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Vittorio Hösle

Hans Jonas’ Stellung in der Geschichte der deutschen Philosophie

Für Lore Jonas, ohne die es Organismus und Freiheit und damit auch Das Prinzip Verantwortung nicht gäbe.

Natürlich hat Victor Eremita (alias Kierkegaard) recht: Das Äußere ist nicht das Innere. Und doch haben wir oft genug keine andere Möglichkeit, als uns dem Inneren über das Äußere zu nähern, und selbst dort, wo Alternativen bestehen, mag uns der Weg über das Äußere schneller und sicherer zum Inneren bringen als jene anderen Zugangsweisen: Denn im Äußeren mag sich sehr wohl das Innere in angemessener Weise Ausdruck verschaffen. Zum Äußeren eines Denkens gehört nun in jedem Fall seine Rezeptionsgeschichte. Für sie ist ein Denker nur zum Teil verantwortlich, denn wir alle wissen, daß Rezeptionen häufig unfair und von lächerlichen Zufällen bestimmt sind. Und doch sagt die Rezeptionsgeschichte eines Werkes nicht nur etwas über die Rezipienten, sondern auch über den Recipiendus aus. Einige Reflexionen zu Jonas’ Rezeption sollen daher am Anfang stehen.

Einer der, wenn auch äußerlichen, so doch auffälligsten Aspekte der Jonasschen Philosophie ist ihr zwar sehr später, aber doch um so schnellerer Aufstieg zum Weltruhm. Besonders in Deutschland hat Jonas eine Popularität erlangt, die kaum einem anderen Philosophen des zwanzigsten Jahrhunderts zuteil wurde: Edmund Husserls Denken war zu technisch, um größere Kreise anzuziehen, und daß Martin Heidegger nicht zu jenen Autoren aufgestiegen ist, auf die man sich etwa bei öffentlichen Anlässen problemlos beruft, hat nur allzu bekannte Gründe. Ich weiß jedenfalls von keinem anderen deutschen Philosophen des zwanzigsten Jahrhunderts, dem eine Statue errichtet worden ist, so wie Jonas von seiner Heimatstadt Mönchengladbach, und daß bereits zehn Jahre nach seinem Tode eine Gedenkbriefmarke herausgegeben wurde, ist eine Ehre, die ebenfalls nicht vielen deutschen Denkern unserer Zeit widerfahren ist. Schließlich ist auch der inhaltliche Einfluß Jonas’ auf die Umweltbewegung beträchtlich gewesen.1 Wie erklärt sich dieser Erfolg, der um so verblüffender ist, als Jonas vor 1979, dem Erscheinungsdatum von Das Prinzip Verantwortung, vornehmlich Patristikern und Gnosisspezialisten als Philosophie- und Religionshistoriker bekannt war und das Buch, das er selbst für sein bedeutendstes hielt, The Phenomenon of Life (englisch 1966, deutsch 1973 unter dem Titel Organismus und Freiheit), weitgehend unbeachtet blieb, bis man im Gefolge der Diskussionen um Das Prinzip Verantwortung darauf aufmerksam wurde, da es in der Tat die Grundlage der Argumente des späteren Werkes bildet? Erklärungsbedürftig ist auch die Tatsache, daß Jonas’ Werk zunächst in Deutschland einschlug, obgleich seine Sprache die Entwicklung des Deutschen seit 1933 nicht mitgemacht hatte, wie er selbst – keineswegs kokettierend – einräumte,2 und inzwischen auch in vielen anderen europäischen sowie in asiatischen Ländern rezipiert ist – freilich kaum in den USA, als deren Bürger Jonas starb und wo er fast vier Jahrzehnte seines langen Lebens wirkte.

