriftzug über der Markise verriet deutsche Herkunft. Fast eine Bürgschaft für gute Qualität. Trude erfuhr, dass Bäckermeister Schmitz mit seiner Familie im Zug der antideutschen Hatz bereits im Ersten Weltkrieg vertrieben worden war. Nur der Name blieb auf der Markise. Ob aus Kalkül – auch Trude ließ sich ja vom Versprechen auf deutsches Backgut ködern – oder Achtlosigkeit, erfuhr Trude nie.

Hinter „Schmitz“ verbarg sich ein netter russischer Familienbetrieb. Richtig hießen die Leute Dowski. Es waren Vadim und Svetlana mit ihren fünf Kindern. Trude konnte sie nicht auseinanderhalten und machte sich deshalb auch nicht die Mühe, sich deren Namen zu merken. Allesamt waren sie gemütliche Menschen mit rundlichem Körperbau. Die Gesichtsbacken waren weich wie Semmeln und verrieten, dass kein Mangel herrschte.

Die Dowskis hielten nicht viel von der Politik. Vadim und Svetlana hatten für alle und jeden immer ein nettes Wort. Wozu politisieren? Wer satt ist, braucht nicht missgünstig zu sein. Ein zufriedener Mensch hat keine Feindbilder und keinen narzisstischen Ehrgeiz, sich öffentlich zu profilieren. Wer bei Schmitz eintrat, streifte die Gesinnung an der Fußmatte ab. Der Verkaufsraum war eine kleine heile Welt. So war schon beim ersten Besuch besiegelt, dass sich Trude die Mühe ersparen konnte, eine andere Bäckerei zu suchen. Sie blieb Schmitz alle Jahre treu.

In Leningrad lernte Trude, aus der Brotauslage den Wohlstand der Bevölkerung zu lesen. In den ersten Jahren von 1929 bis 1930 war die Vitrine dürftig mit wenigen Brotlaiben bestückt, welche von der Kundschaft im Nu leer gekauft war. Wie alle Großstädter in Europa hatten auch die Leningrader unter der Wirtschaftskrise Ende der Zwanzigerjahre zu leiden. Später kamen neue Brotsorten hinzu und nach und nach füllte sich das Schaufenster mit bunter Konditoreikunst. Zuckerzeug demonstrierte protzig: „Es geht uns gut!“

Manchmal ließ sich Trude von den süßen Leckereien verlocken, doch meist wählte sie Brot für sich und Valentin. Am Anfang gab es nur das eine dunkle Roggenbrot. Als die Auswahl größer wurde, kosteten sie sich durch das Sortiment. Doch allmählich kristallisierte sich ihr tägliches Brot heraus.

An den Abenden und Wochenenden zu zweit arbeiteten sie sich zum anderen durch. Da sie bis dahin kaum geteilte Zeit verbracht hatten, wurden sie sich nicht überdrüssig, aus ihrer Vergangenheit zu erzählen. Abendfüllend waren die Geschichten der Kindheit, von Freundschaften und von Entbehrungen. Valentin brachte seinen Bücherfundus mit in die Ehe, aus dem sie sich gegenseitig vorlasen.

Neugierig erforschten sie auch ihre Körper. Fern aller Konvention waren sie frei, sich ohne Scham kennenzulernen. Sie kannten keinen gültigen Maßstab, wie man sich als Mann und Frau sittlich zu verhalten hatte. Für sie war es das Natürlichste der Welt, sich gegenseitig bei der Morgentoilette zuzuschauen. Es wurde ihr allabendliches Ritual, sich gegenseitig die Kleider abzustreifen, herumzualbern und sich wie Welpen zu balgen. Sie jagten sich durch die Wohnung bis ins kalte Schlafzimmer, um sich dort unter der klammen Decke aneinander zu wärmen. Manchmal hatte das Spiel eine Fortsetzung und manchmal schliefen sie einfach geborgen ineinander verschlungen ein.

