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II.

In Organismus und Freiheit27 schildert Jonas, wie sein von Heideggers Philosophie inspiriertes Studium der Geschichte der Gnosis ihn allmählich zu der Einsicht brachte, Heideggers Philosophie sei selbst geschichtlich, ihre Kategorien seien also nicht allgemeingültig, sondern auf eine bestimmte geschichtliche Situation des Menschen beschränkt. Damit erging es Jonas in mancher Hinsicht ähnlich wie dem anderen großen Heidegger-Schüler, Hans-Georg Gadamer: Die intensive, philosophisch geleitete Beschäftigung mit der Geschichte mußte die Einsicht in die Geschichtlichkeit des Historismus selbst zur Folge haben. Anders als bei Gadamer führte freilich die Erkenntnis der Geschichtlichkeit des Historismus zu der Anerkennung einer zeitlosen Sphäre als legitimen Gegenstandes der Philosophie.28 Es bleibt Zeichen einer ganz besonderen geistigen Beweglichkeit, daß Jonas auf dieser Grundlage nun eine Neubegründung der Naturphilosophie in Angriff nahm oder, um genauer zu sein, jenes Teils der Naturphilosophie, der vom Organischen handelt. Statt sich wie Heidegger mit den Kategorien zu befassen, die den unterschiedlichen Konstruktionen von Natur in den verschiedenen Epochen der abendländischen Geschichte zugrunde liegen, oder wie die Wissenschaftstheorie den wissenschaftlichen Zugang zur Natur für den einzigen legitimen Zugang zur Natur zu halten, galt Jonas’ Nachdenken der Natur intentione directa – auch wenn in Organismus und Freiheit Reflexionen zur Geschichte der Biowissenschaften weiterhin eine ungewöhnlich große Rolle spielen. Insofern kehrte Jonas zur Phänomenologie seines ersten Lehrers Husserl zurück, und da er gleichzeitig metaphysischen Spekulationen gegenüber offen war,29 konnte er auch mit großer Unbefangenheit etwa auf Aristoteles, Spinoza und Leibniz zurückgreifen.

Eine sachliche Lektion brachte Jonas aus seinem Studium der Gnosis mit – die Ablehnung jedes radikalen Dualismus. In der Tat ist dies einer der Gründe, warum Jonas sich auf die Philosophie des Organischen warf: Sie interessierte ihn nicht nur aus regionalontologischen Gründen, sondern weil er meinte, in diesem Gebiet Wichtiges für eine allgemeine Seinslehre lernen zu können – eine adäquate Erfassung des Organischen werde etwa eine dualistische Metaphysik nach Art Descartes’ widerlegen.30 Darin besteht nun eine Gemeinsamkeit zwischen Jonas und jenen beiden Denkern, bei denen seine Philosophie des Organischen am ehesten vorgeprägt ist, Aristoteles und Hegel, die beide ebenfalls gegen die Dualismen ihrer Vorgänger Platon und Kant rebellierten. Zwar liegt ein bedeutender Unterschied zwischen Aristoteles und Hegel auf der einen und Jonas auf der anderen Seite darin, daß nur jene ein wirklich umfassendes System der Philosophie vorgelegt haben, das allen Seinsschichten Gerechtigkeit zu erweisen sucht; aber es bleibt richtig, daß auch für Aristoteles und Hegel die Philosophie des Organischen mehr als eine bloß regionale Disziplin ist und Folgen hat für die Gesamtstruktur ihrer Philosophie. In De anima ist die Psychologie biologisch begründet, und nicht ganz zu Unrecht hat ein weiterer Heidegger-Schüler, Herbert Marcuse, in Hegels Philosophie des Lebens den Ursprung seiner Theorie der Dialektik sehen wollen.31 Wie bei Aristoteles und bei Hegel erhebt sich die Geistphilosophie einesteils auch bei Jonas über einer Philosophie des Organischen. Und wie bei beiden Vorläufern ist andernteils auch bei Jonas die Biologiephilosophie insofern auf den Geist hin angelegt, als dem Organischen eine Dimension der Innerlichkeit eignet, die von der kybernetischen Biologie zu Unrecht ausgeblendet worden sei.32 Für alle drei ist der Geist die „natürliche“ Fortsetzung des Organischen, doch ihre Philosophie wird deswegen nicht naturalistisch, weil der Organismus als auf den Geist hin angelegt konzipiert wird. Ja, alle drei Denker sehen im Organismus etwas besonders Werthaftes, ja geradezu eine Manifestation des Göttlichen in der Welt (was bei keinem der drei bedeutet, daß Gott nur innerhalb der Welt zu finden sei).

