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Wie die Dinge lebendig werden

Doch nicht nur unser Identitätsbegriff, sondern auch unsere grundlegende Sicht auf die Welt verschiebt sich: Sogenannte Dinge wie ein Baum oder ein Stuhl fangen plötzlich an, lebendig zu werden und ihre Eigenschaften zu verändern. Hört sich das nicht verrückt oder esoterisch an? Kann ein Ding wie ein Stuhl wirklich lebendig werden? Ein Baum ist zumindest noch eine Pflanze, also ein lebendiges Wesen, obwohl wir ihn meist genauso als ein Ding behandeln. Aber ein Stuhl? Dieser ist doch wirklich ein feststehendes totes Objekt, oder?

Natürlich hat ein Stuhl kein Eigenleben wie eine Pflanze oder ein Mensch, aber aus der Perspektive unserer lebendigen Erfahrung gibt es keinen unabhängigen Stuhl. Daher kann sich unser Erleben des Stuhles, je nachdem in welchem Bewusstseinszustand wir uns gerade befinden, sehr unterschiedlich gestalten. Er kann für uns ein Gebrauchsgegenstand sein, den wir zwar nutzen, aber kaum wahrnehmen. Er kann sich für uns jedoch auch in einem Moment der Muße zu einer tiefen sinnlichen Erfahrung des Niederlassens und Getragen-Werdens verwandeln.

Machen wir nicht alle die Erfahrung, dass der »gleiche« Blick aus dem Küchenfenster unserer Wohnung, je nachdem in welchem Zustand wir uns befinden, eine sehr unterschiedliche Landschaft offenbaren kann? Manchmal rührt sie uns an und wir empfinden Vertrautheit, Schönheit und Dankbarkeit. Vielleicht sehen wir sogar eine vollkommen neue Landschaft. Manchmal sehen wir sie jedoch wie durch den Schleier der Gewohnheit und können nichts dabei empfinden.

Wenn wir die lebendige Erfahrung ernst nehmen und die Wirklichkeit nicht nur durch die äußere Erscheinungsform von Menschen oder Dingen definiert wird, dann bekommt der Wirklichkeitsbegriff eine völlig neue Dimension. Er wird vielschichtig und regelrecht lebendig. Plötzlich ist ein Ding nicht mehr nur ein Ding, sondern eine lebendige, sich verändernde Erfahrung. Da ist ein Nachbar kein von uns unabhängiges Objekt, sondern wir erfahren hier ein lebendiges Beziehungsgeschehen, welches immer die Chance bietet, neue und überraschende Facetten hervorzubringen.

Wenn wir also denken, dass die Wirklichkeit feststehend ist – oder anders ausgedrückt: dass ein Nachbar immer gleich ist und gleich bleibt –, liegt dies nur daran, dass wir uns gedanklich auf eine bestimmte Wirklichkeitsperspektive festgelegt haben und unserer lebendigen Erfahrung keinen Wert beimessen. Der Begriff »Wirklichkeit« wird hier auf eine materielle, objekthafte Beschreibung der Welt verengt. In dieser Beschreibung der Welt spiegeln sich wiederum grundlegende gesellschaftliche Übereinkünfte. In der westlichen Kultur ist die Sichtweise, Menschen und Dinge als voneinander unabhängige Objekte zu betrachten, tief verwurzelt. Die lebendige Erfahrung des Einzelnen wird grundsätzlich der objekthaften Beschreibung der Welt untergeordnet, wenn nicht sogar negiert.

Das hat weitreichende Auswirkungen auf die innere Erfahrung des Menschen. Wenn wir in einer Gesellschaft leben, die uns ständig suggeriert, dass unsere lebendige Erfahrung unbedeutend ist oder keine Wirklichkeit besitzt, sondern nur die äußeren, materiellen Erscheinungen zählen, dann nehmen wir automatisch unsere inneren Erfahrungen nicht mehr so ernst. Sie verschwinden mehr und mehr aus dem Vordergrund unseres Bewusstseins, und das Denken, dessen Domäne die Beschreibung und Benennung von Objekten ist, gewinnt mehr und mehr an Bedeutung.

