Читать книгу: «Die Brücke zur Sonne», страница 9

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„Manchmal denke ich, sie hat mich nur geheiratet, weil ich als einziger des unzählbar großen Haufens von Verehrern so dumm war, meinen Namen herzugeben.“

Ben konnte ihm nicht ganz folgen. „Du hast deinen Name für eure Ehe geopfert?“

„Sozusagen. Bedingung im Ehevertrag war, dass ich ihren Namen annehmen würde – mein Geburtsname lautet Cordick.“ Matt seufzte. „Ohne diese Bedingung zu erfüllen, hätte sie mich nie geheiratet. Van Haren – alter, niederländischer Adel! So etwas gibt eine Frau wie Rachel nicht einfach her. Er ist ihr wichtigstes Argument in allen Streitfragen.“ Seine Miene verfinsterte sich und er äffte seine Frau nach: „‘Ich bin eine van Haren – was erwartest du?! Ich habe eine Pflicht zu erfüllen.‘“

Ben konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. „Von irgendwoher muss deine jüngste Tochter ihr Wesen ja mitbekommen haben!“

„Ich habe schon oft versucht, Rachel klarzumachen, dass das der falsche Ansatz ist – sie kann aus ihrer Tochter kein Ebenbild schaffen, aber auf dem Ohr ist sie taub!“ Matt machte eine resignierte Handbewegung. „Ich fürchte, Patty hat sich schon zu sehr mit ihr identifiziert. Jean dagegen…“ Er lächelte. „Sie ist eigensinnig und im Grunde ihres Herzens mutiger, als sie es selbst im Moment einschätzen kann. Sie lässt sich von ihrer Mutter keinen Stempel aufdrücken.“

Bens Blick wanderte hinüber zum Kamin, blieben an den züngelnden Flammen hängen, die allmählich niederbrannten. „Dann pass gut darauf auf, dass niemand ihr diesen Eigensinn wegnimmt. Er wird sie davor bewahren, ein Leben zu führen, das sie unglücklich macht.“

Matt ließ die Worte des Ranchers auf sich wirken. Er konnte nicht ahnen, wie häufig er sie sich in den kommenden Jahren ins Gedächtnis zurückrufen und sich fragen würde, warum alles so gekommen war. Mutig zu sein bedeutete auch, sich manchmal gegen Menschen zu stellen, die einem etwas bedeuteten, doch das erkannte Matthew erst später, sehr viel später.

* * *

Um die Zeit des späten Nachmittags lagen die Gebäude und Koppeln der Arkin Ranch für gewöhnlich ruhig und verlassen in ihrer schützenden Einfriedung zwischen den Bäumen. Die Mittagspause war vorüber, die Männer schon längst wieder draußen bei der Arbeit. Die Tore des Pferdestalls standen weit offen, sodass der auffrischende Mittagswind hineinblasen konnte. Nur in der ersten Box links stand Kitty, Amys Schimmelstute. Alle anderen Verschläge lagen leer und frisch gemistet da und schienen die dazugehörigen Tiere zurückzuerwarten.

Die Boxentür war geöffnet worden und mit besorgtem Gesicht hielt die Rancherstochter ihr Pferd am Halfter fest, während Chris McKinley immer und immer wieder mit beiden Händen am linken Vorderbein hinabstrich. Endlich richtete er sich auf.

„Was ist denn jetzt?“, brach Amy ungeduldig das bedrückende Schweigen.

Zweifelnd hob Chris die Schultern. „Meines Erachtens hat sie sich eine Sehne gezerrt, aber am besten wir holen morgen den Tierarzt, wenn es nicht besser wird, damit der sich das mal ansieht.“ Er drehte sich um und wollte den Verschlag verlassen, hielt jedoch mitten in der Bewegung inne. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. „Hallo Jean!“

Ein wenig nervös, wie immer in seiner Gegenwart, die Hände ineinandergekrampft, verharrte das junge Mädchen im offenen Tor. Sie stand schon einige Minuten unbemerkt dort, hatte jedoch nicht gewagt, sich bemerkbar zu machen.

