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Trude lag lange wach und starrte in die Schwärze. Es musste dringend ein sattelfestes Alibi her! Sie bangte um die kostbare Freundschaft mit Lena. Auf dem Hof konnte sich Trude niemandem anvertrauen. Sie musste eine Lüge erfinden, damit sie sich weiterhin mit Lena treffen konnte. Je länger sie sich wand und Auswege suchte, desto größer wurde ihr Zorn auf die Gefangenschaft, auf die männlichen Wächter und deren obersten Befehlshaber: auf Gott!

Trudes Wut loderte auch am nächsten Morgen weiter. Des Predigers Worte gossen ihr Öl in Zornesfeuer. Nach dem Kirchgang, als der Vater den Gaul vor den Wagen spannte und die Brüder noch mit den anderen der Gemeinde einen Schwatz hielten, büxte sie aus. Kopflos hastete sie in das Waldstück davon, das in der entgegengesetzten Richtung ihres Hofes lag. Sie rannte, bis ihre Lungen brannten, das Herz bis zum Hals hämmerte und die Füße sie nicht mehr trugen.

Sie hielt inne, um nach Atem zu ringen. Danach schritt sie weiter immer mehr in das Holz hinein, ziellos, aber wild entschlossen, Brüder und Vater abzuhängen, falls die ihre Verfolgung aufgenommen haben sollten. Was Trude jedoch bezweifelte. Der feuchte Waldboden war glitschig unter ihren Füßen. Plötzlich ballten sich ihre Fäuste und ihre Augen suchten in den Wipfeln nach einem Adressaten für ihre kochende Wut.

Sollte sich der Allmächtige dort oben verstecken? Sie hatte wenig Erfahrung mit ihm, hatte auf ihre Gebete keine Antwort erhalten. Sie stand nicht in seiner Gunst. Er war in Trudes Augen ein Gott der Männer, der die Frauen nicht liebte. Sollte sich der Schöpfer hier in der Natur verbergen, war es Zeit, Tacheles mit ihm zu reden.

„Du da oben, zeig Dich, wenn es Dich wirklich gibt! Du ungerechter, launischer Geselle! Einen Deut scherst Du Dich um meine Mädchenseele! Wo bleibt Deine Menschenliebe? Gib mir ein Zeichen, was ich tun soll, um Lenas Freundschaft zu behalten! Oder erschlage mich auf der Stelle mit einem Blitz, wenn ich Dir so wenig wert bin!“

Dem Zornesausbruch folgten Tränen. Der über Jahre zurückgehaltene Kummer bahnte sich mit der brachialen Kraft der Wut seinen Weg. Hemmungslos weinend sackte die junge Frau auf den herbstnassen Waldboden. Die jahrelange Selbstbeherrschung fiel in sich zusammen wie die Hülle eines entleerten Getreidesackes. Trude drehte sich auf den Rücken. Sie wand und krümmte sich, immer wieder erfassten sie Tränenwellen und ihre Hände krampften im modrigen Laub nach Halt. Irgendwann, leer geweint, übermannte Trude die Erschöpfung und sie schlief ein.

Es war eine Bäuerin, die das regungslose Mädchen fand. Die junge Frau suchte Pilze, um das bescheidene Abendbrot für sich und ihre Mädchenschar aufzuwerten. Der Anblick des regungslosen Körpers erschreckte die Bäuerin zutiefst. Sie wappnete sich für das Schlimmste und stürzte herbei. Die Lippen des Mädchens, das blass und klamm dalag, waren blau wie Pflaumen. „Mädchen, nun steh doch auf, du holst dir den Tod in dieser Kälte!“

Ihre Stimme überschlug sich, als sie am leblosen Körper rüttelte und mit der flachen Hand sachte die Wangen abklopfte. Die Frau war erleichtert, als Trude endlich die Augen aufschlug. Trude ließ sich von der fremden Frau aufrichten und hing schlaff in ihren Armen. Langsam kehrte Farbe in das Gesicht des Mädchens zurück. Als die Unbekannte ihr half, auf die Füße zu kommen, sackten ihre Beine ein. Als sie sich selber aufrecht halten konnte, ließ sich Trude noch ganz benommen von der Frau an der Hand mitschleifen. Nach einem kurzen Fußmarsch erreichten sie einen Hof auf einer Waldlichtung.