Bemerkenswert ist, daß Jonas zwar in jeder Hinsicht die Darwinsche Umgestaltung der Biologie mitgemacht hat, daß er aber gleichzeitig mit Nachdruck, und mit vollem Recht, jene Bestandteile der traditionellen Biologiephilosophie verteidigt, die nur ein oberflächliches Denken als mit dem Darwinismus inkompatibel ausgibt – ich meine etwa die Lehre von der scala naturae.33 Von besonderer Dichte sind seine Überlegungen zum Unterschied von Tier und Pflanze, die nicht nur bei Aristoteles und Hegel,34 sondern auch bei den nur wenig älteren Max Scheler und Helmuth Plessner vorgeprägt sind. Am originellsten sind Jonas’ Analysen zum Wesen des Organischen, die den Metabolismus ins Zentrum stellen, der, wie Jonas wohl wußte, auch in Aristoteles’ und Hegels Biologiephilosophie eine wichtige Rolle spielt,35 allerdings der Teleonomie der Gestalt und der Reproduktion untergeordnet wird. Die Angewiesenheit des Organischen auf die umgebende Welt, von der es sich zugleich unterscheiden und absetzen muß, ist für Jonas eine jener Antithesen, die das Leben ausmachen, wie die „von Sein und Nichtsein, von Selbst und Welt, von Form und Stoff, von Freiheit und Notwendigkeit.“36 Hierin liegt eine deutliche Nähe Jonas’ zu Hegels Dialektik, so sehr Hegel das Denken in Antithesen und ihren jeweiligen Synthesen auf die ganze Philosophie ausgedehnt hat und so sehr er über eine Methode apriorischer Begriffsbildung zu verfügen beansprucht, die Jonas’ deskriptiv-phänomenologischem Zugang fremd ist. Der evidente Vorteil des Hegelschen Ansatzes ist, daß er über eine wenigstens ansatzweise Antwort auf die Frage verfügt, wann die Konstruktion eines philosophischen Gebietes vollständig ist.

Auch wenn Hegels und Jonas’ Philosophie des Organischen sowohl in ihrer Stellung im ganzen der jeweiligen philosophischen Konzeption als auch in zahlreichen Details erstaunlich ähnlich sind, empfand Jonas ein tiefsitzendes Mißtrauen gegenüber dem Hegelschen System – hier wirkte vielleicht die frühe Schopenhauer-Lektüre nach.37 Die Verwendung der Dialektik zum Zwecke einer metaphysischen Erfolgsstory hat Jonas besonders im Bereich der Geschichtsphilosophie abgelehnt, weil er keine Möglichkeit sah, den Verbrechen des zwanzigsten Jahrhunderts einen Sinn abzugewinnen, ja derartige Versuche als Beleidigung der Opfer – etwa seiner in Auschwitz ermordeten Mutter – betrachtete. „Die Schmach von Auschwitz ist keiner allmächtigen Vorsehung und keiner dialektisch-weisen Notwendigkeit anzulasten, etwa als antithetisch-synthetisch erforderter und förderlicher Schritt zum Heil. Wir Menschen haben das der Gottheit angetan als versagende Walter ihrer Sache, auf uns bleibt es sitzen, wir müssen die Schmach wieder von unserem entstellten Gesicht, ja vom Antlitz Gottes, hinwegwaschen. Man komme mir hier nicht mit der List der Vernunft.“38

III.

Nicht nur ein umfassender Systembau, auch die spezifisch transzendentale Denkform ist Jonas fremd geblieben. Zwar spielen Selbstaufhebungsargumente in seiner Kritik am Epiphänomenalismus eine Rolle,39 aber vermutlich hat Jonas auch die Abneigung gegenüber dem Transzendentalismus von Heidegger übernommen, und zwar auf Grundlage der falschen Annahme, transzendentale Argumente führten zum Subjektivismus. Nun zeigt sicher Kants theoretische Philosophie eine Verbindung von Transzendentalismus und Subjektivismus, aber seine praktische Philosophie kann ganz gewiß nicht als subjektivistisch bezeichnet werden. Und in der Tat ist es so, daß die zentralen Intuitionen von Jonas’ Ethik kantianisch sind, auch wenn das angesichts von Jonas’ Polemik gegen den Kantischen Formalismus40 dem Leser von Das Prinzip Verantwortung nicht leicht auffällt. Immerhin hat Jonas vom ersten Satz der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, die er früh las, gesagt, er habe „wie ein Donnerwort durch mein Leben geklungen.“41 Es ist dieses Donnerwort, das ihn vor der moralischen und ethischen Paralyse bewahrt hat, die von Heideggers Denken ausging, und ihn befähigt hat, die neben der Diskursethik innovativste ethische Theorie der deutschen Nachkriegsphilosophie vorzulegen, die lange gebraucht hat, um auch nur das Desiderat einer praktischen Philosophie einzusehen.