„Hallo“, entgegnete sie und spürte, wie sie leicht errötete. „Ich bin eigentlich nur gekommen um zu fragen, wann wir die nächste Reitstunde machen können. “

Verblüfft starrte Amy sie an. „Wolltest du nicht für die Klausur morgen lernen?“

„Ach!“ Jean winkte ab. „Die kann warten bis heute Abend.“

„Na ja“, mischte Chris sich zweifelnd ein. „Wenn du wegen meiner Reitstunde eine schlechte Note schreibst…“

„Blödsinn“, rief Jean hastig. „Ich bin spitze in Englisch!“

Ein amüsiertes Grinsen spielte um Chris’ Lippen. „Von mir aus steht im Augenblick nichts im Weg!“

Jean jubilierte innerlich. Amy half ihr, eines der Pferde von der Koppel zu holen und erzählte ihr dabei betrübt von der Verletzung ihrer Stute. So leid es Jean tat, aber sie konnte sich nicht richtig auf die Worte ihrer neuen Freundin konzentrieren. Ihre Freude, eine Stunde mit Chris auf dem Reitplatz zu verbringen, beflügelte sie förmlich und nahm jeden ihrer Gedanken vollkommen ein.

* * *

Zusammengesunken saß Matthew am Esstisch und studierte die aktuelle Tageszeitung, als seine älteste Tochter eintrat. Er war alleine. Weder von Rachel, noch von Patty hatte er seit den Morgenstunden etwas gesehen. Vielleicht vergnügten sie sich wieder damit, die Modegeschäfte abzuklappern, stundenlang Kleider anzuprobieren und sich danach in ein Café zu setzen, um allen zu zeigen, wie schick sie angezogen waren. Er seufzte. Er kannte das alles ja lang genug und es wäre wirklich an der Zeit für ihn, sich daran zu gewöhnen. Schließlich konnte er seiner Frau nicht einmal den Vorwurf machen, sein hart verdientes Geld für solchen Quatsch zu verschwenden, sie besaß ja genug eigenes, mehr als genug, erheblich mehr als er selbst jemals haben würde.

„Wo sind die anderen?“, wollte Jean, scheinbar gleichgültig wissen, aber eigentlich war die Frage überflüssig – der Cadillac stand nicht draußen, im Hof. Matthew hob den Blick und nahm sich die Lesebrille von der Nase.

„Das kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen, Kleines. Deine Mutter wird wohl erst spät heute Abend zurück sein. Die Vorbereitungen für diese Modenschau in Summersdale beanspruchen sie voll und ganz. Und deine Schwester – ich habe keinen blassen Schimmer, wo sie sich jeden Nachmittag herumtreibt. Vielleicht ist sie mit deiner Mutter unterwegs, ich weiß es nicht. Sie erzählen einem ja nicht gerade ausführlich, womit sie ihre Zeit totschlagen.“

„Hmm.“ Jean senkte den Kopf. Sie wusste es auch nicht genau und nachdem das Verhältnis zwischen ihnen ohnehin nicht berauschend war, musste sie ehrlicherweise gestehen, dass es sie auch nicht sonderlich interessierte. Dafür musste sie die Gunst der ruhigen Minute nutzen. Ihr Vater war doch Arzt, er musste ihr all die Fragen beantworten können, die sie beschäftigten, denn wenn nicht er – wer dann?

„Daddy?“

„Ja?“

Es war ihr peinlich, entsetzlich peinlich sogar. Wenn sie irgendjemanden sonst gehabt hätte – sie wäre damit nicht zu ihm gekommen. Ihrer Mutter konnte sie allerdings unmöglich derartige Fragen stellen. Sie würde sie ihr nie beantworten, sondern glauben, ihre Tochter hätte irgendetwas Verbotenes getan. Sie hatte sich nicht für „gewisse Dinge“ zu interessieren. Sie sei zu jung und solle erst einmal zusehen, dass sie den Rest ihres Lebens auf die Reihe bekam, bevor sie mit Sachen anfing, die nicht gut für sie wären. Jean hörte noch immer den Tonfall, in dem Rachel diese Ermahnung hervorgebracht hatte im Zusammenhang mit dem vergangenen Schulball und der Tatsache, dass dort eine Menge Jungs herumliefen.

Aber Jean musste es wissen, sie musste erfahren, woher diese eigenartigen Gefühle in ihr kamen, sobald sie in seiner Nähe war. Sie kannte dieses Kribbeln, diese Ungeduld von sich nicht. Es war ihr neu und es machte sie fast verrückt, nicht zu wissen, was genau diese Sehnsucht zu stillen vermochte.