Leben wir nicht in einer Gesellschaft, in der Gefühle als unbedeutend und subjektiv betrachtet und vernachlässigt werden? In der die Seele der Effektivität und Produktivität untergeordnet wird und entsprechend nicht selten als Störenfried erscheint? Wir geben Unsummen für die psychotherapeutische Behandlung von »seelischen Störungen« aus, aber fördern in unseren Schulen hauptsächlich kognitive Fähigkeiten. Ist es da ein Wunder, dass Menschen emotional verarmen, zu Suchtmechanismen neigen und irgendwann in der Psychotherapie als gesellschaftlich anerkanntem Zufluchtsort der Seele landen?

Ein typisches Beispiel dafür, welche Auswirkungen verschiedene Realitätsbegriffe haben können, findet sich in der Medizin. Das vorherrschende Modell der modernen westlichen Medizin hat sich aus der Sichtweise einer materiellen Welt von unabhängigen Objekten heraus entwickelt. Hier werden menschliche Organe meist unabhängig vom übrigen Körper und auch relativ unabhängig vom energetischen System, den seelischen Einflüssen und den Lebensumständen betrachtet und behandelt. Der Medizin des Ostens, wie zum Beispiel der Akupunktur, liegt eine ganz andere Weltsicht zugrunde: Hier wird Körper und Seele als ein ganzheitliches, lebendiges Geschehen gesehen. So haben sich die Methoden der östlichen Medizin nicht aus dem Sezieren und dem Studium von Organen entwickelt, die toten Menschen entnommen wurden, sondern aus der Beobachtung des lebendigen Menschen.

Es geht mir an dieser Stelle nicht darum, eine Bewertung verschiedener medizinischer Sichtweisen und Methoden vorzunehmen. Wie wir wissen, können beide medizinische Systeme wertvolle Beiträge zur Gesundheit des Menschen beisteuern. Es geht mir im Moment lediglich darum, aufzuzeigen, wie stark sich ein bestimmter Wirklichkeitsbegriff als kollektive Hypnose auf eine Gesellschaft stülpt und welch drastische Auswirkungen dies auf die Entwicklung der Gesellschaft und auf die Erfahrung des einzelnen Menschen hat.

Bei diesen Betrachtungen wird deutlich, dass der Wirklichkeitsbegriff sich nicht auf eine feststehende und allgemeingültige Entität bezieht, da es diese in ihrer Absolutheit und Allgemeingültigkeit gar nicht gibt. Sowohl subjektive Bewusstseinszustände als auch kollektive Beschreibungen der Wirklichkeit können völlig unterschiedliche Welten hervorbringen. Insofern muss man den Wirklichkeitsbegriff auf seine ursprüngliche Wortbedeutung zurückführen: Wirklichkeit ist das, was wirkt und damit unsere Welt bestimmt. Dieser Wortsinn weist auf eine Vielschichtigkeit von Realität hin und lässt zu, dass sich Wirklichkeiten ändern können.

Mit den Augen einer Libelle schauen

Bei aller Vielschichtigkeit von Bewusstseinszuständen, die unser Erleben einfärben, gibt es nicht doch eine feststehende, materielle Welt um uns herum? Ist ein Tisch nicht ein Tisch und ein Baum nicht ein Baum, unabhängig davon, aus welchem Bewusstseinszustand wir ihn gerade betrachten? Sieht nicht jeder Mensch den gleichen blauen Himmel über sich und die gleiche bunte Blumenwiese, auf der er steht?

Ja, es gibt eine gewisse kollektive Verlässlichkeit unserer Erfahrung, wenn wir als Menschen unsere sinnliche Wahrnehmung vergleichen. Wahrscheinlich sieht eine Gruppe von Menschen aus unterschiedlichen Kulturen den Himmel tatsächlich in der Farbe Blau und die Blumenwiese dagegen bunt. Natürlich gibt es hier bereits Abweichungen, da manche Menschen nur schwer Braun- und Grüntöne differenzieren können. Aber diese Abweichungen werden kollektiv als Fehlentwicklung ihrer Wahrnehmungsorgane abgetan, sodass sie die kollektive Sichtweise einer feststehenden materiellen Welt nicht infrage stellen.