Jeder Abend an Valentins Seite war für Trude ein Heimkommen. Über alle Jahre. Wie sehr auch die Welt draußen tobte und sich ihnen Widrigkeiten in den Weg stellten, die Kindersorgen ihnen über den Kopf wuchsen oder sie sich heftig zankten. Beim Hinübergleiten vom Alltag in den Schlaf, wenn die Körper einander wärmten, wenn sich Gedanken langsam verflüchtigten und sich die Emotionen zur Ruhe legten, kam Trude an, bei sich, bei Valentin, beim stillen Glück.

Mit ihrer Ehe verhielt es sich so wie mit dem Gang zum Bäcker. Unerfahren kostete sich das Paar langsam durch die Auslagen des anderen. Es gab üppige und karge Zeiten. Sie ließen sich vom Zuckerguss des anderen verführen. Manchmal betrieben sie Völlerei. Und mit der Zeit wurde offenbar, was im Zusammenleben taugte und was nicht. Allmählich erkoren sie sich wie von selbst die Lieblinge: die Lieblingsmahlzeiten, der Lieblingsplatz am Tisch, die Lieblingsseife, die Lieblingsredewendungen und die Lieblingsliebesstellung.

1930 Die Kinder

Im Juli 1930 wurde Juri geboren. Ein pflegeleichtes Kind. Die Schwangerschaft verlief beschwerdefrei. Die Eheleute verfolgten die Veränderungen von Trudes Körper wie ein spannendes Forschungsprojekt. Die werdende Mutter war Objekt und Beobachtende gleichzeitig.

Eine unzimperliche Hebamme begleitete die Gebärende durch die Niederkunft. Männer waren im Kreissaal nicht erwünscht und so war Trude ohne Valentin dem Ereignis ausgeliefert. Ludmilla, eine unerschütterliche Matrone, die schon Tausende wimmernde, klagende, schreiende Frauen durch das Entbinden gelotst hatte, ging überhaupt nicht auf Trudes Ängste und Befindlichkeiten ein. Auf ihre Erfahrung und Souveränität war Verlass. Sie begleitete Trude durch alle Phasen der Wehen und spornte sie an, bis der kleine Junge aus ihrer weit gedehnten Öffnung herausflutschte.

Ludmilla legte ihr das schmierige, rosa Bündel in die Arme. Trude griff nach den winzigen Fingerchen, strich über das flaumige Köpfchen und als Juri die verklebten Lider aufschlug und seiner Mutter mit tiefblauen Augen zublinzelte, begann Trude zu schluchzen. Noch wund von der Entbindung, glückselig über das kleine Wunder in ihren Armen, erinnerte sie sich an ihre Mutter. Die vollbrachte Leistung, einem Kind trotz bestialischer Schmerzen ins Leben verholfen zu haben, schenkte Trude große Selbstachtung. Sie war unbeschreiblich stolz auf sich.

Wie gerne hätte Trude ihren Sohn Marthe gezeigt. In den Stunden nach der Entbindung fehlte ihr die Mutter wie nie zuvor. Selber Mutter geworden, wurde sie ihr ebenbürtig. Auf einmal konnte Trude nachempfinden, was sieben Kinder Marthes Leib abverlangt hatten. Wie wenn ein Hebel umgekippt wurde, betrachtete Trude Mutters Tod mit einem Mal mit anderen Augen. Der Körper hatte schlicht keine Kraft mehr gehabt. Die Schwangerschaften, das Stillen, die schwere körperliche Haus- und Feldarbeit hatten ihren Zoll gefordert. Nicht Trude war schuld an ihrem Tod! Sondern die harten Lebensbedingungen und die Geringschätzung der Frau in dieser patriarchalen Gesellschaft! Plötzlich verflüchtigte sich der schwere Schatten.

