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3. Kai

Kai hatte nie etwas Härteres getrunken als Bier. Einmal. Und da hatte er nur an der Pilsdose seines Vaters genippt und beschlossen, das nie wieder zu tun. Ekelhaftes Gesöff. Aber nun konnte er sich keine Blöße geben.

»Die Bar. Klar«, sagte er und zuckte lässig mit den Achseln. Das tat er gerade alle drei Minuten und er hoffte, dass Arthur nicht auffiel, wie gespielt es war.

Eben hatte er sich richtig wohl gefühlt. Eben, als sie vom Dach runtergeklettert waren und sich über sich und den anderen lustig gemacht hatten. Da hatte er sich entspannt. Jetzt war da wieder die absolute Panik, dass Arthur ihn seltsam finden könnte. Alle fanden ihn seltsam. Die anderen in seiner Klasse, die Nachbarn, selbst sein Vater. Irgendetwas Essentielles fehlte ihm. Und Arthur durfte das nicht merken. Also atmete Kai tief ein und folgte ihm ins Haus.

Er mochte es, wie Arthur sich bewegte. Vorsichtig, aber irgendwie nobel. Als hätte er das tausendmal gemacht, öffnete der die große Holzvitrine im Wohnzimmer und studierte den Inhalt. Wie ein Weinkenner, mit der angeborenen Selbstsicherheit des Adels. Ein Gentleman halt. Kein abgerissener Straßenköter wie Kai.

»Was denkst du?«, fragte Arthur. »Was sollen wir nehmen?« Seine dunklen Augen bohrten Löcher in Kais Seele.

Keine Ahnung, wollte Kai sagen. Aber er legte den Kopf schief, hob die Hand in gespielter Vornehmheit ans Kinn und sah das Arsenal der Flaschen an. Jedes Label sagte ihm gleich wenig. Schließlich streckte er die Hand nach einer dunkelgrünen Pulle mit weißem Etikett aus.

Arthur nickte anerkennend, als er sie ihm hinhielt und Kai wäre vor Erleichterung fast gestorben.

»Gute Wahl«, sagte Arthur. »Ich schau mal nach den Gläsern.«

»Da sind doch welche«, sagte Kai und deutete auf das Regal an der Wand. Arthur lachte und ihn beschlich die Ahnung, dass er etwas Blödes gesagt hatte.

»Das sind Cognacgläser.« Arthur schüttelte den Kopf. »Wir brauchen Whiskygläser.«

»Pff, du Schnösel. Glas ist Glas«, versuchte Kai, sich zu retten und Arthur lachte noch lauter. Er war so selbstbewusst.

Zehn Minuten später lagen sie in bequemen Walnussholzliegen vor dem Pool und schauten zu, wie die letzten Sonnenstrahlen auf der Wasseroberfläche tanzten. Weit entfernt versetzte etwas die Tiere des Waldes in Aufruhr. Die Vögel stießen kreischende Warnlaute aus und leises Flattern war zu hören. Aber das war weit entfernt. Hier im Innenhof war es warm und friedlich.

Arthur goss Whisky in sechseckige, stummelige Gläser und Kai beobachtete, wie seine dichten Wimpern sich senkten. Arthurs Hand schien ein wenig zu zittern, vielleicht, weil die Flasche schwerer war, als sie aussah.

»Auf das Leben«, sagte Arthur, wie ein verdammter Gentleman, und Kai fiel mal wieder nichts ein, was er sagen konnte.

Also nickte er nur und stieß mit Arthur an. Über dem kleinen Tisch, dessen Mosaikmuster das des Pools wiederholte. So cool wie möglich setzte Kai das Glas an die Lippen. Der beißende Geruch des Gesöffs stieg in seine Nase und brachte seine Augen zum Tränen.

Nicht verschlucken, dachte er. Egal, was du tust, nicht verschlucken.

Er schaffte es, das Zeug herunterzukippen, ganz. Es brannte sich durch seine Speiseröhre wie Säure und es kostete ihn übermenschliche Anstrengung, es nicht gleich wieder auszuspucken.

Arthur starrte ihn an. Mist, dessen Glas war noch halb voll. Kippte man das Zeug etwa nicht runter?

»Nicht schlecht.« Arthurs Stimme klang kratzig. »Trinkst du immer so schnell?«

»Du etwa nicht?« Kai gab sein Möglichstes, um herausfordernd zu schauen, obwohl sein Hals schmerzte, als hätte er einen Wacholderbusch verschluckt.

»Doch. Klar.« Einen Moment lang schaute Arthur verunsichert und Kai fragte sich, ob er vielleicht auch keine Ahnung hatte, was er tat … Aber das war nur Wunschdenken. Sekunden später war er wieder absolut souverän.