Wenn wir uns aber jetzt vergegenwärtigen, dass das menschliche Auge nur einen sehr kleinen Bereich der elektromagnetischen Wellen – wir nennen ihn »Licht« – aufnehmen und ans Gehirn weiterleiten kann, das wiederum aus den Sinnesreizen eine farbige Welt konstruiert, dann wird deutlich, dass die Art, wie wir die Welt sehend erfahren, eine menschliche Konstruktion von Auge und Gehirn ist. Infrarotstrahlungen, UV-Strahlen, Röntgenstrahlen und viele andere niedere oder hohe Wellenbereiche des Lichts werden nicht dargestellt. Wie würde die Welt wohl aussehen, wenn wir diese Strahlungsbereiche auch sehen könnten?

Wie sieht beispielsweise eine Libelle mit ihren Facettenaugen die Welt? Ein Facettenauge einer Libelle besteht aus bis zu 30.000 Einzelaugen. Sie sieht also gar nicht eine einzige Welt, sondern unzählig viele. Wir können eine Ahnung davon bekommen, wie die Libelle die Welt sieht, wenn wir einen Blick in ein Kaleidoskop werfen. Hier fächert sich das Sehfeld durch eine Anordnung von mehreren Spiegeln auf und es entsteht eine vielschichtige, aufgelöste und faszinierende »Spektralwelt«. Allerdings besteht diese nur aus wenigen Spiegelfeldern und nicht aus 30.000.

Oder betrachten wir die Sinnesorgane einer Fledermaus. Hört sie nicht den Ultraschallbereich, der unseren Ohren verschlossen bleibt? Auf der anderen Seite können ihre Augen nur Schwarz-Weiß sehen, aber wiederum die UV-Strahlen erkennen. Sie verfügt sogar über einen Magnetsinn, der ihr hilft, ähnlich wie bei Zugvögeln die Orientierung zu behalten.

Man kann sich kaum vorstellen, wie eine Libelle oder eine Fledermaus die Welt konstruiert und damit erfährt, aber wir können sicher sein, dass Menschen und Tiere die Welt, in der sie leben, so unterschiedlich beschreiben würden, dass wir nicht auf die Idee kämen, dass sie den gleichen Planeten bewohnen. Das bedeutet nicht weniger, als dass es keine äußere feststehende Welt gibt, sondern nur innere Konstrukte der Welt, abhängig vom jeweiligen Lebewesen und seinen Wahrnehmungsorganen und seiner Art, die Wahrnehmungsreize zu verarbeiten.

Doch die Unterschiedlichkeit der Welten, in denen Lebewesen leben, endet nicht mit der Wahrnehmung, also der inneren Konstruktion einer äußeren Welt. Sie geht weit über die Wahrnehmung hinaus, da das Lebewesen mit seiner Art zu leben diese Welt, in der es lebt, mitgestaltet. So ist ein lebendiges Geschöpf nicht nur »Empfänger« einer äußeren Welt, sondern erschafft diese auf zweifache Weise: zum einen durch seine individuelle Art der sinnlichen Konstruktion, zum anderen aber durch sein Handeln, also seine Art, sich aktiv auf die von ihm konstruierte Welt zu beziehen.

Nehmen wir zum Beispiel einen Frosch, der als Amphibie perfekt an das Leben im Teich angepasst ist. Seine Sinne helfen ihm, das Leben im Teich zu meistern, Feinde durch kleinste Erschütterungen wahrzunehmen und Beute, wie zum Beispiel Fliegen, im Flug zu erkennen. Der Frosch ist aber nicht nur Wahrnehmender, sondern gleichzeitig auch »Gestalter«. Er prägt durch sein Leben das Milieu im Froschteich mit und wird so auch der Mitschöpfer der Welt, in der er lebt.

Beim Menschen können wir besonders deutlich erkennen, wie stark er seine Welt, in der er lebt, miterschafft. Nehmen wir zum Beispiel seine Fähigkeit, ein bestimmtes Spektrum an Schallwellen zu hören. Innerhalb dieses Spektrums kann er Töne in seinem Erleben konstruieren und damit auf seine spezifisch menschliche Weise erfahren, sprich hören. Dabei bleibt es aber nicht. Er hört diese Töne nicht nur als empfangendes Wesen, er erschafft sie auch. Durch seine Fähigkeit, zu hören, konnte er die sprachliche Kommunikation entwickeln und perfektionieren. Und, was vielleicht noch erstaunlicher ist, er hat Musikinstrumente erschaffen, mit denen er in diesem Hörspektrum Töne und sogar komplexe Symphonien erzeugen kann, die es vorher auf dieser Erde nicht gab. So erschafft der Mensch durch seine Art der Wahrnehmung und seine Art zu leben eine ganz eigene Welt, von der ein Tier, das nicht hören kann, ausgeschlossen ist.