Die frischgebackene Mutter hatte keine Vergleichsmöglichkeiten mit anderen Säuglingen. Doch Juri machte ihr den Einstieg in die Mutterschaft sehr leicht. Er trank gut, gönnte ihr nachts erholsamen Schlaf und gedieh prächtig. Es war schön, mit diesem zufriedenen Kind die Tage zu verbringen. Trude dachte sich, wenn Muttersein so ein Spaziergang ist, wäre es ein Leichtes, nebenher ein Dolmetscherdiplom zu erwerben. Sie schmiedete an ihrem Zukunftsplan. Wenn Juri schlief und später, wenn er zur Schule gehen würde, wollte sie als Übersetzerin arbeiten. Trude war überzeugt, dass ihre Sprachfertigkeiten ihr den Einstieg in die Berufswelt ebnen würden.

Im Mai 1931, kurz nachdem sie sich bei der staatlichen Sprachakademie für den Lehrgang eingeschrieben hatte, stellte Trude fest, dass sie erneut schwanger war. Dieses Mal waren die Zeichen nicht die ausbleibenden Tage, sondern die Morgenübelkeit, von der sie bisher nur vom Hörensagen wusste. Trude konnte keinen Bissen halten. Bestimmte Gerüche, wie zum Beispiel Kaffee, wurden ihr unerträglich. Valentin musste sich eine geruchsneutrale Seife zulegen, sonst hätte ihn Trude nur auf Distanz ertragen können. Während dreier Monate war Trudes Radius sehr beschränkt. Sie pendelte zwischen Bett, Küche und Kinderzimmer hin und her mit einem Emailbecken als ständiger Begleiter.

Bei Sergejs Geburt im November verlor Trude viel Blut. Das Viereinhalbkilokind hatte sich zu schnell und zu heftig herauskatapultiert, als hätte es nicht abwarten können, die Welt zu erobern. Der Junge riss alles mit, was im Unterleib seiner Mutter auf seinem Feldzug in die Freiheit im Weg stand. Zum einen war es wohl die enorme Verausgabung, aber auch die Kälte außerhalb der geschützten Höhle, die dem kleinen Kerl den Atem verschlugen. Sergej bekam nach der Geburt keine Luft in seine Lungen, lief blau an und die Hebamme machte sich schon auf das Schlimmste gefasst. Doch sie unterschätzte den Lebenswillen des Jungen.

An ein Studium oder an Arbeit war nicht mehr zu denken. Trude musste ihre Pläne begraben. Juri übte sich in seinen Gehversuchen und dehnte allmählich seinen kleinen Radius in der Wohnung aus. Sergej trug sie praktisch immer im Arm, weil er so am wenigsten schrie. Sie brachte es nicht übers Herz, wie es damals üblich war, die Kinder in ihren Betten anzubinden und stundenlang schreien zu lassen.

So wie Sergej die Welt betrat, so führte er sich auch als Kind auf. Mit Pauken und Trompeten ging er etwas an. Nie böse oder berechnend. Er war sich schlicht seiner körperlichen Kräfte und Grenzen nicht gewahr. Tollpatschig stieß er manch kleinen Spielkameraden einfach im Vorbeigehen um. So ungestüm sein Auftritt bei Menschen auch war, so sanft war seine versteckte Seele. Dies zeigte sich insbesondere daran, wie er mit Tieren umging.

Jedem herrenlosen Streuner näherte er sich furchtlos, kniete vor ihm nieder und streckte dem Hund die Hand zum Lecken hin. Trude beobachtete, wie das Herz des Jungen für die verwahrlosten Kreaturen überfloss. Sergej hatte eine besondere Gabe, wortlos mit Tieren zu kommunizieren. Seine Gesichtszüge wurden sanft, wenn eine Schnecke über seinen Handrücken kroch. Aus unerfindlichen Gründen konnte er diese zärtliche Seite den Menschen selten schenken. Anderen Kindern gegenüber war er meistens ruppig und abweisend.