„Ich habe wirklich keine solchen Zeitschriften gelesen!“, beteuerte sie vorneweg, ehe sie überhaupt auf den eigentlichen, ihr so kritisch erscheinenden Punkt zu sprechen kam. „Wirklich nicht! Aber…nun ja, die anderen Mädchen in der Schule reden immer über solche…Sachen und…das verstehe ich nicht!“

So, jetzt war es heraus und sie konnte durchatmen. Das entsprach zumindest zum Teil den Tatsachen, obwohl erst Chris McKinleys Gegenwart sie völlig verwirrte, aber das konnte sie ihrem Vater unmöglich beichten – er würde ihr am Ende die Reitstunden verbieten.

Matthew musste sich zurücklehnen. Oh Gott – weshalb war in solchen Situationen seine Frau bloß nie da? Rachel könnte damit bestimmt viel gewandter umgehen als er!

„Was denn…für Sachen?“ Welch blödsinnige Frage! Natürlich erriet er es, sie war längst in dem Alter, in dem das Interesse daran erwachte, das war nur natürlich! Er konnte sie jetzt nicht fortschicken, wie ein kleines Kind. Sie war sechzehn, eigentlich schon eine junge Frau und war es nicht seine Pflicht, sie darüber zu unterrichten, was zwischen beiden Geschlechtern alles passierte? Könnte er es jemals verantworten, sie ahnungslos ins offene Messer laufenzulassen? Waren die Zeiten des bisweilen bösen Erwachens für die Frau in der Hochzeitsnacht nicht endlich vorbei? Es lag in seiner Hand.

Jean hielt den Kopf noch immer gesenkt, damit ihr Vater nicht sehen konnte, wie sie vor Scham errötete. Sie sprach so leise und undeutlich, dass er sie kaum verstand. „Nun ja, sie reden darüber mit einem Mann zu schlafen…“

„Ja, weißt du…“ Unruhig rutschte Matt auf dem harten, ungepolsterten Stuhl hin und her. „Das ist ein wenig kompliziert!“ Meine Güte, du bist doch Arzt! Also, benimm dich auch wie einer! „Nein, eigentlich ist es ganz einfach: Deine Schulkameradinnen reden darüber, wie Babys entstehen. Ich meine, so werden sie gezeugt, sie kommen nicht mit dem Storch. Das ist genau wie bei den Hunden oder den Pferden. Hast du das auf der Ranch noch nie gesehen? Wenn der eine auf den anderen drauf springt und…“ Er schloss die Augen. Herrgott – brachte er denn keinen vernünftigen Satz zustande?

„Nein“, antwortete Jean zögernd. „Die Pferde spielen zwar miteinander, aber aufeinander drauf springen? Nein, das haben sie noch nie getan!“

„Gut, gut!“ Matthew raufte sich das hellbraune Haar. „Hör zu: Ich gebe dir ein Buch darüber, ja? Da kannst du bis ins letzte Detail alles nachlesen! Das scheint mir am praktischsten, ja, das ist wahrscheinlich das Beste.“ Er sprang hastig auf und trat ans Bücherregal, um das entsprechende Werk herauszusuchen. Als er es seiner Tochter in die Hand drückte, blickten ihre grünen Augen ihn noch immer schüchtern und fragend an. Er musste lächeln. „Mach’ dir keine Gedanken! Irgendwann hättest du es sowieso erfahren müssen und – wenn du irgendetwas nicht verstehst: Du weißt ja, wer der medizinische Fachmann in der Familie ist, einverstanden?“

Jean nickte wortlos. Sie starrte den dünnen Band in ihren Händen an. „Die Sexualität des Menschen“ stand in großen Druckbuchstaben auf dem Umschlag.

„Danke“, murmelte sie und drehte sich um. Eiligen Schrittes lief sie zu ihrem Zimmer hinüber, erleichtert, von ihrem Vater mit so großem Verständnis behandelt worden zu sein. Sie schloss die Türe hinter sich und setzte sich an den Schreibtisch. Schnell schlugen ihre Finger das Buch auf und sie begann, die Zeilen aufgeregt zu verschlingen. Jetzt würde sie dem dunklen Schatten endlich Licht einhauchen! Endlich würde auch sie Bescheid wissen und mitreden können! Immer schneller glitten ihre Augen über die Buchstaben, saugten sie auf, um die unerträglich gewordene Neugierde zu stillen.

Jean war noch nie verliebt gewesen, jedenfalls nicht vor Chris. War sie verliebt in Chris? Vielleicht bin ich in ihn verliebt und deshalb fühlt es sich so schön an, wenn er in meiner Nähe ist.