Eine Ursache von Jonas’ Erfolg in Deutschland mag seine jüdische Herkunft gewesen sein: Indem man ihn las und/oder lobte, konnte man glauben, zur Wiedergutmachung der deutschen Verbrechen an den Juden beizutragen. Aber sofern das mitgewirkt hat, hat es jedenfalls keine große Rolle gespielt; denn ein vergleichbarer Erfolg ist ja keineswegs allen emigrierten jüdischen Intellektuellen zuteil geworden. Nein, es war der Sachgehalt des Werkes, der ihm zu seiner Rezeption verhalf. Dabei spielte einerseits das Thema eine Rolle – seit dem ersten Bericht des Club of Rome hatte man in den siebziger Jahren erstmals weltweit das ökologische Problem wahrzunehmen begonnen, und daß schon am Ende dieses für das Erkennen des Umweltproblems entscheidenden Jahrzehnts eine ausgereifte Theorie mit den Grundlagen einer Ethik für die technische Zivilisation vorlag, erzeugte bewunderndes Staunen. Hier hatte jemand ganz offensichtlich in langen Jahrzehnten vorher Theorie auf Vorrat angehäuft, die er nun zur philosophischen Bearbeitung einer ethisch-politischen Schicksalsfrage der Menschheit einzusetzen verstand. Auch daß Das Prinzip Verantwortung sich als Gegenwerk zu Ernst Blochs Das Prinzip Hoffnung vorstellte, trug zu seinem Erfolg bei: Konservative, die dem Marxismus gegenüber skeptisch oder gar feindlich eingestellt waren, konnten bei Jonas eine brillante Kritik eines Anspruchsdenkens finden, das sie aus guten Gründen ablehnten, und Linke, die die destruktiven Tendenzen des modernen Kapitalismus durchschauten, fanden in ihm eine Bestätigung ihrer Sorgen. Zwar ist Jonas’ Verteidigung der Sowjetunion in Kap. V des Prinzips Verantwortung einer der problematischsten und provokativsten Teile seines Werkes, dem er auch später abschwor; aber was auch intelligente Antimarxisten bestach, war die Tatsache, daß Jonas die marxistische Ideologie als edle Lüge für die Massen einzusetzen hoffte, um sie zu asketischen Idealen zu animieren. Der Abschnitt „Kann Enthusiasmus für die Utopie in Enthusiasmus für die Bescheidung umgemünzt werden?“ mit dem bezeichnenden Untertitel „(Politik und Wahrheit)“ gehört in seiner grandiosen Mischung von Platonismus und Machiavellismus zu den abgründigsten Texten der politischen Philosophie des vergangenen Jahrhunderts, und daß er mit den Worten endete, „der Autor ist auf den Vorwurf des Zynismus gefaßt und wünscht ihm nicht die Versicherung eigener guter Gesinnungen entgegenzustellen“,3 mußte Jonas gerade denjenigen interessant machen, die „Gutmenschentum“ nicht für die Lösung des Problems der Moral halten. Gleichzeitig war jedem klugen Rezipienten klar, daß die Entgegenstellung dieser Versicherung, die bei einem Carl Schmitt deswegen nichts geholfen hätte, weil sie nur als Machiavellismus zweiter Potenz gedeutet worden wäre, bei Jonas aus ganz anderen Gründen überflüssig war: Wem die Integrität dieses Mannes und seines Denkens noch nicht aufgefallen war, der wäre in der Tat auch durch eine solche Erklärung nicht zu überzeugen gewesen. Daß Ende der siebziger Jahre, nach einem extrem ideologisierten Jahrzehnt, eine solche geistige Autonomie, die auf wertkonservativer Grundlage der Sowjetunion positive Aspekte abzugewinnen suchte, faszinierte, war wahrlich ein hoffnungsvolles Zeichen.

Wichtiger noch als das Thema selbst war die Art und Weise seiner Behandlung. Schon vor Jonas – man denke an John Passmore4 – hatte es solide Untersuchungen zu umweltethischen Fragen gegeben, und daß nach dem Erfolg seines Buches die Umweltethik im akademischen Philosophiebetrieb florieren würde, war in der Tat zu erwarten gewesen (auch war nicht überraschend, daß gar manche der neueren Autoren es nötig fanden, ihre guten Absichten hervorzuheben). Aber das, was Jonas’ Entwurf etwa von verdienstvollen Arbeiten wie derjenigen Dieter Birnbachers5 abhob, war der metaphysische Anspruch. Es ist keine Übertreibung, wenn man sagt, daß es seit Immanuel Kant kaum einen Ethiker gegeben hat, in dessen Ansatz die Metaphysik der Ethik eine so entscheidende Rolle spielt wie bei Jonas: Der Utilitarismus etwa, ungeachtet aller seiner materialen Fortschritte über Kant hinaus, gehört nicht zu den ethischen Schulen, die sich durch Reflexionen zum Status des Sollens innerhalb des Seins auszeichnen. Der neue Brückenschlag zwischen Metaphysik und Ethik war deswegen so faszinierend, weil Jonas nicht einfach zu einer älteren Position zurückkehrte, sondern seine Rückkehr mit der gegenwärtigen Situation begründete – der Eigenart unserer Pflichten gegenüber kommenden Generationen sowie der Notwendigkeit einer neuen Deutung der Natur. Daß der Rückgriff auf eine scheinbar obsolete Form des Denkens in einer archaischen Sprache vorgetragen wurde, trug wahrscheinlich zur Anziehungskraft des Werkes bei: Man hatte den Eindruck, daß das Beste an der deutschen Philosophie, das 1933 vertrieben oder pervertiert worden war, gleichsam aus längst geschwunden geglaubter Vergangenheit zur Bewältigung der Zukunft aufrief, und diese eigentümliche Mischung der Zeitmodi in einer desorientierten Gegenwart ist sicher einer der entscheidenden Faktoren von Jonas’ Erfolg gewesen.