Sergej bereitete seinen Eltern manchen Kummer. Er war oft krank und fügte sich beim Spiel unbeabsichtigt Verletzungen zu. Er trieb die Mutter mit seiner Aufmüpfigkeit, die ihrer nicht unähnlich war, manchmal zur Weißglut. Er forderte seinen älteren Bruder und seine Eltern heraus. Trude wusste jedoch um seine sanfte Seele unter der ruppigen Schale und konnte ihm nie lange böse sein. Sie sprach seinen Namen am liebsten auf Französisch aus, weil Serge mit weichem „sch“ am Ende sie weicher machte für ihn.

Der Winter 1931/1932 war unbarmherzig kalt. Minus dreißig Grad waren die Spitze. Trude verlangte dem kleinen Kohleofen alles ab, um die Wohnung einigermaßen warm zu halten. Kälte, Schlafmangel, das Schleppen von Kohle, Besorgungen und zwei Kleinkinder erschöpften sie. Seit Ankunft in Leningrad hatte Trude gegen zehn Kilogramm Gewicht verloren. Sie beklagte sich nie und dachte auch nicht daran, eine Hilfe einzustellen, die sie sich mit Valentins Gehalt hätte leisten können.

Im Vergleich zu anderen Müttern in der Straße, mit denen sie lose Kontakte geknüpft hatte, erging es ihr gut. Die junge Familie hatte weder materielle Sorgen noch Eltern, Schwiegereltern oder Geschwister, die sich mit an den Tisch setzten. Trude musste nicht arbeiten und zuverdienen. Nicht wie die anderen Frauen, die ihre Kinder tagsüber in der Wohnung einschlossen oder der Obhut der älteren Geschwister überließen, während sie selber in der Munitionsfabrik Patronenhülsen drehten.

Im Frühjahr 1932, nach dem zweiten Leningrader Winter, war Trude ausgemergelt und am Ende ihrer Kräfte. Die Ehe verkam zu einer Hülle, die weder Trude noch Valentin mit Leben und Freude zu füllen vermochten. Der junge Vater war tagsüber von der Arbeitswelt absorbiert und kehrte abends müde nach Hause. Dort erwartete ihn eine ermattete Gattin mit zwei plärrenden Kleinkindern.

Die Unbeschwertheit und schwirrende Verliebtheit waren verflogen. Trott und Anstrengungen lagen bleiern über dem Paar. Es gab zwischen Valentin und Trude kein fröhliches Turteln mehr. Nicht selten begleitet von Sergejs Wimmern, das aus dem Kinderbettchen drang, gab sie dem Drängen ihres Mannes nach. Sie konnte bald nicht mehr unterscheiden, ob sie das monotone Kindergeschrei oder Valentins ernsthafte Bemühungen, ihr Freude zu bereiten, mehr abstumpfte.

Der Körper der Mutter hatte alle Vitalität und Lust verloren. Der Liebesakt verkam zum verzweifelten Versuch, die verlorene Nähe wiederherzustellen. Trude verscheuchte den lästigen Gedanken, dass Valentin sie als Ventil missbrauchte. Sie war einfach nur froh, wenn er schnell fertig war, sie sich nicht zu sehr verkrampft hatte und es nicht zu sehr schmerzte. Inständig hoffte Trude jedes Mal, von einer dritten Schwangerschaft verschont zu werden.

Trude bekam Heimweh nach Olga. Nach ihrer Ordnung, Zuverlässigkeit und Herzlichkeit. Der Gedanke an sie wärmte die müde Mutter. Olga hatte ihren Mann früh verloren und sich alleine mit ihren Töchtern durchgekämpft. Sie hätte allen Grund gehabt, eine griesgrämige Alte zu werden. Doch Olga hatte sich ein warmes Herz bewahrt und war eine Sonne für ihre Mitmenschen, wenn ihr niemand zu nahe trat. Es hatte schnell die Runde gemacht, als sie einem Nachbarsburschen mit dem Knie in dessen Gemächt getreten hatte, nachdem er ihr vor den Mädchen unflätig den Busen begrabscht hatte. Trude hatte sie nie über ihr Schicksal klagen hören. Es blieb immer ein Geheimnis, wie sich Olga ihre Frohnatur bewahren konnte.