Wie stark der Mensch seine Welt selbst erschafft, können wir daran ermessen, dass Geologen inzwischen davon ausgehen, dass wir erdgeschichtlich in ein neues Zeitalter eingetreten sind, in dem der Mensch das Antlitz der Erde, also die natürliche Beschaffenheit der Oberfläche der Erde, unwiederbringlich verändert hat. Diese Tatsache ist natürlich erschreckend, da sich der Mensch mit seiner ungeheuer mächtigen Gestaltkraft von allen anderen Lebewesen auf der Erde unterscheidet und wir nicht wissen, ob sich der Mensch nicht dadurch langfristig seiner eigenen Lebensgrundlage beraubt. Nichtsdestotrotz ist die grundsätzliche Dynamik, dass jedes Lebewesen die Welt, die es mit seinen Sinnen erfährt, schöpferisch mitgestaltet, dagegen ein natürlicher Prozess.

Nur eine Welt?

Jedes Lebewesen ist also Empfänger und Schöpfer in einem. Wobei man sich auch das Empfangen nicht als passives Abbilden einer äußeren Realität vorstellen darf, sondern als eine aktive Konstruktion, die Sinnesreize zu einer individuellen Erfahrung verdichtet. Dieser Vorgang findet vollkommen automatisch und unbewusst statt, sodass wir die Welt, die wir konstruieren, nicht mehr hinterfragen und wir selbstverständlich davon ausgehen, dass es nur diese eine Welt gibt, die wir erfahren. Oder anders gesagt: dass alle Lebewesen in einer Welt leben – nämlich der unseren – und sie genauso erfahren wie wir selbst. Welch ungeheure Fehleinschätzung!

Diese Grundannahme stimmt nicht einmal, wenn wir im menschlichen Bereich bleiben. Wenn Menschen aus verschiedenen Kulturkreisen aufeinandertreffen, wird es manchmal geradezu offensichtlich, dass sie aus verschiedenen »Welten« stammen. Die Folge sind eklatante Missverständnisse, die zu Irritation, Befremdung und Ablehnung führen können.

Wenn zum Beispiel ein deutscher Mann in Ägypten höflich die Frau des Gastgebers grüßt und sie dabei anschaut, ist dies im deutschen Verständnis ein Ausdruck von Höflichkeit und eine Selbstverständlichkeit. In der ägyptischen Kultur jedoch ist diese Handlung eine außerordentliche Respektlosigkeit. Umgekehrt, wenn eine ägyptische Frau einen deutschen guten Bekannten auf der Straße keines Blickes würdigt, ist dies im Sittenkodex der arabischen Welt ein Ausdruck von Respekt, für den Bekannten aus einem europäischen Kulturkreis kommend allerdings das Gegenteil.

Manchmal genügt bereits eine bestimmte Art des Humors, um die Kluft zwischen den kulturellen Welten sichtbar werden zu lassen. Was für den einen ein Witz ist, kann für einen anderen Menschen aus einer anderen Gesellschaft eine Peinlichkeit oder sogar eine Beleidigung darstellen. Natürlich sind kulturelle Schranken nicht unüberwindbar, aber um ein echtes Verständnis füreinander zu bekommen, müssen wir zunächst die Unterschiedlichkeit der Welten, aus denen wir kommen, anerkennen. Das bedeutet, dass wir uns bewusst machen, dass uns der Kulturkreis, in dem wir leben, tiefer prägt, als wir uns das normalerweise eingestehen.

Besonders in unserer westlichen Gesellschaft sehen wir uns selbst als aufgeklärt, modern und weltoffen. Damit einher geht das Gefühl, anderen Kulturkreisen überlegen zu sein. Gleichzeitig übersehen wir völlig, dass wir ein Kind dieser Kultur sind und damit unsere Sicht- und Lebensweise stark von der westlichen Gesellschaft geprägt wird. Wir sind daher in unseren Meinungen und Verhaltensweisen genauso wenig unabhängig und frei wie Menschen in anderen Kulturen. Unsere sogenannte Weltoffenheit kommt sehr schnell an ihre Grenzen, wenn wir mit für uns unverständlichen Lebensformen anderer Kulturen konfrontiert werden und diese als gleichwertig akzeptieren sollen.