Jonas’ bleibende Leistungen in der Ethik bestehen darin, erstens die Objektivität moralischer Verpflichtungen und zweitens ihre Irreduzibilität auf das wohlverstandene Eigeninteresse hervorgehoben zu haben – und dabei handelt es sich um zwei entscheidende Ideen Kants.42 Bei intergenerationellen Verpflichtungen, so Jonas, falle die Reziprozität weg, und allgemein gehe es in der Ethik darum, kategorische, nicht hypothetische Imperative zu fundieren.43 Damit ist der Eudämonismus der aristotelischen Ethik verlassen, und auch die nicht-hypothetischen Imperative des Utilitarismus und der Diskursethik werden in ihrem materialen Inhalt zurückgewiesen, weil Jonas in einem mit der Würde und der Berufung des Menschen erkauften Einverständnis und Wohlgefühl späterer Generationen nicht nur nichts Positives, sondern sogar eine Vergrößerung der Schuld der dafür verantwortlichen früheren Generationen sieht. „Es bedeutet, daß wir im letzten nicht das antizipierte Wünschen der Späteren konsultieren (das unser eigenes Erzeugnis sein kann), sondern ihr Sollen, das nicht von uns gemacht ist und über uns beiden steht. Ihnen ihr Sollen unmöglich machen ist das eigentliche Verbrechen, dem alle Vereitelungen ihres Wollens, schuldhaft genug wie sie sein mögen, erst an zweiter Stelle folgen. Das bedeutet aber, daß wir nicht so sehr über das Recht künftiger Menschen zu wachen haben […] wie über ihre Pflicht […]“.44

Jonas’ Kritik an Kant ist sicher insofern unfair, als Jonas nur eine der verschiedenen Formulierungen von Kants kategorischem Imperativ diskutiert und nicht sieht, daß dieser aus den anderen Formulierungen materiale Gehalte abzuleiten sucht, die von den Jonasschen nicht sehr entfernt sind. Ja, es mag sogar sein, daß Jonas’ alternativer kategorischer Imperativ „Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden“45 Kant nicht nur nicht über-, sondern sogar unterbietet, weil er vielleicht nicht ausreicht, um Individualrechte zu begründen – das hängt jedenfalls von seiner Interpretation ab.46 Auch die Begründung des Jonasschen Imperativs ist in Das Prinzip Verantwortung recht dunkel – ein Appell an Intuitionen47 findet sich merkwürdigerweise am Ende eines komplexen Arguments, nach dem in der Natur nicht nur Zwecke, sondern auch Werte zu finden seien. Das Argument ist nicht einfach zu rekonstruieren, aber sein Zentrum scheint der Gedanke zu sein, daß der Selbstzweckcharakter des Lebens ein wichtiger Zweck der Natur selbst, ja ein Gut an sich oder Wert sein müsse,48 weil es nicht möglich sei, Zweckhaftigkeit selbst zu negieren, ohne sich diese Negation selbst zum Zweck zu machen. Jonas sagt: Zwar sei etwas relativ gut – also nur de facto, aber nicht de jure gut – bloß im Lichte faktischer Zwecke, aber bei Zweckhaftigkeit an sich liege die Sache anders. „In der Fähigkeit, überhaupt Zwecke zu haben, können wir ein Gut-an-sich sehen, von dem intuitiv gewiß ist, daß es aller Zwecklosigkeit des Seins unendlich überlegen ist.“49 Jonas läßt offen, ob es sich dabei um einen analytischen oder synthetischen Satz handle, und er schwankt zwischen der Berufung auf die Evidenz des Satzes und der Verwendung eines apagogischen Argumentes: Die Nirvanalehre sei selbstwidersprüchlich, weil sie die Befreiung von allen Zwecken zum Zwecke mache. Zwar meint Jonas, daß die Unmöglichkeit eines negativen Urteils nicht ausreiche, um zu einem bejahenden Urteil zu verpflichten,50 und daher bleibt jener Satz bei ihm letztlich axiomatisch. Aber wer von apagogischen Begründungen höher denkt als Jonas, wird in jenen Reflexionen den argumentativen Kern von Das Prinzip Verantwortung erblicken.

