Читать книгу: «Zwischen Zeit und Ewigkeit», страница 7

Шрифт:

Begrenzungen der Alltagsrealität

 Geistige Muster und Zuschreibungen rasten ein und bestimmen uns. Durch Identifikation mit Mustern entsteht das »Ego«.

 Die Objekte erscheinen als verlässlich, unabhängig voneinander und damit getrennt.

 Wir erfahren uns selbst in einer begrenzten Identität und fühlen uns einsam.

 Ängste vor Wandel, Verlust und Vergänglichkeit

Symptome einer Fixierung

Das Leben wird schal, flach, funktional, bedeutungslos, sinnentleert. Das Gefühl von Starre, Stagnation, Gleichgültigkeit, Unberührtsein, Desinteresse und Unzufriedenheit. Einsamkeit. Die Unfähigkeit, zu vertrauen, sich hinzugeben und mitzufließen.

Kapitel 3
Im Reich der Seele –
die Seelische Realität

Wenn der Tod kommt und mir zuflüstert: »Deine Zeit ist zu Ende«, dann will ich zu ihm sagen können: »Ich habe in der Liebe gelebt, und nicht nur in der Zeit.«

Wenn er fragt: »Werden deine Lieder Bestand haben?«, werde ich antworten: »Das vermag ich nicht zu sagen, aber ich weiß, dass ich oft meine Ewigkeit fand, wenn ich gesungen habe.«

Rabindranath Tagore

Der Anblick eines Flusses, wie er gemächlich durch die Landschaft mäandert und dabei als Lebensader eine ganze Region nährt und prägt, ist ein starkes Bild für die Vitalkraft des Lebens. Über Jahrhunderte hinweg, fast zeitlos, gestaltet ein Fluss die Natur der Umgebung, aber auch Orte und Städte. Fast jede bedeutende Stadt hat ihren Fluss, der ihr einen eigenen Charakter, der ihr Vitalität und Schönheit verleiht. Was wären London, Paris oder Köln ohne ihre Flüsse?

Stetig, ohne Eile und doch unaufhaltsam entfaltet sich hier eine Kraft, die der Mensch nutzen und kanalisieren, aber niemals stoppen kann. Selbst ein Staudamm kann einen Fluss nur scheinbar aufhalten, denn das Fließen geht weiter und nach einer gewissen Zeit läuft auch das größte Staubecken über.

Die Vitalität eines Flusses entfaltet sich aus seiner immerwährenden Bewegung. Er ist lebendig und damit immer stärker als alle statischen Versuche der Eindämmung. Über kurz oder lang wird er die (vorgegebene) Form aufbrechen und neue, kreative Wege beschreiten. Denn das Wesen des Flusses wird nicht durch das Flussbett definiert und begrenzt, sondern durch das immerwährende Fließen, welches unbegrenzt ist.

Überhaupt beginnt ein Fluss nicht an seiner Quelle und endet nicht am Meer. Kommen die Wassermassen eines Flusses alle aus seiner Quelle? Fließen sie alle in das Meer? Je mehr wir auf das Fließen des Wassers schauen und nicht auf die Form des Flussbettes, desto deutlicher sehen wir, wie er sich mit der ganzen Landschaft vernetzt. Unzählige Zuflüsse speisen die Wasser und aus der Vogelperspektive erscheint ein Fluss nicht als eine einzige Gestalt, sondern als komplexes Adernetz. Gibt es also nur eine Quelle?

Und wie steht es mit der Mündung? Das Wasser des Flusses nährt jeden Strauch und jeden Baum am Ufer. Es fließt ins Wachstum aller Pflanzen und Tiere und zeigt sich auf vielfältige Weise in der ganzen Landschaft wieder. Mündet das Wasser also immer ins Meer? Wo beginnt ein Fluss und wo endet er?

Das Wesen des Flusses – die Bewegung des Wassers – ist unbegrenzt und zeigt sich in unzähligen, kreativen Erscheinungsformen des Lebens – in Pflanzen, Tieren, Landschaften, Steinen und natürlich auch im Menschen. Gerade weil Wasser formlos, unbegrenzt und immerwährende Bewegung ist, hat es eine ungeheure schöpferische Gestaltkraft, die sich in immer neuen Lebensformen zeigt.