Doch auch innerhalb einer Kultur leben Menschen in unterschiedlichen Welten. Lebt ein Mensch, der in sich tiefe Ängste hat, und dessen Grundgefühl das der Bedrohung ist, in der gleichen Welt wie ein Mensch mit einem großen Vertrauen ins Leben? Mit Sicherheit nicht. Eine Person mit Grundängsten wird auf allen Ebenen mehr mit Absicherung beschäftigt sein als mit Lebenslust. Das wird ihre Sichtweisen genauso prägen wie ihre Gefühle und Verhaltensweisen. Vielleicht verhält sie sich in Kontakten vorsichtig, geht bei Entscheidungen keine Risiken ein, bleibt im vertrauten Rahmen der Tradition, fährt immer wieder an den gleichen Urlaubsort und ist allem Neuem oder Fremdem gegenüber skeptisch. Ein lebensverändernder Schritt kann für eine ängstliche Person eine ungeheure Herausforderung darstellen, die sie mit tiefen Ängsten konfrontiert und an den Rand der Erschöpfung bringt.

Ganz anders verhält sich da ein Mensch mit Grundvertrauen. Neues wird als belebend erfahren und entsprechend gesucht. Das bekannte und vertraute Terrain kann hinterfragt und erweitert oder zurückgelassen werden. Ein Mensch mit Grundvertrauen hat eine Freiheit und eine Abenteuerlust, von der eine Person mit Ängsten nur träumen kann.

Man könnte jetzt denken, dass eine ängstliche Person auf die Freiheit eines Menschen mit großem Vertrauen neidisch ist. Doch das ist ein Irrtum. Im Gegenteil kann sie ein risikobereites Handeln unverständlich oder sogar erschreckend finden. Eine ängstliche Person sucht nämlich zuinnerst Sicherheit und nicht Freiheit. Man kann sich vorstellen, dass Menschen, die in derart unterschiedlichen Welten leben und so widersprüchliche Sehnsüchte haben wie den Wunsch nach Sicherheit, bzw. Freiheit und Abenteuer, sich manchmal begegnen wie Menschen aus verschiedenen Kulturkreisen – mit großem Unverständnis füreinander. »Wie kann man nur immer an den gleichen Urlaubsort fahren?«, fragt sich da die eine Person und die andere schüttelt den Kopf bei dem Gedanken, »wie man sich nur so damit ›stressen‹ kann, ständig neue Dinge auszuprobieren«.

Wie unterschiedlich diese beiden Welten tatsächlich sind, kann man nur ermessen, wenn man begreift, dass auch die Wahrnehmung der Menschen unmittelbar betroffen ist. Unsere Wahrnehmungsorgane sind eben keine neutralen »Empfangsgeräte«, sondern verarbeiten die ­äußeren ­Sinnesreize in Abhängigkeit zu unserer inneren Verfassung. Wenn eine Person chronisch in einer Welt der Angst und der Bedrohung lebt, »schärfen« sich ihre Sinne und bilden daher eine ganz andere Welt ab als bei einem Menschen mit Grundvertrauen. Die innere Haltung, »immer auf der Hut zu sein«, führt zu einer generellen Anspannung und einer Überbetonung der äußeren Wahrnehmungsorgane.

In der Anspannung arbeiten unsere Sinnesorgane anders als in der Entspannung. Wir kennen dieses Phänomen partiell alle: Bei Gefahr fahren wir unsere »Antennen« aus und werden hochsensibel für äußere Reize, die uns schaden könnten. In diesem »angespannten Schauen und Hören« können uns kleinste Reize in Alarm versetzen, die wir in einem entspannten Grundzustand kaum wahrnehmen würden. Gleichzeitig ist hier die Wahrnehmung nach innen – also das Spüren des Körpers und das Fühlen – deutlich eingeschränkt. Ein angespannter Zustand ist also anstrengend und führt zusätzlich zu einer Überaktivität unserer äußeren Sinne, sodass wir überempfindlich auf äußere Reize reagieren und entsprechend eine reizarme – also vertraute – Umgebung suchen.