Die Unbekannte führte Trude in ihr Haus. Mitten in der Küche prangte ein stolzer Ofen, aus dem die Geräusche von knisterndem Holz und flackernden Flammen drangen. Die immer noch matte Trude ließ es geschehen, dass sie auf dem Schemel davor platziert wurde. Sie wehrte sich auch nicht, als ihr die Fremde die feuchten Kleider vom Leib schälte und sie nackt in Wolldecken hüllte. Während der ganzen Zeit sprachen weder Trude noch die Frau. Trude war verwirrt und hätte kein vernünftiges Wort zustande gebracht. Ihr war jedoch nicht unwohl. Seltsamerweise fühlte sie sich hüllenlos vor dieser Frau geborgener als in ihrer gewohnten Umgebung.

Die wiederkehrende Wärme stach wie Nadeln unter der Haut. Doch dies brachte Leben zurück in ihren Körper. Trude konnte langsam wieder klare Gedanken fassen und begann ihre Umgebung wahrzunehmen. Vier Mädchen zwischen sechs und zwölf saßen um einen kargen Holztisch, unterbrachen immer wieder ihr Handwerk und betrachteten den Gast mit neugierigen Augen. Alle hielten ein Flick- oder Flechtzeug im Schoß. Ihre Mutter wirbelte inzwischen in der Küche herum und bereitete eine Mahlzeit zu. Mit dem ältesten Mädchen hatte sie eine Zeitlang in derselben Schulstube gesessen. Jetzt erkannte Trude, wo sie untergekommen war: bei Olga.

Olga war eine Witfrau aus dem Nachbarsdorf. Trude kannte sie vom Hörensagen. Ihrer Leistung, die vier Töchter alleine großzuziehen und einen Hof zu bewirtschaften, nachdem ihr Mann an der Front gefallen war, trug man respektvolle Anerkennung entgegen. Doch ihre Weigerung, am Sonntag zur Kirche zu gehen, wurde missbilligt. Olga war Anfang dreißig und trug ihre blonden Haare stets zu einem Zopfkranz hochgesteckt, was ihre klaren grünen, Augen zum Leuchten brachte. Die harte Arbeit in Haus und Hof hat ihrem gut gebauten, mittelgroßen Körper nichts anhaben können. Olga war eine klassische, strahlende Schönheit. Manche Buhler hatte sie versetzt. Kein Mann hatte es geschafft, den Platz ihres Liebsten neu zu besetzen. Dies brachte ihr den Ruf einer Unbeugsamen ein. Manche munkelten gar, sie sei eine Hexe mit ihrer Brut. Aber da sich Olga nicht unter das Volk mischte, sich nichts zuschulden kommen ließ, konnte man ihr auch nichts anhaben.

Olga war das Zeichen.

Es war der Holzherd und es war Olga, die so viel Herzenswärme abstrahlten, dass Trude rasch zu Kräften kam. Es waren die kichernden, herzlichen Mädchen, die eine Leichtigkeit im Raum versprühten, die Trude betörte. Olgas Heim war so unbeschwert anders. Was hätte Trude darum gegeben, in so einem besonnten Umfeld zu leben.

Doch als ihre Kleider trocken waren und die Suppe sie gestärkt hatte, drängte es sie, heimzukehren. Sie sah ihren Vater mit einem Riemen in der Tür stehen. Es wäre nicht das erste Mal, dass er sie mit dem Leder züchtigte. Vor dem Schmerz hatte Trude Angst. Aber mehr noch fürchtete sie Vaters Moralpredigt. Er verstand es meisterhaft, die junge Frau vor ihren Brüdern zu demütigen.

Olga kannte die Zustände in der Käserei und erahnte die innere Not der jungen Frau. Sie bot sich an, Trude nach Hause zu begleiten. Es dämmerte, als sie mit dem Einspänner im Elternhof einfuhren. Der Vater unterbrach seine Arbeit, rammte das Beil in den Holzstumpf und verzog seine Augen zu Schlitzen, als er die Bäuerin und seine Tochter neben ihr sitzend erkannte.