Früher, in London, vor einigen Jahren hatte sie mit einer Gruppe von Jungen eine innige Freundschaft geschlossen und jeden Tag, nach der Schule mit ihnen gespielt – bis Rachel es unterbunden hatte. Nicht standesgemäßer Umgang waren sie gewesen, diese Gassenjungs, die Jean so angehimmelt hatte, weil sie den Mut besaßen, Süßigkeiten aus einem Geschäft zu stehlen und mit Kirschkernen Wettspucken in anderer Leute geöffnete Fenster zu veranstalten. Elf oder zwölf war sie damals gewesen. Die endgültige Trennung war ihr unerträglich erschienen. Nachdem ihre Mutter dahintergekommen war, weshalb die Schule für ihre älteste Tochter immer so ungewöhnlich lang dauerte, war sie zuerst vor Zorn völlig außer sich geraten, um Jean dann sofort in die beste und nobelste Mädchenschule Londons zu stecken – ganz gleich, dass sie monatlich ein Heidengeld kostete. Dort gab es keine Jungs und auch aus Jeans Freizeit blieben sie fortan verschwunden. In der Nachbarschaft lebten nur Mädchen ihres Alters. Die Jungen waren entweder viel älter oder noch Babys. Beides taugte nicht, um gemeinsam den Tagträumen nachzuhängen, denen sich Jean und ihre Freundin Sally so häufig hingaben, wenn sie sich vorstellten, einmal große Damen zu sein. Männer gab es da nicht – abgesehen von der Tatsache, dass sie beide natürlich verheiratet sein würden. Wieso Ehepaare Kinder bekamen, hatte Jean nie interessiert. Sie waren noch viel zu klein gewesen und ihre Gedanken und Spiele noch voll kindlicher Unschuld. Ihre Körper hatten noch keine Signale gesendet, die sie dafür empfänglich machten, aber jetzt war alles anders. Jetzt war sie sechzehn und es gab einen jungen Mann namens Chris McKinley in ihrem Leben.

Je länger Jeans Augen über die Zeilen glitten, desto aufgeregter wurde sie. Obwohl der Text sehr theoretisch gehalten war, spürte sie das Pochen in ihrem Schoss und ein Verlangen, das ihr zuvor unbekannt gewesen war. Sie konnte es nicht recht deuten, aber sie ahnte, wer es befriedigen konnte und das widerum trieb ihr die Schamesröte ins Gesicht. Oh Gott! Ich bin doch gar nicht attraktiv und schön genug! Wie komme ich darauf, mir zu wünschen, dass er dasselbe für mich empfindet, wie ich für ihn?

* * *

Das Fenster über dem Esstisch im Wohnraum stand weit offen und die noch kühle Frühjahrsluft zog herein. Überall auf den Sträuchern und Bäumen, sogar auf den Grashalmen hing glitzernder Tau. Das Radio spielte leise die Countrymusik des Lokalsenders, während auf der gesamten Tischplatte Jeans Schulunterlagen verstreut lagen. Aus dem Mathematikordner gähnte sie das leere, weiße Karoblatt an und wartete auf die Bearbeitung der Hausaufgaben. Völlig in Gedanken versunken starrte Jean vor sich hin.

Für den morgigen Tag hatte ihre Mutter angekündigt, ihre beiden Töchter mit zu einer Modenschau nehmen zu wollen. Jean graute ein wenig bei der Vorstellung, neben ihrer Mutter und Patty und weiteren Snobs, Smalltalk halten zu müssen. Insbesondere, da sie keinerlei Interesse daran hatte, welches Kleid gerade modern war oder auch nicht. Sie wollte einfach nur zu Amy auf die Ranch und reiten!

Nachdem Rachel vor drei Tagen plötzlich aufgefallen war, dass sie ihre Familie über all ihren anderen Tätigkeiten ein wenig vernachlässigt hatte, bestand sie nun auf gemeinsamer Freizeitgestaltung. Jean seufzte unglücklich. Erst am vorigen Abend hatten sich ihre Eltern deshalb wieder lautstark gestritten. Die halbe Nacht waren ihre Stimmen durch das Haus gedrungen und heute Morgen hatte Patty ihrer älteren Schwester erklärt: „Eigentlich bist nur du daran Schuld, dass ich kein Auge zugetan habe. Bei dem Krach…“

„Wieso ich?“, hatte Jean gefragt.

„Na, weil Paps auf deiner Seite steht und Mom nicht möchte, dass du dich noch länger mit diesem Gesindel auf der Ranch herumtreibst – verständlicherweise.“

Jean seufzte noch einmal und legte den Stift beiseite. Sie fürchtete um ihre Reitstunden und die Zeit mit Amy auf der Arkin Ranch. Hoffentlich würde ihr Vater sich nicht von Rachel unterbuttern lassen! Sie wollte nichts anderes machen in ihrer Freizeit und Amy war ihre beste Freundin, die beste, die sie je gehabt hatte!