Jonas’ Argument scheint nun, anders als etwa die transzendentalpragmatische Letztbegründung der Ethik, Möglichkeiten für eine Ethik zu eröffnen, die nicht stark anthropozentrisch ist, also nicht nur dem Menschen intrinsischen Wert zuschreibt. Zwar sind Jonas’ Aussagen zum sittlichen Eigenrecht der Natur sehr vorsichtig,51 und man spürt, daß er froh ist, daß sich die Frage praktisch gar nicht stellt, „da […] das Interesse des Menschen mit dem des übrigen Lebens als seiner Weltheimat im sublimsten Sinn zusammenfällt.“52 Und doch ist klar, daß es auf der Grundlage von Jonas’ philosophischer Biologie sehr schwierig ist, dem Lebendigen einen Eigenwert abzusprechen: Einerseits die Kontinuität der biotischen Evolution, zu der der Mensch wesentlich gehört, andererseits jene ontologisch so faszinierende Eigenart des Organischen legen nahe, es in einer Axiologie zu berücksichtigen. Hierin liegt nun in der Tat ein enormer Fortschritt Jonas’ über Kant hinaus, für den die Natur, auch und gerade die organische, in dem, was an ihr erkennbar ist, menschliches Konstrukt bleibt und damit bar jedes intrinsischen Wertes.

Ein umfassendes philosophisches System hat Jonas, wie gesagt, nicht vorgelegt. Aber er hat in einem Zeitalter immer weitergehender Spezialisierung nicht nur zwei sehr unterschiedliche Disziplinen, die Philosophie der Biologie und die Ethik, auf höchst originelle Weise behandelt, sondern auch viele Bezüge zwischen ihnen deutlich gemacht. Jonas’ Originalität besteht im wesentlichen darin, daß er Heideggers Tiefenanalyse von Zeitlichkeit ebenso wie seine Kritik des modernen technologischen Zeitalters weiterentwickelt hat zu einer Ontologie der Natur und einer Ethik, die nach der Heideggerschen Diagnose der Gegenwart eine Therapie zu bieten sucht. Er ist dabei, zum Teil ohne es selbst zu wissen, zu entscheidenden Theoriebestandteilen der Naturphilosophie des deutschen Idealismus und der Ethik Kants zurückgekehrt und hat in einer Welt, die von der deutschsprachigen Philosophie nicht mehr viel erwartete, die Gegenwart, ja Zukunftsbezogenheit einer scheinbar veralteten Tradition gezeigt. Etwas übertreibend kann man sagen: Jonas hat in seinem Denken wie in seiner Sprache nicht nur das Beste aus dem präfaschistischen Deutschland bewahrt, sondern ist wahrscheinlich auch der letzte deutsche Nationalphilosoph gewesen – vor dem Aufgehen der Nationalphilosophien in einer entscheidend im Medium des Englischen erfolgenden Weltphilosophie. Daß der letzte deutsche Nationalphilosoph ein Jude mit US-amerikanischem Paß war, war natürlich eine besonders schmerzliche, wenn auch auf eine höhere Gerechtigkeit verweisende Erfahrung, weil sie zeigte, daß das Erlöschen der deutschen Seele ganz entscheidend eine Folge der nationalsozialistischen Vernichtung des Judentums war.