Während Olga das Pferd anband, sprang Trude vom Kutscherbock. Heinrich eilte herbei, fasste seine Tochter am Oberarm und holte aus, um eine Tirade über seine Tochter zu ergießen. Trude hob ihre Hände zum Schutz vor das Gesicht. Olga trat dazwischen und überraschte sowohl Vater als auch Tochter mit ihrer Unerschrockenheit. Klug, wie Olga war, hatte sie sich auf dem Wege eine Erklärung ausgedacht und trat mutig vor Trudes Vater. Sie schnitt ihm das Wort ab und sagte ihm ins Gesicht: „Ich habe Trude auf dem Waldboden aufgelesen. Deine Tochter hat ihre Frauentage und viel Blut verloren. Es ist offensichtlich, dass sie zu wenig Speck auf den Rippen hat. Ich vermute, sie hat Anämie und hat wohl deswegen das Bewusstsein verloren. Du als Vater solltest darum besorgt sein, was eine junge Frau in ihrem Alter braucht!“

Trude bewunderte die Dreistigkeit ihrer Retterin. Tatsächlich hatte sie in diesem Sommer Blutungen bekommen und wusste nicht genau, was ihr jeden Monat geschah. Sie stopfte sich Lumpen zwischen die Beine, bis der rote Ausfluss nach drei Tagen wieder verklang. Sie hütete sich, ein einziges Wort darüber zu verlieren. Sogar Lena gegenüber schämte sie sich. Die Blutung war vor Olgas Augen beim Kleiderwechsel nicht verborgen geblieben. Doch statt unangenehme Fragen zu stellen, hatte die Mutter der Mädchen für das Blut an den Unterkleidern offensichtlich eine plausible Erklärung parat. Im Disput zwischen Olga und ihrem Vater davon zu erfahren, berührte Trude peinlich und machte ihr noch deutlicher, wie einsam sie auf diesem Männerhof war.

Es folgte ein heftiger Wortwechsel zwischen Vater und Olga, welche die Freiheit besaß, alles anzusprechen, was für die Klärung nötig war, weil Vater keine Macht über sie hatte. Es drohten ihr keine unangenehmen Konsequenzen. Olga setzte sich vehement für Trude und ihre existenziellen Bedürfnisse ein wie noch nie ein Mensch zuvor in ihrem Leben. Wie schmerzlich wurde ihr in diesem Augenblick die fehlende Mutter bewusst – die starke weibliche Instanz im Rücken einer Tochter. So gelang es Olga an diesem für Trude schicksalhaften Tag, Vater zu überzeugen, dass das Mädchen eine weibliche Ziehmutter bräuchte, um sie zu einer rechtschaffenen Frau zu erziehen. Sie selber könnte mit ihren vier Kindern eine helfende Hand dringend brauchen und würde diese Aufgabe gerne übernehmen. Heinrich und Olga kamen überein, dass Trude fortan zwei-, dreimal die Woche und immer samstags, wenn auf dem Käsereibetrieb die Hilfe des Mädchen abdingbar war, auf Olgas Hof anpacken sollte.

Bis zum nächsten Samstag blieben Trude ein paar Tage Zeit, Olgas Vertrauen zu gewinnen. Trude weihte sie in ihre geheimen Treffen mit Lena ein und bat sie, ihr das Beisammensein mit ihrer Freundin zu ermöglichen. Olga erbat sich als Bedingung für das Alibi, Bücher mitzubringen und ihr daraus vorzulesen. Trude erschauderte. Olga war Analphabetin. Sie teilte das Schicksal mit vielen Frauen ihrer Generation, denen der Zugang zur Schulbildung noch rigoroser verschlossen und denen das Erlernen von Lesen und Schreiben versagt geblieben war. Diese Tatsache machte Olga zu Trudes und Lenas Komplizin.

Trude konnte es jeweils kaum erwarten, in Olgas Haus, in dem es fröhlich zu- und herging, zu entschwinden. Den Weg zwischen der Käserei und dem Birkenhof legte Trude auf dem Rad zurück. Jedes Mal, wenn sie über den Waldweg holperte, erinnerte sie sich an den Glückstag, an dem Olga sie gefunden hatte. Trude bewunderte Olga.