Besonders in den kalten Wintertagen wünschte sich Trude zurück auf Olgas Hof. Es war ihr nach frischer, kuhwarmer Milch oder nach dem Biss von einer am Kraut aus guter Erde gezogenen süßen Karotte. Auf Olgas Hof hatte es nie an Nahrung gemangelt. Auch wenn sich manchmal Gäste an die Tafel setzten: Alles, was Boden und Stall hergab, wurde geteilt. Alle wurden satt an Leib und Seele.

Trude fehlte in Leningrad eine gute Freundin, mit der sie die langen Tage unterbrechen konnte. Die Frauen im Quartier waren freundlich. Doch sie lebten in ihrer eigenen Welt. Die meisten arbeiteten sowieso tagsüber. Und mit denjenigen, die sie beim Einkaufen in der Warteschlange antraf, erschöpften sich die Gespräche sehr bald nach den Höflichkeitsfloskeln. Gebildete oder kulturell interessierte Frauen und Männer verkehrten nicht auf dieser Straße. Für Einkäufe sandten sie ihre Dienstboten. Zu den interessanten Kreisen der Gesellschaft hatte Trude mit zwei Kindern an der Hand keinen Zugang.

Die ersten beiden Leningrader Winter waren eisig und einsam.

Mildere Temperaturen Ende April brachten Regen und lösten die Schneedecken in den Straßen in Matsch auf. Inzwischen wusste Trude, dass sich der Frost noch einmal hämisch zurückmelden konnte, bevor er endgültig das Feld räumen würde. Doch sie war froh um die ersten Zeichen des Frühlings, die ein Ende des Winters ankündigten. Mit dem Regen kommt der Machtwechsel der Jahreszeiten.

Beim Tauwetter hatte sie die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten. Sie verbrachte den langen Tag mit zwei Kerlchen mit Bewegungsdrang in der kleinen Wohnung. Oder sie ging bei kühlen Frühlingstemperaturen im Regenmatsch in den Park. Da Lederstiefel, Kleider und Wollmäntel keinen ausdauernden Schutz vor der Nässe boten, war die Wahrscheinlichkeit groß, dass sich die Buben erkälteten und Trude dies in der Folge mit Nachtschichten wieder auszubaden hatte. Vom langwierigen Trocknen von Kleidern und Schuhen auf engem Raum ganz zu schweigen. Doch Trudes Bedürfnis nach frischer Luft war größer als die Vernunft. Sie verweilten den ganzen Nachmittag im Freien.

Am Tag darauf bekamen Juri, Sergej und sie selber Fieber. Schwitzend versorgte sie die beiden Buben, die apathisch und glühend in ihren Bettchen lagen. Sie erinnerte sich noch daran, wie sie von Schüttelfrost gebeutelt in der Fleischbrühe auf dem Herd rührte und Valentins Ankunft herbeisehnte, damit er sie ablösen und sie sich endlich ins Bett legen konnte.

Viel später wachte Trude im Schlafzimmer auf. Sie erkannte durch einen Schleier die vertraute, sich ablösende grüne Tapete im Eck ihrer Kammer und wie Valentin auf der Bettkante sitzend die matte Hand seiner Frau streichelte. Und wieder später – wie viele Tage mochten vergangen sein? – tauchte Olga in Trudes Gesichtsfeld auf. Olga!