Das laute Knattern eines Automotors ließ Jean aufspringen. Eilig lief sie zum Fenster neben der Haustüre und schob den weißen Vorhang zurück.

Der alte, knallrote Pickup mit dem rostenden, eingedellten Dach bog durch die Einfahrt im Gestrüpp. Ruckartig kam das uralte, klapprige Gefährt mitten im Hof zum Stehen. Amy stöhnte schmerzhaft auf.

„Ich möchte bloß einmal wissen, was du immer mit der armen Rostbeule anstellst!“ Sie rieb sich das Steißbein, das durch die holprige Fahrt von der Ranch herüber auf dem harten, durchgesessenen Sitz äußerst mitgenommen worden war.

Beleidigt schob Trey sich den Hut aus der Stirn. „Nächstes Mal darfst du gerne hinterherlaufen!“

„Nimm es mir nicht übel“, bat Amy mit entschuldigendem Achselzucken, „aber bei den anderen bockt er wirklich nicht wie eine junge Kuh. Warte hier.“ Schnell stieg sie den hohen Absatz auf die gefrorene Erde hinunter. „Ich bin gleich zurück!“

Ahnend verzog Trey das Gesicht. „Das behaupten Frauen immer!“ Er stellte den Motor ab.

Gut gelaunt eine Melodie vor sich hin summend, rannte Amy zur Hütte hinüber, nahm die beiden Stufen vor dem Eingang mit einem Satz und schlug mit der Hand gegen die Tür. Ungeduldig trat sie von einem Bein aufs andere, während sie kleine Wölkchen in die beißend-kalte Luft hauchte. Als sich auch nach einigen Sekunden nichts rührte, donnerte ihre Faust erneut gegen das Holz.

„Hey!“, schrie Trey kopfschüttelnd vom Wagen herüber. „Du solltest den armen Leuten wenigstens Zeit geben, bis zur Tür zu gelangen, bevor du sie einschlägst!“

„Das kannst gerne du übernehmen!“, rief Amy zurück. „Ich kuck mal ums Haus!“

„Aber pass auf, dass du nicht in die Fänge der Giftschlange gerätst!“, warnte der junge Mann. Rachels Ruf als schöne, aber unerbittliche Leiterin des Modevereins hatte sich innerhalb weniger Wochen herumgesprochen und sie wurde zwar überall respektvoll behandelt, aber nur die wenigstens hatten wirklich das Bedürfnis, mehr Zeit als nötig mit ihr zu verbringen. „Mit mir als rettendem Helden wirst du nicht rechnen können!“

Amy kümmerte sich nicht um ihn, sondern lief rechts um das Blockhaus herum und hätte in ihrer Aufregung und Vorfreude beinahe das offenstehende Fenster übersehen. Erstaunt hielt sie inne. Flink blickte sie um sich, ehe sie sich kurz entschlossen hineinbeugte. Unverkennbar – das waren Jeans Schulsachen, die dort lagen und aus dem Radio drang noch immer leise Musik. Ohne lange darüber nachzudenken schwang Amy ihre Beine aufs Fensterbrett und kletterte auf allen Vieren über den Tisch.

„Jean?“, rief sie leise und sah sich neugierig im Inneren des Wohnraums um, bevor sie mit lautem Poltern zu Boden sprang. „Jetzt komm schon! Wo steckst du?“ Sie verharrte einen Augenblick. Da vernahm sie das leise Klappern einer Tür.

In ihren gewohnten Bluejeans und einer Jacke über dem Arm kam Jean aus ihrem Zimmer geeilt. „Abfahrbereit!“

„Sehr gut! Hast du Geld?“

„Geld?“ Jean starrte sie verständnislos an. „Bevor meine Mutter mir Geld gibt, muss ich genau erklären, wofür ich es haben will! Außerdem: Was soll ich damit?!“

„Auch egal!“ Amy packte sie am Arm. „Daddy hat mir nämlich eine ganze Menge Scheine mitgegeben und mir aufgetragen, für uns beide ein paar neue Klamotten zu besorgen. Wir fahren nach Silvertown zum Einkaufen! Trey bringt uns hin!“

„Das ist ja spitze!“ Jean lachte. Sie klappte das Mathematikbuch zu und schloss das Fenster. „Ich zahle es dir zurück, sobald ich meinen Vater alleine erwische. Hoffen wir, dass niemand von meiner Familie so bald nach Hause kommt.“

„Will deine Mutter immer noch Familientage einführen?“

„Ich fürchte, ja!“

Von draußen erklang ungeduldiges Hupen und Treys laute Stimme: „Hey ihr beiden! Die Geschäfte haben sogar in Silvertown nicht länger geöffnet wegen euch! Also, haltet euer Kaffeekränzchen auf der Fahrt ab!“ Demonstrativ drückte er noch einige Male auf die Hupe, die quietschend über den Hof trompetete.