Mit ihren zweiunddreißig Jahren war sie eigentlich viel zu jung für eine Witwe. Sie hatte sich biegsam und geschmeidig wie Bambus ihrem Schicksal ergeben, sich aber nie brechen lassen. Olga war eine Kämpferin, eine Überlebenskämpferin. Und Olga hatte ein großes Herz. Sie schien eine natürliche Gabe zu besitzen, trotz aller widrigen Umstände, trotz ihrem resoluten Überlebenskampf, sich eine versöhnliche Haltung bewahren zu können. Sie begegnete ihren Mädchen und Trude stets mild und voller Güte. Trude staunte dann und wann: „Was oder wer hatte Olga zum Pilzesammeln in den Wald geschickt? Hast Du da oben meinen Hilfeschrei erhört? Ich gebe Dir noch einmal eine Chance, Gott!“

Es kam, dass Trude gar bei Olga übernachtete und von dort zur Schule ging. Heinrich, der zu Beginn jeden Schritt seiner Tochter mit Argwohn beobachtete, schien sich allmählich daran zu gewöhnen und sich sogar mit den neuen Umständen anzufreunden. Ihm war die Erziehung von jungen Männern geläufig geworden, doch er fühlte sich unbeholfen und unbehaglich, seine Heranwachsende schadlos und keusch für einen zukünftigen Bräutigam durch die Pubertät zu schleusen. Auch wenn er das nie zugegeben hätte, kam ihm Olga insgeheim gelegen. Deshalb ließ ihr Heinrich freie Hand.

Trudes vierzehnter Geburtstag im Oktober 1922 wurde zum schönsten ihres bisherigen Lebens. Olgas Mädchen führten das Geburtstagskind mit verbundenen Augen in die mit Girlanden dekorierte Wohnküche. Sie flochten Trudes Haar und schmückten es mit einem Blumenkranz, dazu sangen sie Lieder. Olga buk ihr einen Geburtstagskuchen, den ersten in ihrem Leben, einen Mohnstollen. Dazu gab es warme Schokolade. Olga hatte aus den Gesprächen herausgehört, dass sich Trude schon immer ein Tagebuch gewünscht hatte, und überraschte sie mit einer schwarzen Kladde und einem Bleistift. Trude war gerührt und konnte ihr Glück kaum fassen.

Später stieß Lena zu der Frauenrunde. Endlich lernten sich Olga und Lena kennen. Lena überreichte ihrer Freundin ihr Geschenk in ein schwarzes Seidentuch gewickelt. Trude tastete durch den Stoff die Konturen eines Buches ab. Es kam eine Ausgabe von Der Glöckner von Notre Dame von Victor Hugo zutage. Der Einband war schon etwas speckig und Trude schloss daraus, dass das Buch aus zweiter Hand war. Dies schmälerte ihre Begeisterung jedoch in keiner Weise. Es war gut möglich, dass Lena es gestohlen hatte, war es doch auch für sie nur unter großer Heimlichtuerei möglich, an Literatur zu kommen. Sie fragte ihre Freundin nie, woher sie „den Glöckner“ hatte.

Übermütig schob Trude den rechten Daumen zwischen zwei Seiten, schlug das Buch auf und las laut: „Die Esmeralda war nach Gringoires Urteil ein unschädliches und liebliches Geschöpf; hübsch, und zwar hübsch trotz eines Schmolllippchens, das ihr eigen war; ein harmloses und leidenschaftliches Mädchen, das nichts wusste und für alles sich schwärmerisch begeisterte; dem der Unterschied zwischen einer Frau und einem Manne noch nicht bekannt war, dem dieser Unterschied auch selbst im Traum nicht zum Bewusstsein gedrungen wardas gebaut und geschaffen war wie ein Traum, das vernarrt war vor allem in Tanz, in Geräusch und Getöse, in frische, freie Luft, eine Art Mittelding zwischen Weib und Biene, das an den Füßen unsichtbare Beine hatte und in einem kreisenden Wirbel lebte.“

Trude lachte laut auf. Der Text passte und klang wie ein Weckruf. Sie war doch auch so ein Mittelding zwischen Kind und Frau. Tanz, Geräusch und Getöse! In Trude geriet eine Saite in Schwingung. Sie beschloss an ihrem Geburtstag, wie Esmeralda zu werden: frei und ungebunden, leicht und leidenschaftlich. Ihr Geburtstag sollte das gute Vorzeichen eines neuen Lebensabschnittes werden.