Konrad Paul Liessmann

Verzweiflung und Verantwortung. Koinzidenz und Differenz im Denken von Hans Jonas und Günther Anders

Es gehört zu den Besonderheiten der philosophischen Rezeptionsgeschichte im ausgehenden zwanzigsten Jahrhundert, daß zwei Denker, deren Lebenswege sich mehrmals kreuzten, die als von den Nazis vertriebene deutsche Juden ein ähnliches Schicksal erlitten und deren Philosophie sich zumindest in einem gewichtigen Punkt – der Sorge um die Zukunft der Menschheit – berührte, selten in einem Atemzug genannt werden: Hans Jonas und Günther Anders.1 Bereits die biographischen Berührungspunkte lassen dieses Versäumnis höchst erstaunlich erscheinen. Hans Jonas und Günther Anders – der Sohn des berühmten Psychologen William Stern – hatten sich Anfang der zwanziger Jahre in Edmund Husserls Freiburger Seminar kennengelernt, wenig später in Berlin in einem Seminar Eduard Sprangers wiedergetroffen und angefreundet. Jonas erkannte in dem wenig älteren Husserl-Schüler eine geniale Begabung,2 und ihre intensive Freundschaft erhielt dadurch eine besondere Note, daß Günther Anders die vertraute Freundin von Hans Jonas und Geliebte Martin Heideggers, Hannah Arendt, wenige Jahre später heiraten sollte. Im Rückblick will sich Jonas über diese Heirat sehr gefreut haben, habe doch immerhin sein bester Freund seine beste Freundin zur Frau genommen.3 Beide Philosophen verbanden darüber hinaus ähnliche Motive: Sie waren ursprünglich nach Freiburg gekommen, um bei Husserl zu studieren, vermochten sich dort dem Bann von Martin Heideggers unorthodoxem Philosophieren nicht zu entziehen und folgten ihm nach Marburg, standen seinem Denken jedoch durchaus kritisch gegenüber. Während Anders bei Husserl promovierte und sich Ende der zwanziger Jahre auf den Entwurf einer negativen Anthropologie sowie auf eine musikphilosophische Habilitation konzentrierte, die dann unter anderem am Einspruch Adornos scheitern sollte, promovierte Jonas noch bei Heidegger mit einer Arbeit über den Begriff der Gnosis, aus der dann später sein berühmtes Werk Gnosis und spätantiker Geist erwuchs.

Die Machtergreifung Hitlers beendete Jonas’ Habilitationspläne ebenso wie Anders’ begonnene journalistische Karriere in Berlin. In ihrer politischen Haltung unterschieden sich die Freunde allerdings beträchtlich. Hatte sich Jonas schon früh der zionistischen Bewegung angeschlossen, die sich die Bildung einer säkularen jüdischen nationalen Heimstätte in Palästina zum Ziel gesetzt hatte, so verstand sich Anders wohl eher als linker, gesellschaftskritischer Autor, der im Umkreis von Bert Brecht verkehrte, ohne sich allerdings der kommunistischen Partei oder ihrer Doktrin zu unterwerfen. Die von Anders gerne erzählte Geschichte, wonach er schon frühzeitig die Gefahr Hitlers erkannt hatte, weil er es als einziger Intellektueller nicht für unter seiner Würde erachtet hatte, Mein Kampf zu lesen, findet in den Erinnerungen von Hans Jonas allerdings keine Bestätigung.4 Auf dem Hintergrund ihrer unterschiedlichen ideologischen Prägung erscheint es nur folgerichtig, daß Anders 1933 zunächst nach Paris und 1936, nach der Trennung von Hannah Arendt, weiter in die USA floh, während Jonas ebenfalls unmittelbar nach Hitlers Machtergreifung über London nach Palästina ging, dort während des Krieges Soldat bei der Jewish Brigade Group wurde und im Zuge des Vormarsches der Alliierten über Italien im Juli 1945 als Offizier der britischen Armee wieder nach Deutschland kam. Jonas kehrte dann nach Palästina zurück, wurde 1948 erneut eingezogen, diesmal von der israelischen Armee, und nahm nach vergeblichen Versuchen, eine Professur an der Hebräischen Universität in Jerusalem zu bekommen, ein Angebot nach Kanada, später eines nach New York an. Dort kam es Weihnachten 1949 auch zum Wiedersehen mit Anders, an dem er bereits damals einen „Zug von Bitterkeit“ festgestellt haben will.5 Während Anders mit seiner zweiten Frau Elisabeth Freundlich 1950 nach Wien ging, wo er bis zu seinem Tode leben sollte, blieb Jonas in den USA, besuchte später allerdings auf zahlreichen Reisen immer wieder Europa und Deutschland. Auch wenn er es in seinen Erinnerungen nicht erwähnt, geht aus einem Brief an Hannah Arendt hervor, daß er auf einer dieser Reisen gemeinsam mit seiner Frau auch Günther Anders noch einmal getroffen hatte, und auch der Briefwechsel zwischen Jonas und Anders reicht offenbar bis in die späten achtziger Jahre.6