Der Fluss in uns

Auch in unserem menschlichen Leben fließt ein immerwährender Fluss. Es ist der Fluss der Seele, welcher uns als innere Lebensader Vitalität und schöpferische Freiheit schenkt. Die Seele ist das Lebendige in uns, das, was niemals stillsteht. Wie das Wasser des Flusses die ganze Landschaft nährt und gestaltet, so durchwirkt auch die Seele unser ganzes Menschsein von innen her.

Doch wie beim Fluss achten wir meist mehr auf die äußere Erscheinungsform – das Flussbett – als auf die Vitalität des Fließens. So schauen wir auch bei uns und bei anderen Menschen meist auf die äußere Gestalt des Körpers und auf die begrenzte Identität, und übersehen dabei die zugrunde liegende Vitalkraft, ohne die kein Leben und keine Form möglich wäre. Gibt es einen Körper ohne die Kraft, die unser Herz schlagen und uns atmen lässt? Gibt es einen Gedanken oder eine Handlung ohne die zugrunde liegende Lebendigkeit?

Dabei fließt die Vitalkraft der Seele genauso verlässlich und unaufhaltsam wie das Wasser eines Flusses. Sie verlässt uns in keinem Augenblick unseres Lebens und auch wenn sich im Sterben unsere individuelle Form auflöst, fließt sie im Netz des Lebens weiter. Denn der Fluss der Seele ist genauso wenig begrenzt wie ein äußerer Fluss. Das lebendige Wasser ist zutiefst mit seiner Umgebung verbunden und fließt in allem.

So ist die Seele keineswegs so abgegrenzt, wie unser Menschsein in der Alltagsrealität erscheint. Wie könnte sich auch ein lebendiges Fließen an eine begrenzte Form halten? Immerwährendes Fließen kann nicht begrenzt werden. Es kann vorübergehend kanalisiert und strukturiert werden, kann in individuellen Erscheinungsformen Gestalt annehmen, wird sich aber im Letzten an keine Form halten. Die Lebendigkeit selbst wirkt über die Form hinaus. So wie unsere Lebendigkeit über unsere Form des Körpers und unser individuelles Leben hinaus in das Leben unserer Mitmenschen hineinwirkt und so wie gleichzeitig diese Menschen auf unser persönliches Leben Einfluss haben, so verwebt sich die Seele fortwährend in einem komplexen Austausch ohne Anfang und ohne Ende.

Wenn es aber keinen Anfang und kein Ende gibt, sondern nur immerwährendes verwobenes Fließen, dann überschreiten wir auch die Grenzen der Zeit. Es gibt kein Vorher und kein Nachher mehr, kein Gestern und kein Morgen, dafür aber eine lebendige, sich entfaltende Bewegung in der Gegenwart. Gegenwart meint hier keinen Punkt zwischen Vergangenheit und Zukunft, sondern die schöpferische Vitalität des Augenblicks. Nur sie existiert. Sie ist die Schöpfungskraft, die alle Erscheinungsformen erschafft.

Wenn wir auf die Seele als immerwährende Schöpfungskraft schauen, verschiebt sich unsere gewohnte Vorstellung von Schöpfung. Normalerweise betrachten wir Entwicklung als einen Vorgang in der Zeit. Da gibt es den Urknall, an dem die Schöpfung begonnen hat. Da ist die Quelle der Ort, an dem ein Fluss entspringt und die Geburt der Beginn des menschlichen Lebens. Doch aus der Perspektive einer zeitlosen Bewegung, die wir Leben nennen, gibt es keinen Anfang, sondern nur eine schöpferische Bewegung, die sich fortwährend entfaltet. Die Schöpfung entfaltet sich so gesehen nicht aus dem Urknall heraus, sondern im zeitlosen Kontinuum des Jetzt. Aus dieser Perspektive wurden wir nicht bei unserer Geburt geboren, sondern wir werden in jedem Augenblick neu erschaffen.

Die Seele ist eine Gegenwartsperspektive und damit immer neu, einzigartig, unwiederbringlich. So wie wir nicht zweimal den gleichen Atemzug atmen können, können wir keinen Moment unseres Lebens zweimal auf die gleiche Weise erfahren. Der Inhalt und die Form einer Erfahrung können sich ähnlich anfühlen wie ein Atemzug, der sich genauso anfühlt wie viele Atemzüge, die wir zuvor geatmet haben. Trotzdem ist jeder Atemzug einzigartig. Das Lebendige jedes Augenblicks entfaltet sich immer weiter. Es wiederholt sich nie. Wie verändert sich unser Erleben, wenn wir uns auf eine Gegenwartsperspektive einstimmen? Wenn wir uns also bewusst machen, dass alles, was wir gerade erleben, einzigartig und unwiederbringlich ist?