Jean kicherte. Die Vorstellung, nach Silvertown zu fahren und durch die Läden zu bummeln, gefiel ihr. Sie hakte sich bei Amy und gemeinsam rannten die beiden Mädchen hinaus in das kalte Frühjahr.

Ostern kam und ging...

Ostern kam und ging und bald darauf war Rachel wieder mit ihren eigenen Aktivitäten beschäftigt. Niemand kümmerte sich großartig um den anderen, wie es eben zuvor und in all den zurückliegenden Jahren auch schon der Fall gewesen war. Es änderte sich nichts daran, wie der eine mit dem anderen umging, nur war es inzwischen an Jean, sich von ihrer Familie immer mehr abzunabeln und ohne, dass es überhaupt jemandem groß aufzufallen schien. Matthew verbrachte fast immer sieben Tage die Woche in der Klinik und Patty hatte unter ihren Freundinnen einige gefunden, die gerne mit ihr in die größeren Städte in der weiteren Umgebung fuhren. Meistens fanden sich dafür ältere Geschwister, die bereits ein Auto oder zumindest einen Führerschein besaßen. Ebenso verhielt es sich mit entsprechenden Partys, über die Patty stets bestens informiert war.

Das Verhältnis zwischen Jean und ihrer Schwester glich nur noch einer oberflächlichen Bekanntschaft. Wenn sie gemeinsam in der Hütte anzutreffen waren – was ohnehin sehr selten der Fall war – wechselten sie belanglose Worte miteinander und Jean war froh, den schnippischen, besserwisserischen Bemerkungen ihrer Schwester bald wieder entkommen zu können.

Die ersten Sonnenstrahlen des frühen Sommers brachten schon bald wärmere Temperaturen und luden dazu ein, die Pferde zu satteln und hinauszureiten in die Weiten der Prärie. Jeans reiterliche Fähigkeiten waren mittlerweile so weit fortgeschritten, dass sie in Amys Gegenwart auf Lady, dem brävsten Pferd auf der Ranch, auch ausreiten durfte.

Laut rufend rannte eine kleine Gestalt über den Ranchhof. Ausnahmsweise trug sie saubere Bluejeans und ein dunkelrotes, gebügeltes Hemd unter ihrer Lederjacke. Dazu passend steckte in den Schlaufen der Hose ein hellbrauner Ledergürtel und ein Cowboyhut in derselben Farbe hing an einem Lederband um ihren Hals auf die Schultern hinab. Als sie am Bunkhouse der Cowboys vorbeischoss, das offene, braue Haar wild hinter sich her fliegend, erklang unerwartet an der Ecke ein lauter Schlag. Trey stöhnte mit schmerzverzerrtem Gesicht und der Sattel, den er eigentlich hatte aufräumen wollen, fiel ihm aus der Hand, auf die nasse Erde.

„Entschuldige!“, keuchte Amy außer Atem. Sie merkte kaum, dass ihr die Wange vom Zusammenprall mit dem großen, schlaksigen Cowboy wehtat.

Vorwurfsvoll rieb der junge Mann sich das Kinn. „Da biegt man nichtsahnend ums Hauseck und wird über den Haufen galoppiert!“

„Jeden Moment kann der Bus mit den ersten Touristen für diese Saison ankommen!“

Verständnislos zuckte Trey die Achseln. „Und deshalb setzt du das Leben deiner Mitmenschen aufs Spiel?! Die werden sich seit dem letzen Jahr nicht viel verändert haben.“ Er hob seine Hände zur Aufzählung: „Ausländer, Besserwisser, Nervensägen, Möchtegern-Helden, Leute, die beim Reiten ihren angefutterten Speck loswerden wollen und hysterische Tanten, die schon beim bloßen Anblick eines Gewehrs aus den Stiefeln kippen. Wobei mir die ersten noch die liebsten sind – die verstehen mich nicht und ich verstehe ihr Gequatsche auch nicht. Das schont die Nerven!“ Er machte zu all dem eine äußerst wichtige Miene und Amy musste lachen.