Gleichzeitig nimmt im akuten, aber genauso im chronischen Zustand der Bedrohung die Fähigkeit zum Genießen ab. Genießen können wir nur in der Entspannung und durch innere Muße. Hier beginnen wir die Dinge von innen her zu spüren und unsere Sinne öffnen sich für eine Feinheit und Unmittelbarkeit, die uns im Zustand einer Überschärfe durch Gefahr nicht zugänglich ist. Da aber ein Mensch mit Grundängsten nur in einer vertrauten Umgebung einigermaßen entspannen kann, ist es nicht verwunderlich, dass jede neue Situation als anstrengend empfunden und vermieden wird.

Der ängstliche Mensch erfährt also tatsächlich eine andere Welt als ein Mensch mit Grundvertrauen. Beide Menschen konstruieren ihre Sinneserfahrung entsprechend ihrer Grundhaltung und erschaffen durch ihr Verhalten aktiv das Milieu ihrer Umwelt mit. Man kann daher durchaus davon sprechen, dass sie in unterschiedlichen Welten leben, genauso wie zwei Menschen aus verschiedenen Kulturkreisen oder wie eine Fledermaus und ein Mensch. Die weitverbreitete Vorstellung, dass alle Wesen in einer Welt leben, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als Trugbild.

Die Schlüsselrolle des Bewusstseins

Wenn wir uns jetzt noch vor Augen führen, dass auch der einzelne Mensch in verschiedenen Bewusstseinszuständen und damit inneren Welten zu Hause ist, dann zerfällt die gängige Idee einer einzigen Welt, die unsere Wirklichkeit ausmacht, vollständig. So kann ich mir gut vorstellen, dass manche Leserin oder mancher Leser bei der Lektüre dieses Kapitels das Gefühl hat, schwindelig und zunehmend unsichererer und verwirrter zu werden. Diese Reaktion wäre durchaus berechtigt und sehr natürlich. Schließlich ist es in diesem Kapitel meine Absicht, den Schleier der gewohnten und allgemeingültigen Wirklichkeit, die uns eine kohärente, äußere Welt vorgaukelt, zu lüften. Ja, sogar die gängige Vorstellung, dass wir selbst eine einheitliche Person sind, wird hinterfragt. Damit rüttle ich an dem Grundgerüst, auf dem das persönliche und gesellschaftliche Leben aufgebaut ist.

Wenn uns daher diese Betrachtungen verwirren oder verunsichern, können wir sicher sein, dass wir über den Schleier einer gewohnten einheitlichen Wirklichkeit hinausgetreten sind und dort einer neuen, vielschichtigen und vor allem lebendigen Wirklichkeit begegnen. Hier sind die Dinge nicht so, wie sie auf den ersten Blick erscheinen, nämlich als in sich bestehende, unabhängige Entitäten. Vielmehr wird uns zunehmend bewusst, dass die äußere Welt nicht unabhängig von der betrachtenden Person existiert und es damit keine allgemeingültige Erfahrung einer äußeren Welt gibt, sondern nur unendlich viele Betrachtungsperspektiven.

Wenn wir uns jetzt im nächsten Schritt bewusst machen, dass auch der sogenannte Betrachter keine unabhängige Gegebenheit ist, sondern wiederum von der Betrachtungsperspektive, also dem jeweiligen Bewusstseinszustand, abhängt, verlassen wir endgültig die Vorstellung einer verlässlichen äußeren und inneren Welt. Was bleibt, ist eine vielschichtige Realität der totalen Bezogenheit und vor allem eine Wirklichkeit, die sich in jedem Augenblick verändern kann. Oder anders gesagt, die nicht feststeht. Es genügt, dass die betrachtende Person einen anderen Bewusstseinszustand einnimmt und damit eine andere ­Perspektive, schon gerät die Welt in Bewegung und zeigt neue Facetten. Wie beim Blick durch ein Kaleidoskop, bei dem die geringste Bewegung des Betrachters neue Farbspiele erzeugt, so kann uns eine neue Betrachtungsweise die Welt, einschließlich unserer selbst, in einem völlig neuen Licht erscheinen lassen.

Ist das nicht gespenstisch und ein wenig verrückt? Ja, im eigentlichen Wortsinn ist es »ver-rückt«, denn unsere übliche Sicht einer äußeren statischen Welt, in der eine klare Ordnung herrscht, wird hier erschüttert. Das bedeutet aber nicht, dass wir im psychiatrischen Sinne verrückt werden und damit nicht mehr alltagstauglich leben können, sondern dass wir die Möglichkeit bekommen, durch den Schleier der gewohnten Wirklichkeitsperspektive hindurchzuschauen und uns damit befassen können, wie Wirklichkeit – oder besser Wirklichkeitsperspektiven – entstehen.