Arthur setzte das Glas an die vollen Lippen und trank es aus.

Dann schenkte er ihnen nach.

Eine Stunde später war es dunkel und sie waren stockbesoffen. Kai war noch nie stockbesoffen gewesen. Er hasste es. Er hasste das Drehen in seinem Kopf, das leise Rauschen, das hinter allem lag und das nicht aus der Poolpumpe kam, und das wattige Gefühl in den Händen und im ganzen Körper. Aber er liebte den Glanz in Arthurs Augen, als der ihm, leicht lallend, etwas erzählte. Waren die schwarz? Leider war ihr Gespräch, ohne dass Kai es gewollt hatte, auf das übelste Thema überhaupt gekommen: Mädchen.

»Ich hab sie mit in mein Zimmer geschmuggelt, über den Balkon, und dann haben wir es getan. Im Stehen«, behauptete Kai, der nie auch nur jemanden geküsst hatte. Aber vor Arthur konnte er nicht zurückstecken, oder? Der hatte gerade erzählt, wie er seine Lehrerin nachts im Klassenzimmer gepimpert hatte. Wie uncool wäre Kai bitte, wenn er nicht mithalten könnte?

»Auch von hinten?«, fragte Arthur mit fachmännischem Blick.

»Klar. Und … und auf der Weide, hinten bei Bauer Schulte.« Angeblich hatte das der Bruder von Tobias mit seiner Freundin gemacht und ganz sicher war Kai da auch nicht. Aber er musste mithalten. Sich konzentrieren. Egal, wie sehr sich der blöde Innenhof drehte.

»Nicht schlecht.« Schwankend setzte Arthur sich auf und hob sein Glas. Kai stieß mit ihm an, versuchte es zumindest. Irgendwie glitt sein Glas an Arthurs vorbei und er fiel vornüber. Seine Stirn stieß gegen Arthurs. Zum Glück nur leicht und plötzlich füllten dessen Augen sein ganzes Blickfeld aus. Dunkel und traurig, mit tiefschwarzen, riesigen Pupillen. Wunderschön.

Kai erstarrte. Arthur bewegte sich ebenfalls nicht. Und … etwas Warmes strich über Kais Lippen. Heißer Atem. Köstlich und beißend vom Whisky. Das Summen verstummte, die Poolpumpe verstummte und das Zirpen der Grillen verschwand.

Mist.

Er wollte …

Als ihm klar wurde, was er wollte, schreckte Kai zurück. Eine Gänsehaut überzog seinen ganzen Körper. Seine Hand krampfte sich um das Whiskyglas, die andere, er wusste nicht, welche, in den weichen Stoff der Liege.

Nein. Scheiße, verdammt, Arthur durfte nichts merken, er war ja … Er war verrückt. Aber es stimmte: Er wollte Arthur küssen.

Kai traute sich kaum, den Kopf zu heben und Arthur anzusehen. Dessen Augen waren noch dunkler geworden und er schaute Kai an. Öffnete den Mund.

»Willst du …« Arthur verstummte und riss die Augen auf.

Er schlug die Hände vor den Mund, aber es nutzte nichts. Ein nasser Strahl drang zwischen seinen Fingern hervor und dann war das Mosaikmuster des Tischs unter einer Kotzlache verschwunden. Er krümmte sich vornüber, die Finger in die Lehne des Stuhls gekrallt und würgte, als wollte er seine Innereien loswerden.

Kai wusste nicht, was er tun sollte. Vorsichtig stellte er das Glas auf die Liege und hob die Hand, um Arthurs Kopf zu tätscheln. Beim ersten Versuch verfehlte er ihn (blöder Schwindel), aber beim zweiten Mal berührten seine Finger seidig weiche Haare. Andächtig durchkämmte er sie, die Lippen zu einem dämlichen Lächeln verzogen, während Arthur den Tisch voll reiherte. Der Moment erschien ihm vollkommen und absolut magisch. Die schimmernde Mähne zwischen den Fingern, die Wärme von Arthurs Kopfhaut, die Geräusche des Sommers in der Dunkelheit, das trockene Rauschen der Bäume … Einen Augenblick lang mochte er sogar dieses hilflose, besoffen-wattige Gefühl im ganzen Körper.

Irgendwann atmete Arthur nur noch schwer. Der bittere Geruch von Kotze lag in der Luft und seine Wangen glühten.