Hinzu kam – und das erklärt Jonas’ schnelle Rezeption in Deutschland und seine bis heute zögerliche Rezeption in der angelsächsischen Welt –, daß sein Denken in ganz besonderer Weise in der deutschen Tradition wurzelte. Das ist nicht ohne weiteres ersichtlich, da Jonas nicht zu denjenigen Denkern gehört, die ihre Quellen und Vorläufer ausführlich diskutieren; aber es ist, wie ich im folgenden zeigen möchte, dennoch zutreffend. Jonas’ einzigartige Stellung in der Geschichte der deutschen Philosophie besteht darin, daß er Heideggers Anregungen an die Weltphilosophie fruchtbar zu machen gewußt hat und gleichzeitig aus der Sackgasse ausgebrochen ist, in die dessen Denken die Philosophie geführt hatte. Dies gelang ihm, indem er – nicht etwa direkt, sondern auf „Umwegen“, nämlich durch die Sache selbst, wie sie sich ihm in seiner Auseinandersetzung mit den modernen Biowissenschaften und den ethischen Problemen ihrer technischen Folgen offenbart hatte – die entscheidenden Prinzipien der Kantischen Ethik und der Hegelschen Philosophie des Organischen neu gedacht und auf die gegenwärtige Situation angewandt hat. Für jemanden, der – wie der Autor dieses Aufsatzes – die These vertritt, daß bestimmte Grundtypen der Philosophie in regelmäßiger Folge wiederkehren,6 war das Wiedervorstoßen eines Schülers Heideggers zu den Positionen der klassischen deutschen Philosophie – und zwar nicht aus historistischer Gelehrsamkeit heraus, sondern aus immanenten Problemen der Gegenwart selbst – eine hochwillkommene Bestätigung jener allgemeinen Theorie der Philosophiegeschichte und der mit ihr verbundenen Hoffnung auf eine Erneuerung der Tradition des objektiven Idealismus.

Das, was Hans Jonas für das deutsche Bildungsbürgertum letztlich so interessant machte, war, daß er mit einer Unbefangenheit und Originalität Metaphysik betrieb, wie sie in Deutschland gerade aus politischen Gründen kaum mehr möglich war: Man mußte gleichsam US-Amerikaner sein, um sie sich zu erlauben, so wie man sich seine Kritik an „liberale[n] Naivitäten“7 und seine Gedanken über die konstitutionelle Vernachlässigung der kommenden Generationen in der modernen Demokratie8 nur gestatten konnte, wenn man 1933 Deutschland mit dem Gelöbnis verlassen hatte, „nie wiederzukehren, außer als Soldat einer erobernden Armee.“9 Vielleicht liegt darin einer der wichtigsten Gründe für die Anziehungskraft des Jonasschen Denkens: Mit der nahezu unüberbietbaren Abscheulichkeit von Nationalsozialismus und Sowjetkommunismus sind alle jene politischen und intellektuellen Alternativen zum westlichen Typus wohlfahrtsstaatlicher Massendemokratie und ihrer konsenstheoretischen Legitimation disqualifiziert worden, die in den ersten drei Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts in verschiedenen europäischen Ländern erwogen worden waren. Das ist einerseits nur zu verständlich; es ist wirklich kaum möglich, etwa eine Biographie Stefan Georges zu schreiben, ohne auf die Tatsache einzugehen, daß Georges Elitismus manchen Nationalsozialisten faszinierte.10 Aber wenn man mit Jonas Hitler für einen Zufall hält,11 dann stellt sich unweigerlich die Frage, wie wir heute etwa Nietzsche, George und Heidegger bewerten würden, wäre Hitler nicht zur Macht gekommen. Es mag durchaus sein, daß in einigen jener Alternativen, die mit dem Totalitarismus logisch nicht im mindesten verknüpft sind, Ideen enthalten waren, von denen man gerade angesichts der enormen Schwierigkeiten der modernen Demokratien, mit den Umweltproblemen fertigzuwerden, lernen kann. Jonas hat mit einer solchen Möglichkeit erstaunlich unbefangen gerechnet, und die Dankbarkeit der Öffentlichkeit seinem Werke gegenüber hat sicher auch mit dem Gefühl zu tun gehabt, hier würden wieder Alternativen zur politischen Korrektheit des Mainstream offengehalten, von denen die Freiheit und die Weite des geistigen Austausches auch dann profitieren können, wenn man schließlich zu dem Ergebnis kommt, daß sie abzulehnen sind.