Sie saß zusammen mit den zwei Menschen, die ihr das Leben plötzlich so reich gemacht hatten, am gedeckten Tisch. So etwas Schönes hatte Trude bisher noch nie erlebt. Sie fühlte sich mit einem Mal zugehörig, geliebt und willkommen, sie hätte platzen können vor Glück. Unvorbereitet war es in ihr Leben gekommen. Plötzlich begann Trude wie ein Derwisch um den Tisch herumzutanzen. Sie drehte sich mit ausgebreiteten Armen um ihre eigene Achse, bis sie umfiel und sich mit einem irren Lachen auf den Dielen wälzte. Lena und Olga stürzten sich spaßend auf das Geburtstagskind, kitzelten es. Die Frauen balgten sich wie Welpen auf dem blanken Boden der Bauernküche.

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Lange trug Trude das Bild von Esmeralda mit sich herum. Die Tänzerin von Victor Hugos wurde ihr eine Schwester im Geist. Wie Trude, war auch die Zigeunerin früh ihrer Mutter entrissen worden. Das Buch fand Worte für ihre ungestillte Sehnsucht nach der mütterlichen Geborgenheit. Trude träumte davon, so leichtfüssig zu tanzen und so schön zu sein wie Esmeralda. Es war keine Sache, Olgas Einverständnis zu bekommen, als Trude sie darum bat, dem Folkloreverein Livonia beizutreten. Lena hatte von der fröhlichen Tanzgruppe geschwärmt, die sie besuchte, um aus ihrem goldenen Käfig auszubrechen, und Trude, die stets das Bild von Esmeralda in sich trug, ließ sich nicht zweimal bitten.

Längst hatte Trude sich der Autorität des Vaters entzogen. Am Abend des letzten Schultages band sie ihr kleines Bündel um, schwang sich auf ihr Fahrrad und zog im Birkenhof ein. Olga und die Mädchen rückten zusammen und teilten fortan ihre Schlafkammer mit Trude, die für die Kinder wie eine große Schwester wurde.

Es muss im Hochsommer gewesen sein, denn es war noch taghell und die Erde strahlte spätabends noch Wärme ab, als Trude von ihrem ersten Tanzen am Samstagabend nach Hause radelte, ihr Fahrrad im Schuppen verstaute und zu Olga eilte. Die Älteste saß am Boden und lockte die Katze mit einem Halm aus ihrem Versteck, während die anderen Himmel und Hölle auf dem Gehweg spielten. Trude trippelte und tänzelte vor Olga auf und ab, die auf der Bank an die Hauswand gelehnt dem Abendfrieden frönte, und schwärmte: „Es war großartig! Ich bin so glücklich Olga! Wenn du die Musik hörst, fangen die Beine wie von selbst an zu zucken. Die Kapelle besteht aus Bassgeige, Rahmentrommel, Geige und einer Laute. Der Gesang geht unter die Haut. Die Tanztruppe besteht aus etwa dreißig jungen Männern und Frauen. Sie waren alle sehr freundlich zu mir. Ich bin ja eine der Jüngsten. Lenas Bruder Karel war mein Tanzpartner. Er hat nur gelacht, wenn ich ihm aus Versehen auf die Füße gestiegen bin. Ich habe die Schritte aber schnell erlernt. Karel hat mich am Schluss ganz eng an sich geschlungen und mich herumgewirbelt. Was haben wir gekichert. Wenn ich mich mit den anderen im Kreis drehe, habe ich das Gefühl zu fliegen. Die Trachtengruppe hält die livische Tradition aufrecht. Das erfüllt mich mit Würde und Stolz. Ich habe das erste Mal das Gefühl, zugehörig zu sein und Wurzeln zu spüren.“

Olga folgte der Begeisterung der jungen Frau schmunzelnd. Trude umarmte Olga überschwänglich und setzte sich zu ihr auf die Bank. Olga erzählte von den Liven, was ihr die Eltern weitergegeben hatten. Trude ergänzte Olgas Ausführungen mit ihrem neu erworbenen Wissen über die baltische Kultur. Neugierig kamen die Mädchen näher und hockten sich auf den Boden zu Olgas und Trudes Füßen und lauschten den alten Mythen. Als die Nacht hereinbrach, war die Kleinste, Malena, mit dem Kopf im Schoß der ältesten Schwester eingeschlafen.

Die Trachtengruppe wurde Ende des 19. Jahrhunderts gegründet, um die baltisch-livische Kultur zu pflegen. Trotz ethnischer Zusammengehörigkeit hatte das Volk der Liven keinen eigenen Staat. Ihre Heimat lag im Baltikum zwischen dem Peipus See und der Bucht von Riga. Durch alle Jahrhunderte wurden die Ländereien immer wieder neu verteilt. Wie bei einem Spiel zockten die jeweiligen Machthaber aus Polen, Dänemark, Schweden, Deutschland, Finnland oder Russland beliebig um die Siedlungen. Das Volk arrangierte sich jeweils mit den Herrschern im Wissen, dass sie eines Tages sowieso wieder den Platz räumen würden.