»Tut mir leid«, murmelte er. »Tut mir echt leid, ich … Tut mir leid.«

»Schon gut«, flüsterte Kai. Er sollte wirklich aufhören, Arthurs Kopf zu tätscheln. Ach, nur noch einmal … Arthur sah auf und endlich holte ihn die Realität ein. Halbwegs. Genug, um endlich die Hände von den seidigen Haaren zu lassen und zurück in die Liege zu sinken.

»Uah.« Arthur sah angewidert auf die nass glänzende Tischplatte. Die leere Whiskyflasche war bis an ihren Rand gespült worden. Er wischte sich die Hände am Hemd ab.

»Bestimmt hast du was Schlechtes gegessen«, lallte Kai. Ihm war übel.

»Ne.« Arthur schüttelte den Kopf. Seine Augen glänzten feucht. »Ich bin nur … ich bin …« Er sah zu Boden. »Ich hab noch nie Whisky getrunken. Oder irgendwas. Ich bin so peinlich.«

Kai blinzelte. Starrte Arthur an, der wie ein Häufchen Elend in der Liege hing.

»Ich … ich auch nicht«, brachte er hervor. Etwas stieg in seiner Kehle auf. Ein Lachen und … etwas anderes. »Ich hab noch nie ein Mädchen geküsst.«

»Was?« Jetzt war es an Arthur, ihn anzuschauen, als erblickte er ihn zum ersten Mal. Sein Kopf fiel zur Seite. »Echt?«

Kai nickte. Der Schwindel wurde immer stärker. Aber ein wunderbares Gefühl dehnte sich in ihm aus, genau gleichzeitig mit dem Lächeln, das sich in Arthurs Gesicht ausbreitete.

»Ich …« Ein Lachen drang aus Arthurs Kehle. »Ich auch nicht.«

Sie prusteten beide los. Krümmten sich vor Lachen. Dann kotzte Kai quer über den Boden.

Aber es war nicht so schlimm. Erstmal war er froh, das widerliche Gesöff loszuwerden. Und dann war da Arthurs Hand, die über seine Kopfhaut fuhr, immer und immer wieder. Irgendwie zärtlich.

4. Arthur

Da war etwas Warmes unter seiner Wange. Feucht und warm. Ein vollgesabbertes Shirt. Und darunter ein Brustkorb, der sich hob und senkte und seinen Schädel hob und senkte. Seinen Schädel, der hämmerte wie … ein Hammer? Ein besserer Vergleich fiel ihm nicht ein. Die Schmerzen waren zu groß.

Arthur öffnete vorsichtig ein Auge und blinzelte in die Morgensonne. Kühle Luft kroch über seine bloßen Arme, die das kurzärmelige Hemd freiließ. Er sah die Lehne des Liegestuhls. Seine eigene Hand. Und das verblichene Grüngrau von Kais Shirt, auf dem er lag.

Er lag auf Kai. Zumindest mit dem Kopf (der von Minute zu Minute heftiger pochte) und mit einem Arm. Irgendwann in der Nacht hatte er sich an ihn gekuschelt.

Wie war er hierhergekommen? Warum waren sie nicht ins Bett gegangen? Alle Stellen, die nicht den warmen Leib neben ihm berührten, fröstelten und waren nass vom Morgentau. Aber da, wo er ihn berührte … Er roch Kai, mehr als gestern. Geschnittenes Gras und Motoröl waren noch da, aber darunter lag etwas Wildes, Würziges. Wie ein frisch gezündeter Feuerwerkskörper.

Über sich hörte er ein leises Murmeln. Dann wieder regelmäßige Atemzüge. Kai schlief. Aber wenn Arthur aufstehen würde, würde er aufwachen, oder? Und er hatte keine Ahnung, wie er reagieren würde und ob das seine oder Kais Idee gewesen war, dass sie hier lagen, und …

Ein leichter Wind kam auf und trug einen weiteren Geruch an ihn heran. Igitt. Bitterkeit und Galle. So ähnlich wie der fiese Geschmack in seinem Mund … Ach, Kacke. Er wollte sich vor Scham zusammenkrümmen, als er an gestern Abend dachte. Er hatte … Er hatte sich total zum Trottel gemacht, vor Kai, der … Moment mal, der genau so geschummelt hatte? Richtig, Kai hatte auch noch nie getrunken. Oder geküsst.

Sie hatten gelacht, zusammen, dann hatte Kai sich auch übergeben und dann hatten sie weitergelacht, die halbe Nacht geredet, über alles und nichts, zumindest wusste er nicht genau, über was. Und dann mussten sie eingeschlafen sein. Nein. Er erinnerte sich und sein Herzschlag stolperte.

Kai war eingeschlafen und er hatte ihn nicht wach bekommen. Er hatte ihn nicht ins Bett tragen können und hatte sich daher zu ihm gelegt, um ihn zu wärmen. Total logisch. Zumindest war es ihm gestern so vorgekommen.