Im folgenden will ich erstens das Heideggersche Erbe bei Jonas erörtern (I) sowie den Bruch mit Heidegger in der Naturphilosophie (II) und in der Ethik (III) diskutieren, wobei auf die sachliche Verwandtschaft mit Hegels und Kants Theorien einzugehen ist. Da ich eine genauere sachliche Analyse von Jonas’ Philosophie an anderer Stelle vorgelegt habe,12 kann ich es mir hier ersparen, Jonas’ Argumentationen im einzelnen darzulegen und zu analysieren. Mir geht es in diesem Text nur um den geschichtlichen Ort von Jonas’ Denken. Das Thema gestattet es zugleich, die Frage zu streifen, ob es etwas wesentlich „Deutsches“ in der Philosophie der zu diskutierenden Denker gibt.

I.

Provozierend läßt sich sagen, daß für einen großen Teil der Weltöffentlichkeit mit Heideggers Werk die klassische deutsche Philosophie ad absurdum geführt worden war. So, wie sich nach dem Zweiten Weltkrieg die Rede von einem deutschen „Sonderweg“ verbot und Adenauers wahrlich geschichtliche Leistung darin bestand, Deutschland endgültig in Westeuropa einzubinden, so war es nach der extremen Eigenwilligkeit des Heideggerschen Denkens – und zwar noch unabhängig von dessen Verstrickung in den Nationalsozialismus – für deutsche Intellektuelle unbedingt geboten, sich in viel intensiverer Weise um die Rezeption insbesondere des angelsächsischen Denkens zu bemühen, als dies im neunzehnten Jahrhundert geschehen war, in dem Schopenhauer einer der wenigen Philosophen gewesen ist, der etwa David Hume gründlich studiert hat. Jürgen Habermas ist der Reeducation-Philosoph der Bundesrepublik gewesen (insofern ist, auch wenn er das wohl nicht gerne hören wird, seine Rolle in der Philosophie derjenigen Adenauers in der Politik wesensverwandt), und Karl-Otto Apels Peirce-Buch13 war prägnanter Ausdruck dieser Wendung zum Westen (einschließlich der USA). Die Metaphysikkritik Apels und Habermas’, die durch ihre These (oder besser: deren besondere Interpretation) von den drei Paradigmen der Ersten Philosophie abgestützt wurde,14 war wohl auch als Beitrag zur Überwindung der Isolation der deutschen Philosophie intendiert, weil sie das Gespräch mit Pragmatismus und analytischer Philosophie ermöglichte und zu einer intersubjektivitätstheoretischen Rechtfertigung der Demokratie führen sollte. Nur ein deutscher Philosoph wie Jonas, der seit 1933 in englischsprachigen Ländern gelebt hatte, konnte es sich leisten, weiterhin die analytische Philosophie zu ignorieren (viel lernte er freilich von dem Briten Alfred N. Whitehead).