Im Denken von Günther Anders und Hans Jonas sind einige auffallende Affinitäten, aber auch Differenzen festzustellen. Vor allem zwei Themenkreise erscheinen in diesem Zusammenhang maßgeblich. Beiden Philosophen ging es in einem eminenten Sinn um die Frage nach dem Fortbestand der Menschheit unter den Bedingungen technischer Selbstvernichtungskapazitäten, und beide setzten sich eindringlich mit den Konsequenzen auseinander, die Auschwitz nicht nur für das Denken und Handeln der Menschen, sondern auch für das religiöse Bewußtsein haben müsse. Die Antworten, die beide Fragestellungen bei Hans Jonas und Günther Anders gefunden haben, könnten – trotz gleicher oder ähnlicher Ausgangs- und Erfahrungslage – unterschiedlicher kaum sein.

Angesichts der Bedrohung der Gattung Mensch versuchte Hans Jonas in seinem späten Werk Das Prinzip Verantwortung (1979), die Frage, warum menschliches Leben auch zukünftig sein solle, auf dem Wege der Metaphysik zu beantworten, indem er aus einer besonderen Seinswürdigkeit des Menschen auf das Erfordernis einer Kontinuität seiner Existenz schloß. Günther Anders hatte dagegen schon Jahrzehnte früher im ersten Band der Antiquiertheit des Menschen (1956) die Frage nach der potentiellen Vernichtung der Gattung reflektiert und dabei allen Versuchen, ein besonderes Seinsrecht des Menschen abzuleiten, eine Absage erteilt. Daß die Fortexistenz der Menschheit nicht zwingend begründbar sei, implizierte für ihn allerdings nicht, daß man sie der Vernichtung preisgeben dürfe. Beide Denker versuchten, die grundlegenden ethischen Maximen für das technologische Zeitalter mittels einer Neuformulierung des kategorischen Imperativs zu bestimmen. Die dabei auftretenden Differenzen sind nicht nur strategisch, sondern auch moralphilosophisch höchst aufschlußreich. Wollte Hans Jonas die „Permanenz echten menschlichen Lebens“ zum Kriterium des Handelns machen, so war für Anders die Menschenverträglichkeit der verwendeten Technologien entscheidend. Und während Jonas mit dem Prinzip Verantwortung eine moralphilosophisch begründete Antwort auf die Bedrohung der Menschheit zu geben suchte, verstand Günther Anders seinen Kampf um den Fortbestand der Gattung Mensch letztlich als ein trotziges Aufbegehren, für das sich angesichts des von ihm diagnostizierten „monströsen“ Charakters des technischen Fortschritts nicht mehr rational argumentieren ließ. Die Denkfiguren nachzuzeichnen, die Jonas und Anders entwarfen, kann nicht nur helfen, die Hintergründe ihrer kontroversen Positionen aufzuhellen, sondern auch einen Beitrag zum Verständnis der entscheidenden Problematik leisten, mit der sich jede Ethik des technologischen Zeitalters auseinandersetzen muß.

Sowohl Hans Jonas als auch Günther Anders gingen von der These aus, daß die traditionellen philosophischen Moralkonzepte zur Fundierung eines Handelns im Interesse der Menschheit angesichts der destruktiven Tendenzen technischer Naturbeherrschung und vor allem angesichts der Möglichkeit der Selbstauslöschung der Gattung Mensch durch die atomaren Arsenale nicht mehr ausreichten. Jonas verweist in diesem Zusammenhang darauf, daß alle bisherigen ethischen Entwürfe von den Handlungsmöglichkeiten und dem Erwartungshorizont des einzelnen Subjekts ausgegangen waren und deshalb nicht mehr genügten, um das Problem nachhaltiger Eingriffe in die Natur, die die Lebensmöglichkeiten künftiger Generationen schmälern oder gar irreversibel schädigen könnten, zu lösen. Die traditionelle Ethik, namentlich die Immanuel Kants, habe den Menschen aufgefordert, in Übereinstimmung mit seiner Vernunft zu handeln, in der sich gleichsam die Idee der Menschheit repräsentiert, und damit das Unmoralische als logischen Selbstwiderspruch definiert. Es liegt aber, so Jonas, „kein Selbstwiderspruch in der Vorstellung, daß die Menschheit einmal aufhöre zu existieren, und somit auch kein Selbstwiderspruch in der Vorstellung, daß das Glück gegenwärtiger und nächstfolgender Generationen mit dem Unglück oder gar der Nichtexistenz späterer Generationen erkauft wird.“ Daß die Reihe der Generationen überhaupt weitergehen, also die Menschheit auch weiterhin existieren soll, stellt angesichts der Destruktionspotentiale moderner Technologien die eigentlich entscheidende ethische Frage dar, und sie ist nicht mit Rückgriff auf eine Individualmoral, sondern nur „metaphysisch“ zu beantworten.7