So ein Mist. Es war wirklich meine blöde Idee. Ich muss weg von hier, bevor er aufwacht.

Einen Moment lang genoss er noch das leise Pochen von Kais Herzschlag am Ohr. Dann spannte er die Muskeln an, einen nach dem anderen, und erhob sich, Millimeter um Millimeter.

Kai schlug die Augen auf.

»Mwas?«, krächzte er. Sein Gesicht war blass unter der Sommerbräune. Verwirrt blinzelte er und schaute Arthur an. Arthur, der halb auf ihm hing, die Hände links und rechts von Kais Körper aufgestützt.

»Äh, ich … glaube, ich wollte dich wärmen«, stotterte er und spürte, wie ihm die Röte in die Wangen kroch.

»Was?« Kais Augenbrauen schoben sich zusammen. Zwei kleine Falten erschienen.

»Ich hab mich zu dir gelegt, weil ich dich wärmen wollte. Du bist eingeschlafen. Und ich konnte dich nicht wecken.« Arthurs Gesicht war kurz vor dem Schmelzpunkt. »Und anscheinend dachte ich, es wäre eine supergute Idee, mich neben dich zu legen. Äh.«

»Ach so.« Kai fuhr sich durch die Haare, die immer mehr einem sturmgebeutelten Vogelnest glichen. Dann blitzten seine Eckzähne auf. Dieses Lächeln war echt … süß. »Die Idee war nicht schlecht. Mir ist warm. Aber ich glaub, mein Arm ist eingeschlafen.«

»Oh, sorry.« Arthur richtete sich auf. Kühle Morgenluft kroch unter seine feuchten Klamotten.

»Schon gut.«

Sie sahen sich um.

»Wir sollten aufräumen, bevor mein Vater kommt«, sagte Kai mit unbewegter Miene. »Und putzen.«

»Gute Idee.« Arthur verzog das Gesicht. Es war ein ekelhafter Anblick, vor allem der verklebte Tisch. Mit Schaudern erkannte er die Reste des Thunfischsandwichs, das er am Flughafen gekauft hatte.

»Ich geh nur eben pissen, dann können wir loslegen.« Kai gähnte. Arthur wollte ihn gerade fragen, ob er wüsste, wo das Bad war, als er aufstand. Anscheinend wusste er es.

Oder … Schockiert sah Arthur zu, wie Kai sich vor einen der großen Blumenkübel stellte und die Hose öffnete. Ein Plätschern erklang. Arthur sah sprachlos zu, wie der schmale Rücken sich entspannte.

Dieser Typ war ein Barbar! Ein Geschöpf des Waldes, vollkommen unberührt von der Zivilisation und den Regeln des Anstands und sowas wie … Scham.

Arthur zögerte. Dann stand er auf, stellte sich an den nächstbesten Blumentopf, öffnete seinen Gürtel und zog seinen Reißverschluss herunter. Es war seltsam befreiend.

Sie schafften es, trotz ihrer hämmernden Schädel, die Spuren des Besäufnisses zu beseitigen. Kai schaffte es. Arthur, der noch nie geputzt hatte, stellte sich total dämlich an. Aber als sie fertig waren, blitzte der Mosaikboden und die Flecken auf den Liegen waren fast verschwunden.

»Glaubst du, das merkt noch einer?« Kai legte den Kopf schief.

»Hoffentlich nicht.« Arthur räusperte sich. »Ich hoffe, meinen Eltern fällt nichts auf.«

»Du hast doch gesagt, die hängen eh nur an ihren Handys und bemerken nicht, was um sie herum passiert.«

»Was?« Arthur zuckte zusammen. »Das hab ich erzählt?«

Kai nickte. Seine Luchsaugen waren so intensiv, dass Arthur es kaum schaffte, den Blick zu halten.

»Du hast gesagt, du wärst ganz alleine.« Kais Stimme schien nach dem Kampftrinken noch rauer. »Soll ich hierbleiben? Ein paar Tage?«

Kais Hand öffnete und schloss sich, als wollte er sich an irgendetwas festhalten. Arthur verharrte. Mist, er war so erbärmlich. Er durfte auf keinen Fall zeigen, wie einsam er war, obwohl er sich nichts mehr wünschte, als dass Kai hierblieb. Andererseits hatte er sich gestern eh schon blamiert. Kai wusste, dass er eine peinliche Jungfrau war. Und er wollte trotzdem hierbleiben.

»Ja«, brachte er hervor. »Wenn dir das nicht zu langweilig ist.«

Kai schüttelte den Kopf.