In der Tat kann man einräumen, daß ein starkes Interesse an Metaphysik und ein wesentlich geringeres Interesse an der Rechtfertigung von Demokratie, wenn nicht gar ihre klare Ablehnung, zwei wichtige Merkmale der deutschen Philosophie bis 1945 waren und daß Heidegger diese Tendenzen nur bis zur Unerträglichkeit gesteigert, aber keineswegs neu geschaffen hat. Natürlich ist der erste Teil dieser Aussage problematisch, weil es keinen Nationalgeist an sich, also unabhängig von den Individuen gibt, in denen er sich manifestiert. Aber es ist trotzdem richtig, darauf zu verweisen, daß in bestimmten Kulturen bestimmte Eigenschaften sich eher finden als in anderen, was auch immer die Ursachen dafür sind. Ich will hier nicht der Frage nachgehen, ob etwa die Ausgrenzung einer deutschen Philosophie im Mittelalter mehr ist als eine bequeme, aber letztlich willkürliche Grenzziehung15 – klar ist, daß spätestens seit der Verwendung des Deutschen als philosophischer Fachsprache im achtzehnten Jahrhundert eine eigene deutsche Nationalphilosophie existiert.

Den meisten ihrer Vertreter ist folgendes gemeinsam: Erstens sind die religiösen Wurzeln der klassischen deutschen Philosophie stark, stärker als etwa in Frankreich. Gleichzeitig ist die deutsche Religiosität intellektueller als etwa die englische oder gar die US-amerikanische: Philosophische Religiosität bedeutet in Deutschland einfach, daß man der Welt auf den Grund kommen will, selbst wo das nicht mit der positiven Religion im Einklang steht. Schon bei Jakob Böhme zeigt sich ein außerordentliches Bedürfnis, unabweislichen Fragen, die mit der Natur Gottes zusammenhängen, mit Mitteln der Vernunft nachzugehen, auch wenn dies von der naiven Orthodoxie abführt, und im Deutschen Idealismus wurde diese Tendenz auch innerhalb der akademischen Philosophie dominierend.16 Da gleichzeitig eine voluntaristische Gotteslehre in Deutschland auf wenig Sympathien stieß, wurde zweitens eine apriorische Konstruktion der Wirklichkeit verlockend: Wenn Gott rationale Gründe für die Schöpfung dieser und keiner anderen Welt hatte, müßte es im Prinzip möglich sein, den Strukturen der Welt durch Nachdenken beizukommen. Auch derjenige große deutsche Philosoph, der dem Empirismus am meisten Zugeständnisse machte, Kant, ist nach britischen Maßstäben selbst im Bereich der theoretischen Philosophie ein weitgehender Aprioriker, ganz zu schweigen von der praktischen Philosophie, in der er Humes Ansatz diametral entgegengesetzt ist. Kants anti-eudämonistische Ethik ist drittens sicher einer der folgenreichsten Programme für die deutsche Philosophie gewesen. Seine Forderung nach unbedingter Konsequenz und die Ablehnung synkretistisch-halbherziger Positionen sind viertens formale Merkmale, die man auch bei einem so antikantischen Denker wie Nietzsche wiederfindet. Nietzsches Wurzeln im Historismus sind offenkundig, und in der Tat kann man in dem besonderen Interesse an der Geschichte ein fünftes Merkmal der deutschen Philosophie erblicken. Vermutlich auf Grund des spekulativen Schwerpunktes hat es die deutsche Philosophie – sechstens – lange Zeit verschmäht, sich in die Niederungen der Praxis hinabzulassen; selbst ein so unstrittiger Universalist und Republikaner wie Kant kann auf Grund seiner Lehre vom Widerstandsrecht schwerlich als Denker gepriesen werden, der zur Demokratisierung der Deutschen beigetragen hat.

Die meisten dieser Merkmale sind bei Heidegger unschwer wiederzuerkennen, allerdings in einer neuen Mischung, die erst eigentlich verhängnisvoll wurde.17Sein und Zeit verbindet auf höchst innovative, ja geniale Weise vier philosophische Stränge, die vorher relativ unabhängig voneinander existierten. Erstens setzt Sein und Zeit die transzendentalphilosophischen Reflexionen über die Beziehungen zwischen Subjektivität und Zeitlichkeit fort, wie sie bei Descartes und Kant einsetzen und von Husserl auf ein neues Niveau gehoben worden waren. Zweitens gelingt es Heidegger, anders als dem frühen und mittleren Husserl, von diesen Reflexionen die Brücke zu schlagen zu einer Theorie der Geschichtlichkeit, wie sie das Zentrum der philosophischen Bemühungen Diltheys ausmachte, der für Heidegger meines Erachtens wichtiger war als Husserl. Drittens wird die Zeitlichkeit des Daseins zur Sterblichkeit zugespitzt; damit gelingt es Heidegger, den Tod wieder zu einem zentralen Thema der Philosophie zu machen, was er lange nicht gewesen war, und damit der Philosophie eine neue existentielle Intensität zu sichern. Verbunden wird die transzendentalphilosophische Reflexion viertens mit einer Neubesinnung auf die Seinsfrage: Einerseits ist das Dasein durch eine besondere Beziehung zum Sein ausgezeichnet, andererseits wird das Dasein in die Welt eingefügt und der Weltlosigkeit der Husserlschen Epoché entrissen.