Das einfache Bauernvolk war vielmehr darauf bedacht, den in ihren Augen wahren Mächten Tribut zu zollen. Eisige Winter, kurze intensive Sonnenmonate, karge Böden und ein launisches Meer lehrten die Menschen seit Anbeginn, sich mit den Naturgesetzen zu verbünden, statt sie zu bezwingen. Daraus entwickelte sich eine tiefe Verwurzelung in einem uralten Erdenbewusstsein. Die Liven haben sich politisch nicht formiert und nie mit der Faust gegen die Obrigkeiten aufbegehrt. Wohl deshalb ist diese Völkergruppe fast in Vergessenheit geraten.

Die Wurzeln der Liven reichen weit zurück in das Jahrtausend vor der christlichen Zeitrechnung, als die Menschen noch an die Natur und ihre Götter glaubten. Vermutlich hat sich die livische Naturreligion parallel zur keltischen langsam durch die Jahrhunderte entwickelt. Sie hatte einst eine Blütezeit erlebt und sollte dann mit dem Kreuzrittertum ausgerottet werden. Dieses düstere Kapitel der Kirche ist bekannt. Doch sind die Traditionen von Generation zu Generation im Geheimen weitergereicht worden. Ausgestorben sind sie nie ganz. Und als Ende des 19. Jahrhunderts die Gefahr der Inquisition gebannt war, war es möglich, die alten Gebräuche unter dem Deckmantel der Folklore wieder öffentlich auszuleben.

Trude lernte im Folkloreensemble nicht nur die Bräuche und die Tänze der Liven, sondern auch das Nähen und Besticken der Trachten. Trude stellte sich jedoch nicht sehr geschickt an. Auf ihrem schwarzen Schultertuch waren die krummen Kreuzstiche zum Glück nur von Nahem zu erkennen.

Nach und nach blickte Trude hinter die äußere Fassade der Folkloregruppe. Getanzt wurde nicht nur zu Kirchweih oder zur Wiederwahl des Bürgermeisters, sondern im Geheimen zu sogenannten „hohen Zeiten“. Geweihte Tage, wie beispielsweise die Sonnenwenden, regelten den Jahreskreis in heidnischen Traditionen. Livonia hielt heilige Messen von Tanz und Gesang umrahmt ab. Trudes Nackenhaare stellten sich auf, als sie davon hörte. Sie wollte doch nur tanzen und mit Gottes- oder Naturanbetung nichts zu tun haben. Denn sie war mit Gott immer noch nicht im Reinen und die Vorstellung, in die Fänge eines Geheimbundes geraten zu sein, war ihr zuwider. Doch Lena, die ihr wie immer einen Schritt voraus war, überredete Trude, an einer Zeremonie teilzunehmen und sich ihr eigenes Bild zu machen.

Es kostete Trude viel Überwindung, sich in den Kreis der Menschen einzureihen, die sich Hände haltend um einen Baum versammelten. So wie lauter Trommelwirbel vom Spieler als ekstatisch und von außen unerträglich erlebt wird, kam ihr dieser religiöse Kreis suspekt vor. Dieselben Freunde, die ihr sonst vergnügt bei Tanz und Musik begegneten, erkannte Trude jetzt in Stille mit geschlossenen Augen dastehen. Es passte nicht mit dem Bild zusammen, das sie von ihnen hatte.

Die Auffassung, dass die prächtige Linde, um die der Menschenkreis gebildet wurde, eine eigene Seele haben sollte, fand Trude absurd. Der Zeremonienmeister sprach: „Himmel und Erde haben ein eigenes Bewusstsein. Der Baum verbindet sich nun durch Krone und Wurzeln mit diesem göttlichen Sein. Lasst uns unsere Herzen und unseren Geist füreinander und den heiligen Geist der Schöpfung öffnen und uns in Liebe mit ihm verbinden. Wir sind nicht getrennt.“

Trude fand albern, was sie hörte. Doch Lena und dem Tanzen zuliebe ließ sie sich auf das Kinderspiel ein.