Trude wollte sich aufrichten, um nachzuprüfen, ob sie ihren Augen trauen konnte. Doch starke Gliederschmerzen hielten sie in den Laken zurück. Olga war nach Leningrad gekommen, nachdem Valentin ihr telegrafiert hatte. Er hatte seine Frau ohnmächtig auf dem Küchenboden vorgefunden. Von der Suppe klebte noch eine schwarze Kruste in der Pfanne. Valentin dankte der Fügung, dass er die frühere Tram erwischt und die Küche betreten hatte, bevor die Gasflammen den Topf zum Glühen bringen konnten. Nicht auszudenken, wenn er die Wohnung abgefackelt und die verkohlten Körper seiner Liebsten vorgefunden hätte.

Später erfuhr Trude, dass sie sieben Tage und Nächte zwischen Leben und Tod geschwebt hatte. Der Körper brauchte eine Weile, sich zu entscheiden, ob er kämpfen oder aufgeben wollte. Ihr Hausarzt Medwedew war täglich dreimal vorbeigekommen, um nach der Patientin und der Familie zu schauen. Medwedew heißt Bär auf Russisch. Kein anderer Name hätte besser gepasst zu ihm.

Der Bär war Valentin während der Tage, als die Zukunft seiner Familie in der Schwebe lag, der Fels in der Brandung. Der gute Doktor war eine Seele von einem Menschen, mehr Seelsorger als Mediziner. Der Arzt war es denn auch, der Valentin auf die Idee brachte, Trude die Medizin zu besorgen, die sie ins Leben zurückholen konnte: Olga. Medwedews scharfer Verstand zog schnell Schlüsse aus Valentins Schilderungen. Wenn überhaupt, so konnten nur die Wärme und Fürsorge ihrer Ziehmutter Trude wieder zu Kräften kommen lassen.

Olga folgte Valentins Notruf umgehend. Ihre Töchter waren inzwischen selbstständig genug, sie für eine Weile zu entbehren und den Hof zu führen. Sie traf am fünften Tag nach Trudes Zusammenbruch ein und übernahm das Zepter. Die Erleichterung und Zuversicht reihum war groß. Und in der Tat – Trude genas.

Vier Wochen später fuhr Trude mit den beiden Buben in Olgas Begleitung nach Tartu.

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Trude blieb den ganzen Sommer auf Olgas Hof, zu ihrem, aber auch dem Segen der Jungen. Mühelos hatte sich Trude wieder in den Tagesrhythmus eingefügt. Die Handgriffe waren nicht vergessen. Körperliches Zupacken und der rege Austausch mit den anderen waren für Trude die Kur, die ihr Ausgeglichenheit und Lebensfreude zurückbrachten. Ständig war irgendjemand zugegen. Beim Melken, Rübenziehen oder Kochen schwatzten die Frauen rege oder schwiegen einvernehmlich.

Getreide, Gemüse und Schmalz führten dazu, dass die junge Mutter bald wieder im Besitz ihrer alten Kräfte war. Aus ihren dürren Gliedern formten sich ansehnliche muskulöse Arme und Beine. Es gefiel ihr, dass über dem Gerippe der Busen wieder Rundungen und sich an den Hüftknochen ein kleines Fettpölsterchen ansetzte. Sonne und Arbeit in der freien Natur schenkten ihr eine gesunde Gesichtsfarbe. Nach und nach fühlte sie sich wieder gesund und vital.

Olga bemerkte einmal: „Du kommst mir vor wie ein Spatz, der immer wieder aus dem Nest fällt und den ich immer wieder aufs Neue aufpäppeln muss. Damit uns das erspart bleibt, verbringst du von nun an die Sommer bei uns und lässt dich durchfüttern, damit du die Winter in der Stadt überstehst. Ich kann eine zusätzliche Erntehelferin gebrauchen. Jetzt, wo meine Ältesten bald flügge sind und es nur eine Frage der Zeit ist, bis sie von Männern abgeworben werden. Ich werde das mit Valentin schon regeln.“