»Nie. Ich … Zeigst du mir nochmal die Bücherei?«

»Klar, warum?«

»Ich hab gelogen.« Kai grinste schief. »Ich mag Bücher. Bin eine totale Leseratte, nur … na ja …«

»Meine Freunde sagen, dass Lesen langweilig ist«, platzte Arthur heraus. »Dass das nur bescheuerte Streber und alte Leute machen, aber ich … ich mag das.«

»Ich auch.« Kai schien richtig aufgeregt. »Am meisten mag ich Krimis. Gangstergeschichten. Mit Schießereien und so. Und so richtig dicke Fantasyschinken mit zehn Bänden.«

»Die haben wir bestimmt. Komm mit!« Arthur wirbelte auf dem Absatz herum und stürmte ins Haus. Kai folgte ihm.

Als der rostige Transporter vorfuhr, saßen sie auf einem kleinen Balkon im ersten Stock. Lesend, die Rücken gegen die Gitterstäbe gelehnt. Neben ihnen lagen stapelweise Bücher und ein halbleerer Teller mit Butterbroten. Immer wieder musste Arthur von seinem tschechischen Historienkrimi aufschauen, um Wörter nachzuschlagen. Und jedes Mal gönnte er sich einen Blick auf Kai, dessen sonnengebräunte Haut im Licht schimmerte. Kais Gesicht war so konzentriert, dass er es bestimmt nicht bemerkte.

5. Kai

Arthur sah ihn an und Kai war ganz kribbelig vor Freude. Er wusste nicht, wieso. Aber er spürte den dunklen Blick auf sich.

Er würde hierbleiben. Ein paar Tage lang. Ein paar Tage in diesem gigantischen, wunderschönen Haus mit der unendlichen Bibliothek und vor allem: mit Arthur. Es kam ihm wie ein Wunder vor.

Die Villa Blau wirkte verwunschen, wie eine Märchenvilla. Mit all den Schlingpflanzen, dem Efeu, das in den sonnendurchfluteten Innenhof wuchs, mit den verschnörkelten, schmiedeeisernen Gittern, den leise flüsternden Baumwipfeln in der Ferne … Fast unwirklich. Erst das röhrende Keuchen des alten Transporters brachte die Realität zurück. Er seufzte leise.

»Das ist mein Vater«, sagte er und stand schweren Herzens auf. »Ich muss ihm helfen.«

»Oh. Ich kann auch helfen.«

»Das wird er nicht zulassen.« Kai lächelte. »Ich würd mich natürlich freuen. Äh, dass mir jemand Arbeit abnimmt.«

»Junge!«, hörte er seinen Alten rufen. Kai atmete ein. Er hoffte, dass man ihm die letzte Nacht nicht ansah. Hoffte es sehr.

»Ich … fahr mittags mit ihm heim und packe ein paar Sachen«, sagte er zögernd. Nicht, dass Arthur es sich anders überlegt hatte. Aber der lächelte.

»Gut. Ich sage der Haushälterin, dass sie für Zwei kochen soll.«

»Was? Nein!« Meinte er das ernst? »Ich muss doch nicht bekocht werden! Und die Haushälterin ist Frau Montag, die kann mich nicht leiden!«

»Was? Wieso kann sie dich nicht leiden?« Arthur wirkte ernsthaft erstaunt. Tat irgendwie gut.

»Nichts, kein Grund, ich …« Mist, war die Wirklichkeit dabei, ihn wieder einzuholen? Arthur sah ihn von unten her an.

»Weißt du«, sagte der bedächtig. Eine Stimme wie Samt hatte der Kerl. »Ich hab dir gestern fast über die Füße gekotzt und … na ja, du weißt, dass ich noch nie … dass ich überhaupt keine Erfahrung mit nichts hab und dass ich ein langweiliger Bücherwurm bin und nicht mal meine Eltern sich besonders für mich interessieren. Vor mir musst du echt keine Geheimnisse haben. Du hast mich in der Hand.« Ein scheues Lächeln.