Und was empfinden wir, wenn wir nicht mehr auf die scheinbar statische Form der Dinge schauen, also ihre äußere Erscheinungsform, sondern auf die lebendige, fließende Vitalkraft in allen Dingen? Eine Kraft, die sich fortwährend entfaltet und verändert und alles in Beziehung setzt. Gerät da nicht alles in Bewegung? Die scheinbar so feststehende Welt und ihre statischen Objekte beginnen zu flirren, zu atmen, und ein Baum oder ein Stein sind plötzlich genauso lebendige Wesen mit einer Seele wie ein Mensch. Die Existenz all dieser Geschöpfe wirkt in unser Leben hinein, und umgekehrt verwebt sich unsere Existenz mit deren Lebendigkeit.

Seele ist lebendiges Fließen, eine immerwährende, gegenwärtige Bewegung der Entfaltung, die in allen Geschöpfen wirkt, die alle Grenzen überschreitet und alles verbindet.

Eine innere Perspektive

Erfahren wir im Alltag das Leben als immerwährende schöpferische Bewegung? Wohl kaum. Der Tisch, an dem wir essen, erscheint uns als ein statisches, immer gleiches Objekt und selbst die Menschen in unserer Umgebung sind so vertraut, dass wir meistens nicht das Gefühl haben, dass sie jetzt in einer neuen, einzigartigen und unwiederbringlichen Weise in Erscheinung treten. Die Alltagsrealität mit ihren verlässlichen und statisch erscheinenden Objekten und ihrer Projektion von Zeit mit Vergangenheit und Zukunft kann die lebendige Dimension des Augenblicks vollkommen verschleiern.

Das ist nur möglich, da wir meist auf die Oberfläche, also auf die Erscheinungsformen der Dinge schauen, aber in der Regel uns nicht die Zeit nehmen, die gegenwärtige lebendige Erfahrung wahrzunehmen und damit tiefer in Kontakt zu treten. Um das zu tun, genügt ein kleiner, aber entscheidender Perspektivenwechsel: Wir dürfen uns nicht fragen, »was wir sehen«, sondern müssen uns fragen, »wie wir die Gegenwart erfahren«.

Wenn wir uns fragen, was wir gerade wahrnehmen, dann schauen wir automatisch auf die äußeren Erscheinungsformen der Objekte in unserer Umgebung. Wir sehen dann einen »Stuhl« oder ein »Buch« in unserer »Hand«. Bei dieser Frage entstehen in unserem Geist klare, abgegrenzte Objekte mit feststehenden Namen: der »Stuhl«, das »Buch«, die »Hand«. Auf der Ebene der Erscheinungsformen mit klaren Begriffen können wir uns leicht auf eine gemeinsame und verlässliche Wirklichkeit mit anderen verständigen. Allerdings sind hier die Objekte statisch und unlebendig und eigentlich wissen wir auf dieser Ebene noch nichts über die tatsächliche Erfahrung, die ein Mensch innerlich bei der Bezeichnung »Stuhl«, »Buch« oder »Hand« erlebt.

Erst wenn wir uns fragen, wie wir das Sitzen oder Lesen erfahren oder wie sich das Buch in unserer Hand gerade anfühlt, verlassen wir die scheinbare Eindeutigkeit einer äußeren Welt von Objekten und betreten eine innere Welt, die lebendig und vielschichtig zugleich ist und uns tief in die Gegenwartsperspektive hineinführt. Wenn wir uns nämlich fragen, wie wir das Sitzen erfahren, gibt es keinen »Stuhl« und keinen davon abgegrenzten »Körper« mehr, sondern nur noch komplexe und fortwährend sich verändernde Empfindungen, die beide Objekte – Stuhl und Körper – umfassen. Vielleicht erfahren wir das Sitzen in einem Moment als eine tragende Festigkeit, der wir uns entspannt überlassen können, nur um sich im nächsten Moment in eine Erfahrung von unangenehmer Härte zu verwandeln, die den Impuls entstehen lässt, uns zu bewegen.