Jonas sieht sich also auf Grund der Krise der traditionellen Ethik vor der Herausforderung, einen neuen Imperativ zu formulieren, der den Fortbestand der Gattung Mensch mit im Blick hat und gleichzeitig die implizite Voraussetzung, daß auch zukünftig Leben sein soll, metaphysisch zu begründen vermag. Die Formulierungen, die Jonas diesem Imperativ gegeben hat, haben in den ökologischen und technikkritischen Debatten der achtziger Jahre eine entscheidende Rolle gespielt. An sie ist an dieser Stelle aber in erster Linie zu erinnern, um den Kontrast zur Reformulierung von Imperativen bei Günther Anders hervorzuheben. Jonas formulierte diesen Imperativ unter anderem folgendermaßen: „Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden“, oder, negativ formuliert: „Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlung nicht zerstörerisch sind für die künftigen Möglichkeiten solchen Lebens.“8 Jonas wollte damit letztlich aussagen, daß wir zwar – aus welchen Gründen auch immer – „unser eigenes Leben, aber nicht das der Menschheit wagen dürfen.“ Dabei war er sich darüber im klaren, daß diese Formulierungen in einer bisher nicht bekannten Form den „Zeithorizont“ zu einem bestimmenden Kriterium ethischen Verhaltens machten, insofern sie die „Zukunft“ zum letzten Sinnhorizont verantwortlichen Handelns erklärten.9

Der entscheidende Aspekt des neuen kategorischen Imperativs liegt – abgesehen von der Frage, wie sich Begriffe wie „echtes menschliches Leben“ qualitativ in Hinblick auf mögliche zukünftige Entwicklungen bestimmen lassen – im Versuch von Hans Jonas, die Forderung, die Menschheit solle auch in Zukunft fortexistieren, metaphysisch – das heißt für ihn: ontologisch – zu bestimmen. Die alte, unter anderem auch von Leibniz und Schelling geltend gemachte und von Heidegger aufgegriffene Frage, warum etwas sei und vielmehr nicht nichts, wird auch für Jonas zum Leitmotiv seines Begründungsversuchs, in dessen Zentrum die These steht, daß das Sein gegenüber dem Nichts einen Wert darstellt, der dem Sein einen Vorrang gegenüber dem Nichts einräumt.10 Die Plausibilität dieser These gewinnt Jonas über den Nachweis, daß in der Natur selbst schon Zwecke, die als Werte interpretiert werden können, angelegt sind, woraus er in einem weiteren Schritt folgert, daß „in der Fähigkeit, überhaupt Zwecke haben zu können“, ein „Gut-an-sich“ gesehen werden kann, von dem zumindest „intuitiv“ gewiß zu sagen ist, es sei aller Zwecklosigkeit des Seins unendlich überlegen. Unterstellt man diese als selbstevident verstandene Einsicht als „ontologisches Axiom“, so folgt daraus eine „Selbstbejahung des Seins im Zweck“, der ein emphatisches „Nein zum Nichtsein“ korrespondiert.11 Der Mensch nun, der nicht allein Produkt der Natur ist, sondern dieser reflexiv gegenübersteht, muß dieses „Ja“ zur Maxime seines Handelns und somit nicht nur zu einem Moment seines „Wollens“, sondern auch zu einem „Sollen“ machen: Daß weiterhin Menschen sein sollen, ergibt sich für Jonas letztlich daraus, daß ihrer Existenz und den damit verbundenen Lebensmöglichkeiten ein höherer ontologischer Wert innewohnt als ihrer Nichtexistenz. Angesichts der Bedrohung des Lebens auf diesem Planeten ergibt sich aus seiner Sicht daher zwingend das Konzept einer Ethik der Verantwortung, welche die Erhaltung des Lebens in Hinblick auf seine Zukunftsmöglichkeiten zum Kriterium individuellen wie kollektiven Handelns erhebt.