„Und sie sichern dir deinen Job!“ Sie ließ ihn stehen und rannte weiter, zum Pferdestall: „Jean! Jean!“, schrie sie aus Leibeskräften und bog ungebremst in die Stallgasse ein.

Erschrocken machte das andere junge Mädchen einen rettenden Satz beiseite, wobei ihr beinahe der Arm voll Pferdeputzutensilien, mit denen sie eben in Richtung Scheune unterwegs war, zu Boden fiel. Erstaunt schaute sie die Rancherstochter an.

„Ist was passiert?“

„Noch nicht! Aber wenn wir uns nicht beeilen, verpassen wir das Beste!“ Aufgeregt schob Amy ihre Freundin zum offenen Stalltor hinaus. „Los, los! Mach’ schon! Ich hab’ den Bus vom Hügel aus schon kommen sehen!“

„Lass mich doch zuerst meinen Kram verräumen!“, rief Jean und sammelte die Striegel wieder zusammen. „Sonst schimpft Dan wieder, wenn wir alles liegenlassen!“

Auch das doppelflüglige Scheunentor stand weit offen, sodass der helle Schein des Tageslichts bis fast in den letzten Winkel des alten, großen Gebäudes fiel. Außer Atem lehnte Amy sich an einen der breiten, schweren Holzstämme, die das Dach der dämmerigen Scheune abstützten. Sie beobachtete die englische Arzttochter dabei, wie sie den Deckel einer Holzkiste öffnete und die Putzsachen fein säuberlich hineinlegte und nebeneinander ordnete. Die Scheune war durch eine Decke geteilt: Im oberen Teil lagerte das Heu und Stroh und hier unten befand sich sämtliches Zubehör für die Pferde. Obwohl die Scheune eine große Grundfläche maß, hatte es ständig den Anschein, als platze sie jeden Moment aus allen Ecken und Enden.

„Wenn deine Mutter und deine Schwester dich so sehen könnten!“, gluckste sie und verdrehte die Augen.

„Lieber nicht!“, winkte Jean entsetzt ab. „Sie würden mich sofort nach London zurückschicken, damit ich wieder bessere Manieren lerne!“

„Meine Mutter wäre sehr stolz auf mich“, sagte Amy, plötzlich sehr leise und in sich gekehrt.

„Deiner Mutter hat es hier wohl nicht gefallen?“, fragte Jean vorsichtig. Sie hatten noch nie über die Tatsache gesprochen, dass Amy mit ihrem Vater alleine auf der Ranch lebte.

„Doch, ich glaube schon, dass es ihr hier sehr gut gefallen hätte…es kann einem hier nur gefallen.“

„Hmm.“ In Gedanken vertieft schloss Jean den Deckel der Kiste.

„Du wunderst dich vielleicht, warum mein Vater nicht mehr geheiratet hat“, fasste Amy jetzt Jeans ummantelte Frage in klare Worte. Ein eigenartig steifes Lächeln spielte um ihre Lippen, das die unendliche Traurigkeit und Melancholie verbergen sollte, die ihr Innerstes erfüllten. „Weißt du, ich hätte meine Mutter so gerne kennengelernt, aber sie ist an Krebs gestorben, als ich drei Jahre alt war. Ich kann mich nicht an sie erinnern. Früher, besser gesagt, bis zu ihrem Tod lebten wir alle zusammen in Seattle. Daddy arbeitete als Rechtsanwalt und er war sehr erfolgreich und überall angesehen. Sein großes Ziel sah er immer darin, eines Tages Richter zu werden.“ Sie hielt kurz inne, ehe sie leise fortfuhr: „Aber nachdem meine Mutter gestorben war, hat er alles zurückgelassen: Seinen Beruf, seine Freunde, sein Zuhause… Dafür hat er sich seinen Kindheitstraum erfüllt, nämlich, eine Ranch zu kaufen. Lange Jahre musste er dafür kämpfen und schuften, um sie am Leben zu erhalten. Er war auch maßgeblich daran beteiligt, Silvertown zu dem zu machen, was es heute ist.“ Amy lächelte stolz. „Daddy und ich – wir würden niemals von hier fort gehen!“

Es tat Jean plötzlich leid, so neugierig gewesen zu sein und sie wollte sich entschuldigen.