»Du mich doch auch.« Auf mehr als eine Art. Kai verzog das Gesicht. »Ist auch keine große Sache. Sowas hält sich auf dem Dorf halt ewig. Hab gehört, woanders wär das nicht so. Gelesen.« Er räusperte sich. »Na, ich bin mit ihrem Sohn in der Grundschule gewesen. Markus. Und irgendwann gab’s ’ne Läuseplage und es gab einen Infoabend für Eltern und Schüler dazu und … Natürlich dachten alle, ich wäre schuld.«

»Du? Warum?«

»Ich bin an allem schuld.« Kai seufzte. »Weiß nicht, ob du das erkennst, so als reicher Adliger, aber ich bin … Sogar für arme Leute sind Paps und ich … arm. Das Shirt hier hab ich von so einem Wohltätigkeitsverein und … Na, wenn irgendwer Läuse hat, ist es natürlich die Zecke, die in einer Bruchbude haust. Ich also. Sie wollten mich isolieren, damit es nicht wieder ausbricht. Ich sollte einen Tisch für mich alleine bekommen. Ganz hinten in der Ecke, damit Frau Montag nicht nochmal das ganze Bettzeug waschen und ihre Familie mit Läuse-Shampoo behandeln muss. Dabei hatte ich gar keine Läuse. Die Ersten, bei denen sie die gefunden haben, waren Markus und Horst. Aber sie hat darauf bestanden, dass ich«, ein bitterer Geschmack kroch in seinen Mund, »isoliert werde, zum Wohle aller. Ich glaub, sie hat schon kapiert, dass ihr eigener Sohn die Quelle war und wollte, dass … Sie wollte wohl, dass das keiner merkt. Sowas hängt einem hier ewig nach.«

»Und deshalb hasst sie dich?«

»Njaa …« Kai kratzte sich am Hals. »Paps hat mir das nachher erklärt. Anscheinend hätte ich das nicht auf der Veranstaltung sagen sollen, vor allen. Dass ich keine Läuse hab und dass Markus der Erste war, der sich gekratzt hat. Und dass sie mir nicht die Schuld in die Schuhe schieben soll, weil wir kein Geld haben. Das war alles, echt. Ich wusste nicht … Manchmal kapiere ich sowas nicht. Was man wo sagt und wie.«

»Nein, das hab ich gemerkt.« Seltsamerweise lächelte Arthur.

»Paps meint, das hätten wir mit ihr alleine besprechen sollen. Stimmt das?«

»Ja, wahrscheinlich.« Arthurs Lächeln wurde noch breiter. »Außerdem pullert man normalerweise nicht in Blumenkübel und nennt Leute Fettsäcke.«

»Oh, ich meinte nicht, dass du schlecht aussiehst …«, stotterte Kai. Du siehst total gut aus, dachte er, aber selbst er wusste, dass man sowas nicht zu einem anderen Jungen sagte. »Und Mann, diese Kübel stehen doch eh draußen, die … Was meinst du, woraus Dünger ist?«

»Ich habe keine Ahnung.«

»Echt?« Aber bevor Kai das weiter erläutern konnte, hörte er seinen Vater erneut rufen. »Ich bin im Wald aufgewachsen«, erklärte er deshalb noch schnell und wandte sich um.

»Was? Bist du von Wölfen großgezogen worden?«

Er drehte sich wieder um. Ja, Arthur war ernst. Er schaute ihn an, fast … bewundernd.

»Natürlich nicht! Was für Wölfe?«

»Ich hab gehört, es gibt sie wieder. Hast du schon welche gesehen?«

»Nein, und sie haben mich nicht großgezogen.« Kai verschränkte die Arme. »Ich hab … Ich erklär das später.«

»Junge!«, rief sein Vater und inzwischen klang er etwas gereizt.

»Komme!«, brüllte Kai und verließ schweren Herzens den Raum. Ob Arthur überhaupt irgendwas von dem kapiert hatte, was er erzählte? Der war aus einer anderen Welt, eindeutig.

Während er den Rasen neben der Einfahrt mähte, schaute er immer wieder zur Villa hoch. Einmal glaubte er, eine Bewegung hinter einem der schnörkeligen Fenster zu sehen. Vielleicht bildete er sich das auch nur ein.

Der Schweiß tropfte ihm runter und durchnässte sein Shirt. Alle heulten rum, dass der Sommer nicht richtig in Fahrt kam, aber wenn man arbeitete, war es warm genug. Viel zu warm. Er stank. Gestern schon waren seine Sachen nicht frisch gewesen und jetzt roch er wie eine Sickergrube. Ob Arthur das gemerkt hatte? Heute Morgen, als er … halb auf ihm gelegen hatte. Kai schluckte. Es hatte sich gut angefühlt. Viel zu gut, dafür, dass er so wenig davon mitbekommen hatte. Ob er das nochmal … Aber dazu hätten sie sich nochmal besaufen müssen und das würde er nie wieder tun. Nie wieder.

Sein eigener Gestank mischte sich mit den Abgasen des Rasenmähers. Grüne Halme klebten ihm an den Hosenbeinen, und als er sich durch das Gesicht wischte, merkte er, dass sie bis zur feuchten Stirn hochgeflogen waren.