Die Jungs liebten die Monate auf dem Land. Endlich war ausreichend Platz für ihren Bewegungs- und Erforschungsdrang. Das Hofleben wirkte sich ausgezeichnet auf die Entwicklung der Buben aus. Und auf das Wohlbefinden der ganzen Familie. Sergej machte seine ersten Schritte auf dem Hofplatz und Juri tapste brav den arbeitenden Frauen nach. Mit Stolz und Staunen beobachtete Trude, wie sich geballte Kraft in den kleinen Bubenkörpern entfaltete. Die rohe Energie wollte sich in Taten ausdrücken. Was in der kleinen Leningrader Wohnung stets gezähmt werden musste, konnte sich auf dem Land entladen und austoben.

Trude und Olga lehrten sie dem Alter entsprechend mit Werkzeug umzugehen. Jede Verantwortung, die den Buben übertragen wurde, ließ sie innerlich wachsen. Die Kinder lernten, dass ein offenes Knie vom Umfallen gut wegzustecken ist, dass ein Aufrappeln und Weiterennen wie ein kleiner Sieg über die eigene Grenze ist. Ein Holzsplint in der Haut war halb so schlimm, wenn der Holzstapel erklommen und das Ziel erreicht ist.

Für Trude war es eine unermessliche Entlastung, die Knaben nicht ständig alleine beaufsichtigen zu müssen. Andere Augen teilten die Aufmerksamkeit, andere Hände trösteten. Für die Hofgemeinschaft waren die Ankömmlinge aus der Stadt eine willkommene Abwechslung. Olgas Töchter liebten es, die Buben zu versorgen, ihnen Geschichten zu erzählen und Lieder vorzusingen. Vielleicht dachten sie dabei schon an ihre eigenen Kinder. Die Zeit auf dem Hof war kurzweilig und verflog im Nu. Der Herbst und damit die Rückkehr in die Stadt nahten viel zu schnell für Trudes Empfinden.

Die Freude über ihr Aufblühen wurde von einem Schatten getrübt, den sie nicht wegstecken konnte. Sie vermisste Valentin nicht. Es erging ihr sehr gut ohne ihn. Ihr Leben war prall. Ganz anders als in Leningrad. Und sie fühlte sich schuldig deswegen. Es war ja nicht so, dass Valentin ihr Leid zugefügt hatte oder fremdgegangen war. Sie hatte da ganz andere Geschichten von Ehemännern gehört. Ihr Mann ließ sich nichts zuschulden kommen. Pflichtbewusst verrichtete er seine Arbeit. Seinen Söhnen war er immer ein fürsorglicher Papa. Trude gegenüber hatte er sich stets bemüht, die Unbeschwertheit der Anfänge wiederherzustellen. Er war sich bewusst, dass die Geburten und Leningrad seiner Frau zusetzten und hatte sich angestrengt, Trudes Leben zu erleichtern.

Valentin hatte alles gegeben, seiner kleinen Familie ein gutes Leben in der Stadt zu ermöglichen. Und doch war es nicht genug. Trude realisierte: Sie liebte ihn nicht mehr. In ihr war kein Platz für ihn. Wenn sie an seine nächtlichen Anstrengungen dachte, schnürte sich ihr Unterleib zusammen. Sein Pflichtbewusstsein war lobenswert, doch es erstickte sie. Valentin war in Leningrad die einzige konstante erwachsene Person. Trude erkannte, dass es zwischen ihnen nichts Neues mehr zu entdecken gab. Die Einsicht, dass ihr Valentin im Gegenteil lästig und überdrüssig geworden war, erschreckte Trude, als sie darüber nachdachte.

Die Distanz war Trude mehr als recht und sie hätte diesen Zustand gerne so aufrechterhalten. Zu kläglich waren die Überreste ihrer Ehe. Ganz heimlich, nach einem langen Arbeitstag auf dem Hof, wenn niemand mehr Ansprüche an sie stellte, wenn sie nachts alleine lag, ging sie in Gedanken und mit ihren Händen auf Entdeckungsreise. In ihrem Körper, von Sommersonne und Lebensfreude erwärmt, keimte leise verloren geglaubtes Lustgefühl auf. Sie entdeckte, dass sie sich selber guttun konnte. Mehr Glück brauchte sie nicht.