Das Zusammenführen so unterschiedlicher Ansätze bleibt eine der größten Leistungen der Philosophiegeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts: An der philosophischen Größe Heideggers, insbesondere an seinem neue Wirklichkeitsschichten erschließenden phänomenologischen Blick, ist – leider! – nicht zu rütteln.18 Aber gerade wegen dieser Größe sind Heideggers Engführungen um so verderblicher. Von besonderer Relevanz ist, daß Heideggers Ansatz die Ethik auflöst. Von einer objektiven Sittenlehre ist bei ihm nicht die Rede; letztlich reduziert sich die Moral auf das Gebot, sich der eigenen Sterblichkeit zu stellen. Dadurch erhält Sein und Zeit zwar den Anschein eines besonderen moralischen Pathos, das freilich um so leerer ist, als es mit keiner der üblichen moralischen Pflichten vermittelt ist. Was bei Heidegger eine Weihe erfahren kann, ist etwa, daß man im Krieg dem Tode ins Auge schaut; eine Theorie des gerechten Krieges freilich wird man bei ihm vergeblich suchen. Ja, mehr noch: Eine solche Theorie ist auf der Grundlage seines Ansatzes gar nicht denkbar. Dies gilt noch mehr für den späten Heidegger, der im Gefolge Diltheys den Gedanken der Geschichtlichkeit zu einer Theorie der Inkommensurabilität der verschiedenen Manifestationen des Seins steigert.19 Mit diesem Ansatz ist die Auffassung unvereinbar, es gebe ein allgemeingültiges Sittengesetz, und noch weniger ist eine eigenständige Ethik innerhalb eines Ansatzes denkbar, in dem eine verantwortliche, autonome Subjektivität vom Sein gleichsam verschluckt wird. Das besonders Irritierende am späten Heidegger ist wiederum, daß sein Denken der metaphysischen Tradition zuzugehören scheint, was einesteils auch wirklich zutrifft, wobei andernteils die entscheidenden Gedanken der metaphysischen Tradition, insbesondere der Zusammenhang zwischen Metaphysik und Ethik, preisgegeben, ja in ihr Gegenteil verkehrt werden: Denn Heideggers Sein ist vollständig wertfrei. Während jeder, der an jener Tradition hängt, in Nietzsche ihren Feind erkennt, ist deren Pervertierung durch Heidegger, weil sie zum Teil in der Sprache jener Tradition erfolgt, viel schwerer zu durchschauen und daher viel gefährlicher. Hinzu kommt, daß der radikale Historismus des späten Heidegger den Glauben an die Fähigkeit der menschlichen Vernunft lähmt, zeitlose Wahrheiten zu erkennen, worin traditionell die Aufgabe der Metaphysik bestand. Nicht um das Sein und seine Strukturen geht es Heidegger nach der Kehre, sondern um die Art und Weise, wie in den einzelnen Epochen das Sein erfahren wird – also um Metaphysikgeschichte, nicht um Metaphysik. Freilich ist es richtig, daß sich in dieser Geschichte der Metaphysik nach Heidegger das Sein selbst enthüllt (so daß seine Philosophiegeschichtsschreibung philosophisch inspiriert bleibt). Das gilt auch und gerade für die Epoche fortgeschrittenster Seinsvergessenheit, nämlich diejenige der modernen Technologie, deren Wesen und Konsequenzen Heidegger in der Tat wie kaum ein anderer, und früher als alle anderen Philosophen, durchschaut zu haben beanspruchen kann – auch wenn er vor ihr, mangels jeder Ethik, nur zu kapitulieren vermochte.