„Ach, Unsinn!“, winkte das andere Mädchen energisch ab und setzte sich vor sie auf den staubigen, harten Boden. Ernst blickte Amy ihrer Freundin in die Augen. „Was hast du in London gemacht? Du hast mir nie davon erzählt, wie es dort aussieht und wie ihr gelebt habt. Ich meine, warst du dort glücklich?“

Die Frage traf Jean unvorbereitet und sie brauchte einige Minuten, um die wirren Überlegungen in ihrem Kopf zu sortieren. Seit vielen Wochen hatte sie nicht mehr eine Sekunde an ihre Villa, an ihr Zuhause gedacht, hatte es fast völlig aus ihrer Erinnerung gestrichen; es existierte einfach nicht mehr. London – um was handelte es sich bei diesem Namen doch gleich? Richtig, um eine langweilige, riesige, anonyme Metropole, irgendwo viele tausend Meilen entfernt. Das, was dort gewesen war, kam ihr so absurd, so unwirklich vor. Sie konnte nicht glauben, dass sie einmal dort gelebt haben sollte, in einer Villa, in einer lauten, stinkenden Stadt. Die Mädchen, mit denen sie ihre Zeit verbracht hatte und von denen jede immer nur damit beschäftigt gewesen war, der anderen überlegen zu sein – wie hatte sie sie nur ertragen? Das allerwichtigste waren teure Kleider und der Besuch edler Restaurants und Cafés gewesen, in denen sich nur die gehobene Gesellschaft die Klinke in die Hand gab, aber sonst? Womit hatten sie ihre Zeit sonst totgeschlagen? Sie erinnerte sich nicht.

„Genauso habe ich dich eingeschätzt, als wir uns kennengelernt haben“, nickte Amy und Jean zuckte erschrocken zusammen. Ihr war nicht aufgefallen, dass sie ihre Überlegungen laut ausgesprochen hatte.

„Ich war nie so, ich habe es mitgemacht und über mich ergehen lassen“, realisierte Jean sehr klar und erwachsen. „Patty ist das, was du gesehen hast. Sie ist so, wie sie sich gibt, genau wie meine Mutter.“

„Und dein Vater?“

Jean musste kurz überlegen. „Mein Vater?“ Sie zuckte die Achseln. „Ich weiß es nicht. Er redet nie viel und ich glaube, er versteht mich besser als er zugibt.“

Eigentlich bin ich mehr Paps’ Kind, schon immer gewesen. Wieso ist mir das bloß nie aufgefallen?

Dabei musste sie lächeln. Immer hatte ihre Mutter es geschafft, sich in den Vordergrund zu spielen, jeden Tag. Ihre Meinung, ihre Ansichten waren entscheidend, sonst nichts. Ihr Vater war dabei stets untergegangen.

Während Jean nun an Amys Arm über den Hof, zum Ranchhaus hinüberspazierte, wurde ihr mit einem Mal bewusst, was es bedeutete, sich an einem Ort Zuhause zu fühlen. Sie atmete den warmen Wind ein, spürte die strahlende Sonne in ihrem langen, braunen Haar. Es hatte nichts mit Luxus oder einer riesigen Villa zu tun, auch, wenn sie nichts anderes in ihrem Leben bisher gelernt hatte. Ihren Instinkt konnte das nicht täuschen. Es zählte etwas völlig anderes: Allein die Menschen, die einen umgaben, machten einen Ort zu dem Heim, das einen unbezahlbaren Wert besaß – eben ein Zuhause.

* * *

Leise prasselte der Regen seit nunmehr einem halben Tag gegen die Scheiben im Wohnraum der Arkin Ranch. Der Radio lief im Hintergrund und die Sendung wurde immer wieder durch aktuelle Durchsagen zur Schlechtwetterfront unterbrochen, die auch noch die kommenden beiden Tage über das Gebiet hinwegziehen sollte.

„Igitt!“, sagte Jean und beobachtete die Tropfen, wie sie langsam am Glas herabliefen. „Das hört ja überhaupt nicht mehr auf! Wenn dein Vater sich nicht beeilt, wird er noch mitsamt dem Pickup weggeschwemmt!“

„Ach, verflixt!“ Zornig schlug Amys flache Hand auf die Tasten des Spinetts, das scheppernd und protestierend einen hässlichen Misston von sich gab. „Warum muss bei dieser bescheuerten Note bloß ein Kreuz davorstehen?! Jetzt übe ich seit einer halben Stunde nichts anderes als diese vier Takte!“ Entmutigt pfefferte sie das Liederbuch beiseite.

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