„Hüpfen wir halt um einen Baum herum“, dachte sie spöttisch. Sie reihte sich in den Kreis ein, ergriff die Hände der Nachbarn und schloss die Augen wie alle andern. Trude zügelte ihre Ungeduld und zwang sich, entspannt zu atmen. Das gleichmäßige Ein- und Ausatmen, die stoische Ruhe, die nur vom Säuseln der Blätter unterbrochen wurde, beruhigten Trudes inneres Gezappel. Dann spürte sie ein sanftes Kribbeln in den Handinnenflächen, das immer stärker wurde und über die Arme aufstieg und ihren Körper mit einer warmen Welle kitzelte. Es fühlte sich für Trude nicht bedrohlich, im Gegenteil beglückend an. Sie streckte sich, die Augen immer noch geschlossen, durch und öffnete ihren Brustraum, damit sie noch freier atmen konnte. Die Wärme breitete sich in der Herzgegend aus und schien aus ihr herauszuströmen. Die Grenze zwischen ihr und den anderen löste sich auf, Trude fühlte sich in einem schwerelosen, schwebenden Zustand, der sie mit unbändiger Glückseligkeit erfüllte.

Es war wie ein kurzer Moment der Erleuchtung. Sie wurde wie von einem Blitz getroffen. Trude wurde von einer starken Kraft erfasst. Eine Energie von Liebe, Verbundenheit und Einssein mit allem. Es gab kein sie und die andern mehr. Sie befand sich in einem Zustand von allem und nichts. Sie wurde zum Baum und zum Himmel, sie war der Grashalm und die Nachbarin. Alles gleichzeitig. Es war, als hätte sich ihre Schädeldecke zum Himmel geöffnet und alles Wissen dieser Welt strömte durch sie hindurch und könnte von ihr jederzeit abgerufen werden. Es gab keinen Anfang und kein Ende. Und es fühlte sich an, als sei sie Schöpfer und Schöpfung in einem. Trude fühlte sich allmächtig und nichts. In dem Moment erkannte Trude, dass sie und alle Schöpfung aus dieser Quelle entsprungen waren. Trude konnte die Tränen vor Überwältigung nicht zurückhalten.

„Das musste GOTT sein!“

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Nach dieser Initiation nahm Trude regelmäßig an den Naturzeremonien teil. Es gab keine priesterliche Hierarchie. Abwechselnd gestalteten die Teilnehmer die Andachten selbst. Jedem wurde die Fähigkeit, einen feierlichen Rahmen zu gestalten, zugetraut. Der Kreis, der immer am Anfang und Schluss gebildet wurde, symbolisierte die Gleichheit aller Anwesenden. Es wurde großer Wert darauf gelegt, denn im Kreis konnte die spirituelle Energie besser gehalten werden.

Der Inhalt der Messe wurde den Jahreszeiten oder anderen Themen angepasst. Immer wurden vom jeweiligen Zeremonienmeister die Elementarkräfte (Wasser, Erde, Luft, Feuer und Äther) gewürdigt und eingeladen, die feierliche Handlung zu unterstützen. Mit den Elementen wurden Gebete, Opfer, Wünsche zum göttlichen Empfänger transportiert. Sie übten sich darin, die Wesenheiten der Erdgeister zu erspüren und mit ihnen zu kommunizieren.

Trude erkannte, dass der Kirchengott des Vaters zwar ihren Kopf beschäftigte, aber nie ihre Seele berührte. Nach einem Kirchenbesuch fühlte sie sich stets getadelt und zurechtgewiesen. Der Gott der Kirche hatte sie als Frau geduldet, zweifellos aber als Schande der Schöpfung betrachtet. Mit dieser neuen, sinnlichen Annäherung an die Schöpfung und deren Ausdruck über die Natur bekam Trude ein Verständnis für das Zeitlose. Sie liebte es, sich bei einem Ritual zu sammeln und zur Ruhe zu kommen. Sie liebte das Eingebundensein in der Gruppe. Das Unspektakuläre und die Schlichtheit der Treffen fühlten sich gut an. In der Gemeinschaft Livonia war Trude willkommen. Sie war ein Kind der Schöpfung wie alle andern. Es war ein spirituelles Heimkommen. Ein Heimkommen in den Schoß von Mutter Natur, Vater Himmel und zu Geschwistern – den Tanzfreunden. Trude fühlte sich zugehörig.

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