Worin zeigt sich die Abhängigkeit Jonas’ von Heidegger?20 Sein erstes großes Werk, das zweibändige Gnosis und spätantiker Geist, erschloß eine wenig erforschte Epoche der Geistesgeschichte neu durch die Anwendung von Kategorien, die Jonas der Daseinsanalytik Heideggers entnommen hatte, wie „Verfallen“ und „Geworfenheit“. Nicht minder ist inOrganismus und Freiheit der Einfluß Heideggers mit Händen zu greifen. Etwas überspitzt kann man sagen, daß die organische Seinsform, um die es Jonas geht, eine Verallgemeinerung des Heideggerschen Daseins ist. Die Sorge, so könnte man sagen, ist zwar nicht allen Organismen eigentümlich, aber sie kann sich nur entwickeln auf der Grundlage der organischen Seinsform. Das Vorlaufen zum Tode setzt Sterblichkeit voraus, und die ist nur die Kehrseite des Lebens. Aber warum? Weil das Leben wesentlich prekär ist, und zwar auf Grund seiner Angewiesenheit auf den Metabolismus. Damit freilich ist das Leben durch eine neue Form von Zeitlichkeit vom Anorganischen geschieden: Durch den Energie- und Stoffwechsel ist die Zeitlichkeit dem Organismus gleichsam immanent: Innerhalb einer bestimmten Zeit muß der Organismus ein bestimmtes Quantum an Energie und Materie austauschen, wenn er überleben soll. In einem gewissen Sinne radikalisiert Jonas nur die in Sein und Zeit begonnene Transzendierung der Husserlschen Bewußtseinsimmanenz: „Und so weit Heidegger sich auch von Husserl entfernte, so blieb er doch im Bannkreis der deutschen idealistischen Tradition, die Wirklichkeit dadurch zu erkennen, zu erfassen, philosophisch zu meistern, daß man in sich selber hineinschaut. […] Zum Beispiel das Hungergefühl als eine innere Sensation, das läßt sich phänomenologisch beschreiben, wie das so ist, wenn man Hunger empfindet. Was man aber durch keine Bewußtseinsanalyse und keine Daseinsanalyse herauskriegt, ist, wieviel der Mensch zum Beispiel nötig hat, um am Leben zu bleiben.“21

Analog ist auch imPrinzip Verantwortung die erschließende Kraft der Daseinsanalytik Heideggers unverkennbar. Insbesondere die Theorie der Verantwortung im zentralen vierten Kapitel atmet den Geist von Sein und Zeit. Von den drei Merkmalen, die Jonas dem Begriff der Verantwortung zuschreibt – Totalität, Kontinuität und Zukunft –, haben die beiden letzteren mit Zeitlichkeit zu tun, und insbesondere wirkt der Vorrang, den Heidegger der Zukunft zuweist, bei Jonas nach: Die Abschnitte IV und V des vierten Kapitels loten die Bedeutung der Zukunft für den Begriff der Verantwortung aus. Entscheidender noch ist Jonas’ Beharren darauf, daß es Verantwortung nur für Seiendes von organischer Seinsweise geben könne, denn nur dieses sei wesentlich gefährdet und vergänglich. Zwar erkennt Jonas eine Verantwortung des Künstlers für sein Werk an, aber auch diese gebe es nur angesichts möglicher menschlicher Rezipienten des Werkes, und im berühmten Konfliktfall sei selbstverständlich das Kind vor der Sixtinischen Madonna aus dem brennenden Haus zu retten.22 Im allgemeinen gelte: „Nur das Lebendige also in seiner Bedürftigkeit und Bedrohtheit – und im Prinzip alles Lebendige – kann überhaupt Gegenstand von Verantwortung sein.“23 Gegen die platonische Bevorzugung des Dauerhaften, auf deren Grundlage Verantwortung nicht zum zentralen Begriff der Ethik habe werden können, betont Jonas: „Aber die Ontologie ist eine andere geworden. Die unsere ist nicht die der Ewigkeit, sondern die der Zeit. Nicht mehr Immerwähren ist Maß der Vollkommenheit: fast gilt das Gegenteil. Dem ‚souveränen Werden’ (Nietzsche) verschrieben, zu ihm verurteilt, nachdem wir das transzendente Sein ‚abgeschafft’ haben, müssen wir in ihm, das heißt im Vergänglichen, das Eigentliche suchen. Damit erst wird Verantwortlichkeit zum dominierenden Moralprinzip.“24 „Nicht sub specie aeternitatis, vielmehr sub specie temporis muß sie die Dinge ansehen, und sie kann ihr Alles in einem Augenblick verlieren.“25 Verantwortung ist für Jonas „das moralische Komplement zur ontologischen Verfassung unseresZeitlich seins.“26

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