Erst hier, im Wie, öffnet sich uns die Seelenperspektive und wir erfahren das Leben als fließende Gegenwart, die immer in Bewegung ist. Empfindungen erscheinen, verändern sich und lösen sich wieder auf, visuelle Eindrücke und Geräusche bilden eine wabernde, sich ständig verändernde Hintergrundkulisse, in die wir eingebettet sind, und Gedanken und Gefühle durchziehen unsere Innenwelt und geben ihr fortwährend neue Farbschattierungen. Je unmittelbarer wir unseren Erfahrungen lauschen, desto lebendiger und vielschichtiger treten sie zutage.

Daher ist die Welt der Seele ein immerwährendes Abenteuer, die wir niemals in ihrer Vielfältigkeit vollständig erfassen oder begreifen können. Wir können uns nur einlassen darauf und uns bewusst als ein Teil dieser lebendigen Wirklichkeit erfahren. Genauso wie wir die Bewegung eines Flusses nicht mit unserer Hand festhalten und mit unserem Verstand »be-greifen« können, sondern ihr dadurch am nächsten kommen, dass wir uns auf das Fließen einlassen und zum Beispiel im Fluss schwimmen, so können wir auch die lebendige seelische Erfahrung nicht festhalten, konservieren oder gedanklich »dingfest« machen. Aber wir können eintauchen und mitfließen und dabei die Einzigartigkeit, die Vitalität und die schöpferische Qualität des gegenwärtigen Lebens erfahren.

Das Einzige und Entscheidende, was dazu notwendig ist, besteht darin, dass wir von einer äußeren zu einer inneren Perspektive hin wechseln. Mit dem Fokus auf die tatsächlich gefühlte, gegenwärtige Erfahrung, also wie wir die Dinge erleben, öffnet sich uns eine innere Welt – das Reich der Seele. Diese innere Welt ist genauso real im Sinne von wirklich und wirksam wie die äußere Alltagsrealität der Objekte und Begriffe. Können wir die Wirklichkeit unserer momentanen Empfindungen und Gefühle leugnen? Sind innere Bilder nicht genauso oft präsent und damit wirklich und wirkkräftig wie äußere?

Natürlich können wir unsere Seelische Realität ausblenden oder als subjektive, flüchtige Erfahrung kleinreden. Das ändert aber nichts daran, dass sie in jedem Augenblick, bewusst oder unbewusst, vorhanden ist und sogar die Grundlage für die Konstruktion einer äußeren, objekthaften Gedanken-Welt bildet. Denn wie kommen wir zu der Aussage: Das ist ein »Stuhl«, das ist ein »Buch« und das ist eine »Hand«? Wir nehmen aus dem Fluss der gegenwärtigen Wahrnehmungen bestimmte Oberflächenmerkmale der Erscheinungsformen heraus, isolieren sie geistig zu einem abgegrenzten, handhabbaren Objekt und schreiben ihnen dann einen allgemeingültigen Begriff zu wie »Stuhl« oder »Hand« und haben sie damit endgültig zu einem festen Objekt isoliert und festgeschrieben.

Dieser Vorgang geschieht natürlich nicht bewusst, sondern ist ein angelerntes, automatisiertes geistiges Muster. Die lebendige Erfahrung wird in diesem Prozess der geistigen Festschreibung zugunsten einer allgemeingültigen äußeren Welt zurückgedrängt und ausgeblendet, aber sie ist weiterhin in jedem Erfahrungsobjekt vorhanden und gibt sogar die entscheidenden Zutaten, nämlich Sinneswahrnehmungen, aus denen die Alltagsrealität geistig geformt wird.

Die innere Welt der Seelischen Realität ist daher in jeder Alltagserfahrung vorhanden und kann in jedem Augenblick abgerufen werden. Allerdings müssen wir dazu bereit sein, den Komfort und die Sicherheit einer oberflächlichen, allgemeingültigen Wirklichkeit zu verlassen und uns auf die Ungewissheit einer lebendigen, gegenwärtigen Erfahrungsdimension einzulassen. Abenteuer sind eben Abenteuer und beziehen ihre Vitalität und Intensität aus dem Ungewissen. Darin liegt ihr Reiz und gleichzeitig ihr Wagnis.