»Du müffelst, Junge«, sagte Paps, als er endlich mit dem Mähen fertig war. »Sobald wir zuhause sind, springst du unter die Dusche, ist das klar?«

»Klar.« Er nickte. »Hab ich noch frische Klamotten?«

»Was fragst du mich? Du hast die letzte Wäsche gemacht.«

Richtig. Mit Arthurs feinen Hemden konnte er nicht mithalten, aber zumindest wollte er nicht mehr stinken.

»Ich bleib ein paar Tage hier bei Arthur«, sagte er und rollte das Kabel auf, um seinem Vater nicht in die Augen blicken zu müssen.

»Tust du das?« Sein Alter wirkte erstaunt. Klar, sonst übernachtete er höchstens mal bei Manolja. Und deren Eltern fanden das gar nicht gut. »Hat Arthur dich eingeladen?«

Kai nickte. Er versuchte, nicht stolz zu grinsen.

»Na dann …« Paps kratzte sich an der faltigen Wange. »Aber du kommst heim, sobald seine Eltern sich ankündigen, klar?«

»Klar.«

»Gut. Na, und arbeiten kannst du ja trotzdem hier. Wenn wir fertig sind, könntest du sogar ein paar Tage Urlaub haben, was?«

»Das wäre mal ’ne Abwechslung.« Kai sah auf den Rasenmäher vor sich. »Kommst du klar?«

»Ob ich klarkomme?« Sein Vater prustete entrüstet. »Natürlich komme ich klar. Als ob ich einen Hänfling wie dich bräuchte, um mir die Arbeit abzunehmen.«

Sie wussten beide, dass das eine Lüge war.

Später, gegen Mittag, als sie über den Baumarktparkplatz gingen, schob Kai den schweren Einkaufswagen. Schon jetzt hatte er mehr Kraft als sein Vater. Zumindest schmerzte sein Rücken nicht bei jedem Handschlag.

Er hatte ein schlechtes Gewissen. Ein verdammt schlechtes, aber ein paar Tage in der Villa waren mehr, als er sich je erträumt hatte … Irgendwie. Er kapierte nicht ganz, was los war. Aber er wollte bei Arthur sein. Eine Erinnerung blitzte in seinem Kopf auf, zu kurz, um sie richtig fassen zu können. Außerdem konnte sie nicht stimmen. Er hatte doch nicht … Hatte er echt gedacht, dass er Arthur küssen wollte? Nein. Bestimmt nicht.

Sie luden Säcke voll Gartenerde und Dünger in den Transporter. Kai achtete darauf, immer die schwereren zu übernehmen. Der Himmel war trüb und bedeckt, doch die Luft war schwülwarm. Paps’ wettergegerbter Nacken glänzte vor Schweiß. Er knallte die Tür des Transporters zu. Scheppernd fiel sie ins Schloss.

»Bring du den Wagen weg.« Paps streckte sich ächzend. »Du brauchst die Bewegung, Moppel.«

Kai, laut der Schulärztin an der Grenze zum Untergewicht, schnaubte.

»Ich mach das, aber nur, weil du zu fett bist, um dich zu bewegen.«

Sein Vater war ebenso mager. Lag wohl in der Familie. Aber »Junge, bring bitte den Wagen zurück, weil mein Rücken saumäßig wehtut und ich vor Schmerzen kaum laufen kann« wäre zu traurig gewesen.

Kai ließ sich Zeit, als er den leeren Wagen über den fleckigen Asphalt schob. Einmal hätte ihn fast ein Auto erwischt, das ausparkte. Was konnte er anziehen, das Arthur beeindruckte? Die Antwort war: Nichts. Konnte er ihm irgendetwas mitbringen? Was tat Arthur gerade? Ganz alleine in der Villa liegen und lesen? Mit Freunden telefonieren? So reichen Adelssprösslingen, die bestimmt viel cooler waren als Kai?

»Alter, was stinkt hier so?«

Kai schrak zusammen. Von einer Sekunde auf die andere waren all seine Sinne geschärft. Er hörte das nervende Sirren der Strommasten, das Rauschen der Umgehungsstraße, die schrillen Schreie der Vögel, überdeutlich. Sein Blick flitzte über die Reihen der parkenden Autos. Kein Mensch zu sehen. Mist. Nur neben ihm, da waren sie.

Markus und Horst. Sie saßen auf Betonpollern, direkt neben dem Unterstand für die Einkaufswagen. Warum zur Hölle hatte er sie nicht bemerkt? Warum hatte er geträumt?