Eines Nachts, nachdem sich Trude erfüllt im Federbett einrollte, ploppte ein Gedanke auf, der ihr unangenehm war und den sie dennoch mit einem Mal in Betracht zog: Eine Scheidung war auf einmal eine mögliche Option. Während vieler Wochen war die räumliche Trennung ein Schutzschild und ersparte ihr, eine folgenschwere Erwägung auszusprechen. Doch der Tag würde kommen, der Tatsache ins Auge zu sehen, Valentin ins Gesicht zu sagen, dass es ihr ohne ihn besser ging.

Valentin kündigte sich mit einem Telegramm an: „Ankunft: 16.7.33 in Tartu. Freue mich auf Dich und Kinder.“

Trude wusste, sie hätte sich freuen müssen. Jede andere an ihrer Stelle hätte ihren Geliebten ersehnt. Die knappen Worte wirkten auf die Gattin wie eine turmhohe Erwartung und sie sah der Begegnung mit Angst entgegen. Sein Wunsch, seine Frau und die Kinder zu sehen, forderte Trude heraus, Stellung zu beziehen. Er würde sich mit ihr unterhalten wollen, er würde mit ihr schlafen wollen, er würde mit den Buben und ihr Familie sein wollen.

In den Nächten vor Valentins Ankunft zerbrach sich Trude den Kopf und fand kaum Schlaf: „Was hat uns nur entzweit? Leningrad? Die Kinder? Die zerplatzten Träume? Was hat mir meine Unbeschwertheit geraubt? Welche Macht war stärker als unsere Liebe, die wir einst füreinander empfanden? Gibt es noch eine Chance für uns?“

Mit je einem Buben an der Hand wartete sie am Bahnsteig von Tartu auf Valentins Ankunft. Juri und Sergej waren außergewöhnlich brav. Sie bemerkten die Spannung in der Luft und ahnten, dass ihre Mutter ihnen heute keine Aufmerksamkeit schenken würde, so sehr sie sich auch anstrengten. So ließen sie es bleiben, sich wie sonst zu hänseln.

Die Buben trugen ihre Sonntagsanzüge. Die Mutter hatte ihnen das braune Haar am Vortag kurz geschnitten, die wilden Locken waren anders nicht zu bändigen. Trude hatte sich hübsch, aber nicht übertrieben herausgeputzt. Sie trug ein schlichtes weißes Sommerkleid, das mit blauen Kornblumen und grünen Ranken verziert war und das sie sich erst kürzlich hatte anfertigen lassen. Die Kleider, die sie in den ersten Monaten in Leningrad getragen hatte, passten immer noch nicht, so sehr hatte sie abgenommen. Die schönen Stoffe hingen nur schlaff an Trude herunter.

Valentin stieg aus dem Zug, suchte den Bahnsteig nach seiner Familie ab. Er ließ den Koffer stehen und eilte seinen Liebsten entgegen. Er umschloss alle drei mit seinen Armen. Den Buben wurde es rasch zu eng und sie befreiten sich aus dem Griff. Die Kinder plapperten und fragten, sie zerrten und stupsten. Es machte den Anfang einfacher. So still die Buben vor der Zugseinfahrt standen, so aufgeregt tanzten sie jetzt um ihren Vater herum, den sie zu Trudes Erleichterung in Beschlag nahmen. Der dreijährige Juri hatte sich im Vorfeld viele Gedanken gemacht, ob der Vater derselbe war, wie der in der Stadt, ob der Papa ihn noch gernhaben würde und ob er ihnen etwas mitbringen würde.

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9783931560928
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