Auch für Günther Anders sind die traditionellen Ethiken im zwanzigsten Jahrhundert unhaltbar geworden. Sein Ansatz scheint allerdings radikaler als der von Hans Jonas: „Die bisherigen religiösen und philosophischen Ethiken sind ausnahmslos und restlos obsolet geworden, sie sind in Hiroshima mitexplodiert und in Auschwitz mitvergast worden.“12 Mit diesem Diktum hat Anders die Situation der Moral in einer Weise gekennzeichnet, die keine Möglichkeit läßt, aus der Tradition der Moral und den ethischen Reflexionen der Vergangenheit noch einen entscheidenden Nutzen für die Gegenwart zu ziehen, auch nicht im Sinne der Ableitung einer neuen Verantwortlichkeit. Es ging ihm vielmehr darum, zu analysieren, inwiefern die technisch veränderte Welt mit der damit verbundenen Möglichkeit der Menschheitsvernichtung auch die bisherigen moralischen Imperative liquidiert. Aus der Analyse lassen sich dann allerdings sehr wohl Schlüsse ziehen, die Auskunft darüber geben, an welchen Maßstäben sich das Handeln orientieren müßte, soll der Anspruch auf Humanität – und das heißt auch bei Anders schlicht: auf den Fortbestand des Menschen – nicht vollends aufgegeben werden.

Günther Anders verzichtet jedoch im Gegensatz zu Hans Jonas prinzipiell darauf, eine Moral, die die Existenz der Gattung Mensch zum Ziel hat, philosophisch zu begründen. Gerade weil seiner Auffassung nach der Gattung Mensch keine bevorzugte ontologische Stellung zukommt, läßt sich auch und gerade angesichts der Bedrohung der Menschheit eine Ethik nicht ontologisch-metaphysisch deduzieren. In den anthropologischen Entwürfen seiner jungen Jahre hatte Anders den Menschen als weltfremdes, ja weltloses Wesen bestimmt, das im Gegensatz zum Tier in keine Welt eingepaßt ist, sondern sich Welt immer erst schaffen muß, was allerdings keine ontologische Sonderstellung bedeutet, sondern als belastende Exterritorialität, als „Pathologie der Freiheit“ zu diagnostizieren ist.13 Die noch bei Kant formulierte Ansicht, nur dem Menschen komme eine Zweckhaftigkeit zu, der gegenüber alles andere in der Natur zu einem Mittel werden könne, so daß der Mensch das Ziel, das Telos der Natur sei, hat Anders immer wieder bestritten, zumal er darin das Manko der abendländischen Ethik erblickte.14 Aus der Position des Menschen in der Welt läßt sich seine Wertigkeit ebensowenig ableiten wie aus einer vermeintlichen Hierarchie des Seins, die Anders nicht mehr gelten lassen wollte. Wohl aber resultiert aus der „Pathologie der Freiheit“, daß der Mensch ein Wesen ist, das nicht nur die Möglichkeit der Entscheidung besitzt, sondern geradezu dazu gezwungen ist. Weil wir nicht vollständig in unserem Handeln determiniert sind, sind wir mit Freiheit, das heißt aber mit der Notwendigkeit konfrontiert, bestimmte Handlungen zu wählen oder zu unterlassen. Diese Freiheit erschien Anders durchaus als eine Form von Zwang, die dem Menschen die Unausweichlichkeit des Sollens schlechthin auferlegt: „Es bleibt uns gar nichts anderes übrig: wir müssen sollen.“ Daß der Mensch sich Gesetze, Regeln, Normen geben muß, da die natürlichen Instinkte nicht ausreichen, war für Anders in erster Linie eine Not, keine Tugend. Immanuel Kants Apotheose des Sittengesetzes wurde interessanterweise gerade deshalb zum Gegenstand der Kritik: „Die philosophische […] Grundfrage muß die nach den Bedingungen der Nötigkeit sein, nicht die transzendentale nach den Bedingungen der Möglichkeit.“15 Anders griff damit übrigens einen Gedanken aus seiner frühen Auseinandersetzung mit Heidegger auf, dem er in der Studie über dessen Scheinkonkretheit vorgeworfen hatte, nur nach den Bedingungen der Möglichkeit der Freiheit, nicht aber nach der „Bedingung der Nötigkeit“ gefragt zu haben.16

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