»Ich glaube, das ist er. Der stinkt doch immer«, sagte Horst, Markus’ bester Freund. Beide hatten es bereits mit fünfzehn geschafft, Männerkörper zu entwickeln, während Kai immer noch ein Lauch war. »Weißt ja, er hat sich noch nie gewaschen.«

Markus lachte. Etwas Kaltes kroch Kais Nacken hoch.

»Wenn der sich auszieht, rieselt’s bestimmt.« Ein Grinsen, das Kais ganzes Blickfeld ausfüllte. Markus stand auf. Kai wich zurück. Er stieß gegen den Einkaufswagen und hätte ihn fast umgeworfen. Höhnisches Lachen schallte über den Parkplatz.

»Meinst du?«

»Klar. Soll ich es dir beweisen?«, fragte Markus und Kai wusste endgültig, dass er in Schwierigkeiten war. Hektisch sah er sich um. Niemand. Nur Autos und Asphalt. Hinter dem Transporter stieg eine Rauchwolke auf. Paps konnte ihn nicht sehen.

Gut. Immerhin.

»He, Stinker …« Markus kam näher. Schnupperte irritiert. »Alter, das ist ja noch schlimmer, als ich dachte. Du riechst wie ein Mülleimer.«

»Ich arbeite halt.« Kai ballte die Fäuste. Mit einem von beiden konnte er fertig werden. Eventuell. Schade, dass sie zu zweit waren. »Würd dir auch mal guttun, dann müsstest du nicht auf dem Parkplatz rumlungern …«

Markus’ Hand schoss vor und packte seine Schulter.

»Vorsicht, Stinker.« Kai hörte Horsts Lachen. Aber er sah nur die Mitesser auf Markus’ Nase. Furcht krallte sich in seinen Bauch. Wenn das länger ging, würde Paps etwas mitkriegen und …

»Was wollt ihr? Macht schnell, ich hab nicht ewig Zeit.« Er hob das Kinn.

»Wir brauchen Geld. Hast du welches?«, fragte Markus und Horst wieherte wieder los.

»Der? Der hat doch nie was. Guck ihn dir an. Ich wette, sie haben nicht mal ’ne Dusche daheim. Alles, was du von dem kriegst, ist die Krätze.«

»Hm. Ist da ein Euro drin?« Markus zeigte auf den Einkaufswagen.

»Parkchip«, brachte Kai hervor. Markus’ Hand auf seiner Schulter wog tausend Kilo. Und Paps konnte jeden Moment hinter dem Transporter hervorkommen …

»Nehm ich.« Markus zuckte mit den Achseln.

»Was?« Kai starrte ihn an. »Meinst du das ernst – ah!«

Markus’ Daumen hatte sich in die weiche Stelle unter dem Schlüsselbein gegraben. Mit Mühe hielt er sich davon ab, laut zu schreien. Stattdessen stierte er geradeaus, mit zusammengebissenen Zähnen.

»Und, Stinker? Kriegen wir den Parkchip?«

Markus lächelte. Horst kriegte sich nicht mehr ein vor Lachen. Und Kai nickte. Je schneller das hier beendet war, desto besser.

Markus atmete in seinen Nacken, als er den Wagen in die Reihe schob. Kai pulte den Parkchip aus dem Schlitz und reichte ihn Markus. Der schnappte ihn sich. Er hielt das silberne Ding hoch und betrachtete es nachdenklich. Etwas Fieses kroch in seine Augenwinkel.

»So billig ist der? Ne, dann will ich den nicht«, sagte er und schleuderte ihn Kai ins Gesicht. Markus war stark. Ein heller Schmerz durchzuckte Kais Wange. Aber nicht so schlimm, Hauptsache, Paps bekam nichts mit …

»Was macht ihr da?«

Nein. Kai fuhr herum. Paps kam mit geballten Fäusten auf sie zugeschlurft. Er sah zerbrechlich aus, mit dem krummen Rücken und der knittrigen Haut. Als könnte er jeden Moment zu Staub zerbröseln.

Markus und Horst lachten laut auf. Kai konnte ihre schnellen Schritte hinter sich hören, als sie davonliefen. So ein Scheiß. Er sah den blöden Parkchip in den Gully kullern, wie in Zeitlupe. Seine Wange brannte.

»Was war da los, Junge?«, fragte Paps mit seiner kraftlosen Altmännerstimme. »Ärgern die beiden dich immer noch? Nach all der …«

»Halt die Klappe!«, rief Kai und hätte sich gleich darauf am liebsten selbst getreten. Aber er wollte das nicht mehr. Nicht mehr von den beiden genervt werden und nicht die Sorge in Paps’ Augen sehen, der eh schon zu viel am Hals hatte und … er wollte nicht mehr schwach sein. Nie mehr.

399
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9783962556426
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