Das ist sicher ein wesentlicher Grund, warum viele Menschen ein sehr ambivalentes Verhältnis zu der inneren Welt der Seele haben: Sie reizt uns und wir suchen ihre Intensität und Kreativität, aber sie macht uns mit ihrer Unberechenbarkeit auch Angst. Manche Menschen ziehen es daher vor, in der Komfortzone einer Alltagsrealität zu bleiben und sich nur im Notfall, wenn es gar nicht mehr anders geht und die Seele um Zuwendung schreit, sich ihrer Innenwelt zuzuwenden.

Subjektivität und die Falle der Generalisierung

Ein wesentlicher Grund dafür, dass die seelische Realität oft so wenig ernst genommen wird, ist ihre Subjektivität. Wenn wir unseren Blick von der Oberfläche der Objekte abwenden und nach innen gehen mit der Frage, wie wir etwas erleben, tauchen gegenwärtige und sehr individuelle Erfahrungen auf. Diese sind in keiner Weise allgemeingültig und übertragbar.

Wenn zwei Menschen zum Beispiel in einem Park spazieren gehen und die Umgebung betrachten, können sie sich jederzeit über die äußere Wirklichkeit verständigen: »Das ist ein Landschaftspark mit weiten Rasenflächen. Dort steht eine alte, große Blutbuche und wir gehen darauf zu.« Wenn sie sich aber jetzt nach innen wenden und ihre unmittelbare seelische Erfahrung austauschen, hören die Gemeinsamkeiten schnell auf. Denn die eine Person empfindet die Buche vielleicht als riesig und fast bedrohlich und genießt mehr den Blick auf die Rasenfläche mit ihren kleinen farbigen Blümchen, während die andere Person von der Größe und der Kraft der Buche fasziniert ist und sich davon fast magisch angezogen fühlt.

Je genauer wir das innere Erleben betrachten und uns darauf einlassen, desto subjektiver und vielschichtiger werden die eigenen Erfahrungen zutage treten und umso mehr Unterschiede werden sich im Kontakt mit anderen Individuen zeigen. Auf der Ebene der seelischen Realität ist keine Verständigung im Sinne einer allgemeingültigen, objektiven Wahrheit mehr möglich. Wir können hier zwar unsere Erfahrungen miteinander teilen und sie dadurch wechselseitig mitempfinden, aber wir können uns nicht auf ein einziges Erleben einigen, das richtig ist und welches man empfinden muss, wenn man zum Beispiel einer alten mächtigen Blutbuche gegenübersteht.

Wir können daher nicht erwarten, dass wir von anderen eine Bestätigung für unser individuelles seelisches Erleben bekommen. Wenn wir ein reifes Gegenüber haben, dann wird sie unsere augenblickliche Erfahrung ernst nehmen, auch wenn die Person selbst anders empfindet. Häufig wird es aber geschehen, dass unser Gegenüber kein Verständnis für andere Erlebnisweisen hat. Vielleicht schüttelt sie den Kopf und sagt zu uns: »Wie kann man sich nur von so einem wunderbaren mächtigen Baum bedroht fühlen?« Natürlich ist dies keine echte Frage, sondern eine unterschwellige Botschaft, mit der uns vermittelt werden soll, dass unsere Erlebnisweise falsch ist.

Doch das innere Erleben ist niemals falsch, es ist nur individuell und entsprechend unterschiedlich. Nur wenn uns das bewusst ist, können wir den Mut aufbringen, zu unserer authentischen inneren Erfahrung, wie immer sie gerade ist, zu stehen und sie nach außen in aller Vielschichtigkeit zu zeigen. Wenn wir die Legitimität einer subjektiven Erlebnisweise jedoch noch nicht verinnerlicht haben, sind wir wie ein kleines Kind davon abhängig, dass unsere inneren Erfahrungen ernst genommen und verstanden werden.

Solange wir die Bestätigung für unser inneres Erleben brauchen, sehnen wir uns danach, dass nahestehende Menschen das »Gleiche« fühlen wie wir. Wir suchen unbewusst nach der symbiotischen Liebe, deren Ziel die Verschmelzung und nicht die reife Verbundenheit in aller Unterschiedlichkeit ist. Das Gegenüber soll das Gleiche fühlen, das Gleiche lieben und das Gleiche ablehnen. Nur in dieser Absolutheit glauben wir uns ganz verstanden und in unserer seelischen Wahrheit bestätigt. Entsprechend reagieren wir äußerst empfindlich darauf, wenn unsere Nächsten anders fühlen wie wir selbst, oder schlimmer noch, unser inneres Erleben nicht gelten lassen. Dann kippt die Suche nach Bestätigung und nach Verschmelzung schnell in ein Gefühl von Verletztsein und Wut auf die andere Person.