Unser Blick geht dabei vom äußeren Schein der Dinge weg und wendet sich immer mehr nach innen. Wir fragen uns, was in unserem Geist geschieht, dass bestimmte äußere Erfahrungen zutage treten. Was ist der Grund dafür, dass sich innere Perspektiven und damit einhergehend die äußere Weltsicht verändern? Welche Bedeutung haben dabei Bewusstseinszustände und können wir diese für unser Leben nutzbar machen?

All diese Fragen führen uns von der Oberfläche des Lebens zum Hintergrund des Bewusstseins, aus dem heraus sich unsere Erfahrungen bilden. Denn zuinnerst und zuerst steht hinter allen äußeren und inneren Erfahrungen das Bewusstsein als der Erfahrungsraum, in dem sich unterschiedlichste Erfahrungsdimensionen abbilden. Das Bewusstsein ist das Subjekt, in dem sich alle Phänomene spiegeln. Sogar die Erfahrung der eigenen Person, die in einem Körper erscheint, ist nichts weiter als ein Objekt im Spiegel des Bewusstseins.

Kein Objekt, keine Erfahrung, kann unabhängig vom Subjekt in Erscheinung treten, da es ein Objekt ohne Subjekt nicht gibt. Daher ist für das jeweilige Zustandekommen einer Erfahrung entscheidend, welche Perspektive das Subjekt einnimmt und welche Beschaffenheit es hat. Oder anders gesagt: Auf was richtet sich unser Bewusstsein und wie ist es gerade beschaffen? Diese Frage steht am Anfang aller Erfahrungen und entscheidet letztlich darüber, wie wir das Leben konstruieren.

Um die Bedeutung dieser Frage anschaulich zu machen, kann es helfen, sich mit Fotografie zu befassen. Fotografieren ist die Technik, Objekte in der äußeren Welt abzulichten. Jede Fotografin weiß aber, dass das jeweilige Bild in Abhängigkeit zum Subjekt der Fotografin und zur Beschaffenheit der Linse ihres Fotoapparats entsteht. Was bewegt die Fotografin gerade? Was sieht sie? Welchen Fokus auf das Objekt nimmt sie dadurch ein? Welchen Bildausschnitt wählt sie? Wie stellt sie die Brennweite und die Schärfe der Linse ein? Wenn wir den Fotoapparat als Verlängerung des Bewusstseins und der Wahrnehmungsorgane einer Fotografin betrachten, dann ist das jeweilige Bild eben nicht nur ein Produkt des Blickwinkels, den die Fotografin einnimmt, sondern auch der Beschaffenheit ihres Bewusstseins.

Jedes Foto weist uns damit auf das im Hintergrund stehende Bewusstsein der Fotografin hin, aus dessen Beschaffenheit heraus das Bild entstanden ist. Sichtbar ist aber zunächst nur das Foto, nicht das Subjekt, das es geschaffen hat. Genauso wenig, wie wir unser eigenes Bewusstsein wahrnehmen, wenn wir ein Foto anschauen. Und doch gibt es die Erfahrung des Fotos ohne unser Bewusstsein und ohne das Bewusstsein der Fotografin nicht.

Wenn wir diese Welt und unser menschliches Leben tiefer begreifen wollen, dann ist es unumgänglich, dass wir in den Blick nehmen, was hinter allen Dingen steht: das Bewusstsein und seine Beschaffenheit. Es ist der Kristallisationspunkt, aus dem heraus verschiedene Welten nebeneinander und ineinander in Erscheinung treten. Nur wenn wir diese grundlegende Dynamik und ihre Gesetzmäßigkeiten tiefer begreifen, werden wir das Wunder der Schöpfung nochmals neu erfassen und lernen, kreativ als Mensch darin zu leben.

In den nun folgenden Kapiteln werde ich die drei grundlegenden Bewusstseinszustände und ihre Gesetzmäßigkeiten darstellen – die äußere Welt der Alltagsrealität, die innere Welt der Seelischen Realität und unser Innerstes, die Absolute Realität.

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