Die Folge ist ein tiefes Gefühl von Selbstunsicherheit, das dazu führt, dass wir es kaum noch wagen, vor anderen ungeschminkt und vertrauensvoll zu zeigen, was uns wirklich bewegt. Doch was vielleicht noch schlimmer ist, ist die Tatsache, dass wir selbst unseren Gefühlen immer weniger vertrauen und sie entsprechend immer weniger zulassen. Das bedeutet, dass der Kontakt zu unserer Seelischen Realität schwächer wird und entsprechend die innere Verbindung abnimmt oder sogar zeitweise verloren geht.

Eine spezielle Variante, die Verunsicherung in uns abzuwehren, ist, unser seelisches Empfinden zu verabsolutieren. Wir treten dann nach außen selbstbewusst auf und erheben für das, was uns innerlich bewegt, einen allgemeingültigen Wahrheitsanspruch. Wir tappen dabei in die Falle des Fundamentalismus, bei dem subjektive Perspektiven und Sichtweisen für allgemeingültig erklärt werden. Diese Haltung wirkt nach außen hin stark und ist somit gerade auch für verunsicherte Menschen manchmal anziehend. So ist es erklärbar, dass charismatische Persönlichkeiten in der Politik, in der Religion oder der Gesellschaft, welche persönliche Wahrheiten als absolut und allgemeingültig hinstellen, immer wieder großen Zulauf bekommen.

Ob wir uns aber selbstverunsichert ins eigene Schneckenhaus zurückziehen oder scheinbar selbstbewusst unser inneres Erleben verabsolutieren, beides hat die gleiche Ursache: Wir stemmen uns gegen eine Gesetzmäßigkeit menschlichen Lebens: nämlich, dass die innere Welt der lebendigen Erfahrung vielschichtig und subjektiv ist. In der äußeren Welt der Alltagsrealität mit klaren scheinbar feststehenden Objekten können wir allgemeingültige Positionen aufstellen und uns darauf verständigen, aber in der inneren Welt der Seele, in der es nur lebendige, fließende Erfahrungen gibt, herrscht eine andere Gesetzmäßigkeit: die der Vielfalt und des Wandels.

Wie sollen wir auch eine Gegenwartserfahrung, die sich bei genauerer Betrachtung wie ein Fluss, der immer in Bewegung ist und sich ständig wandelt, in eine allgemeingültige Form oder Formel bringen? Nicht mal für uns selbst gibt es irgendeine Erfahrung, die dauerhaft gilt. Wie tief ein Erleben auch ist und wie stark es uns auch immer berührt, es fließt weiter und nach kurzer Zeit ist es lediglich eine Erinnerung – ein Gedanke. Wie kann sie daher als dauerhafte Wahrheit und darüber hinaus sogar als dauerhafte allgemeingültige Wahrheit fungieren?

Wenn wir uns der Gesetzmäßigkeit der Seele von Wandel und Subjektivität bewusst sind und sie anerkennen, ja, sie verinnerlicht haben, entsteht eine vollkommen neue Freiheit: Wir dürfen das fühlen, was wir fühlen, unabhängig davon, ob andere Menschen andere Erfahrungen machen und uns verstehen können oder nicht. Und auch die anderen dürfen fühlen, was sie fühlen. Diese Erlaubnis – zu fühlen, was wir fühlen – eröffnet uns die Möglichkeit, unsere seelische Wahrheit ernst zu nehmen und eine unmittelbare Verbindung nach innen zu pflegen. Gleichzeitig können wir uns dann empathisch für andere Menschen und deren Innenwelt öffnen.

Mit der Zeit spüren wir immer mehr, dass es in der Welt der Seele kein »richtiges« oder »falsches« Erleben gibt, sondern nur die gegenwärtige, lebendige Bewegung, der wir vertrauen können. So führt uns die neu gewonnene Freiheit, »das zu fühlen, was wir fühlen«, letztlich in ein tiefes Vertrauen in die innere Welt der Seele.

Бесплатный фрагмент закончился.

2 203,05 ₽
Жанры и теги
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
471 стр. 3 иллюстрации
ISBN:
9783867813709
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают