Читать книгу: «Sternstunden der Wahrheit», страница 3

Шрифт:

Das muss er sein: der Reinbringer

Normalerweise kann man die Bild-Zeitung nicht abonnieren. Doch die Wahrheit ist im Besitz eines der raren Bild-Abonnements und bekommt täglich das Blut-und-Sperma-Blatt von der anderen Seite der Berliner Kochstraße. Feindbeobachtung ist schließlich wichtig. Aus unerklärlichen postalischen Vertriebsgründen landet die Bild jedoch jeden Morgen im Nachbarbüro des taz-mag. Wir haben uns inzwischen daran gewöhnt, und auch den Kollegen Reinhard Krause scheint es Tag für Tag mehr zu amüsieren, dass er uns das Fischeinwickelblatt hereinreicht. Wir allerdings denken stets an Robert Gernhardts Gedicht »Deutung eines allegorischen Gemäldes«. Gernhardt beschreibt fünf Personen auf einem Gemälde, die jeweils für etwas stehen: Tod, Pest, Leid, Hass. Und der fünfte? »Der fünfte bringt stumm Wein herein / das wird der Weinreinbringer sein«. Tod, Pest, Leid, Hass bringt die Bild, aber im Gegensatz zum Weinreinbringer ist der Bild-Reinbringer nicht stumm. Ja, mittlerweile sind wir jeden Morgen gespannt, wie er die heutige Schlagzeile kommentieren wird: »Sie ziehen Michelle Hunzikers ›Wunderhexe‹ schon den 15. Tag!« oder »Als Frau ist Bärbel Schäfer sehr verletzt – nur als Frau!« oder »Uschi Glas – muss die sich nackig machen mit 59?« Eigentlich brauchen wir die Bild überhaupt nicht mehr, allein der Kommentar des Reinbringers bringt’s.

(18.7.2003)

Elternbesuch

Hier war früher mal die Mauer,

Wo, das weiß ich nicht genauer.

Links die Römer, rechts die Goten,

Drübersteigen war verboten.

Das ist die Weser, äh, die Spree,

Die fließt hier in den Bodensee.

Im Reichstag, da zur linken Hand,

Ist Rosa Luxemburg verbrannt.

Und das dahinter, nein, davor,

das ist das Brandenburger Tor.

Das steht hier schon seit letztem Jahr,

Weiß auch nicht, was da vorher war.

Die goldne Kuppel hinten links

Gehört zum Dom, ach nein, zum Dings,

Ich glaub, es heißt Schloss Sanssouci,

So weit im Osten war ich nie.

Das oben auf dem Kreuzberg? Klar:

Das ist der Pergamonaltar.

Die halbe Kirche? Keine Ahnung,

Vielleicht für irgendwas als Mahnung.

Jetzt habt ihr einen Überblick.

Da geht der Zug! Kommt gut zurück!

Kathrin Passig (19.5.2004)

Das Streiflicht: Heute ausnahmsweise auf der Wahrheit-Seite

Eigentlich ist es ein Fall für das »Streiflicht« in der Süddeutschen Zeitung, jene immer leicht verschnarcht daherkommende Glosse auf Seite eins, die gern ein zeitloses Thema auf die aktuelle Lage herunterbricht und in gebildeter Form Adam und Eva, Athen und Rom, Stock und Stein herbeizitiert. Oft werden die Sprache und ihre Blüten in gelehrtem Tonfalle behandelt. Und deshalb ist es fast sicher, dass einer der Schreiber des »Streiflichts« die gestrige Meldung der Nachrichtenagentur dpa aus Rom gelesen hat. Spätestens in drei Tagen werden wir also etwas über das rhetorische Stilmittel der »Metonymie« erfahren, ist doch das folgende dpa-Zitat wie geschaffen für einen abschweifenden Exkurs über die ars rhetorica: »Historische Statuen in Rom durch Vandalen schwer beschädigt«. Wie bitte?, wird sich das »Streiflicht« fragen, die Vandalen sind wieder in Rom? In der Ewigen Stadt, die sie im Jahr 455 n. Chr. unter Führung ihres Königs Geiserich in Schutt und Asche legten? Nein, es handelt sich lediglich um eine Metonymie, wenn nicht um ein Appellativum, bei dem ein Gattungsbegriff durch einen Eigennamen umschrieben wird wie »Casanova« für »großer Liebhaber«. Hier ist es das Volk der Vandalen, die seit dem späten Mittelalter als Inbegriff für Zerstörer und Plünderer gelten und sich in der dpa-Meldung sozusagen selbst eingeholt haben. Aber, liebes »Streiflicht«, das kannst du doch viel schöner und vor allem viel länger erklären. Wir warten …

(16.7.2004)

Das Wetter: Aus dem Nähkästchen

Schlechtes Essen ist gut, man isst dann nicht so viel. / Das kleine r ist der Wasserhahn des Alphabets. / Schnokelig abgolzen ist leicht, aber golzig abschnokeln ist schwer. / Eigene Gedanken kann man nicht kaufen, das ist meine Meinung! / Auf einem anderen Stern sieht das Blau fast ein wenig rot aus. / Eine Pampfel, die nicht pampfelt, ist nicht mehr als eine Pumpfel. / Die Zeit immer schön flach halten! / In einer fremden Wohnung wundert man sich jedes Mal, dass jemand darin leben kann. / Dass der Wille frei ist, kann man sich an manchen Tagen hundertmal sagen. / Das ganze Leben ist Grxmpfd. / Ich mag mich täuschen, aber die Löwen sehen nicht aus, als ob sie oft zum Frisör gingen. / Wirf nicht mit der Katze nach dem Hund!

Peter Köhler (27.7.2004)

Deutschland besackenhack!

Patriotismus wir brauchen für unser sehr schönes deutsches Vaterland

Dem Vaterland ist not. Der Heimat droht kaputt. Das Volk hat schlapp, den Staat ist schief, des Wirtschaft tut ab. Deutschland geht auf dem Rücken, meinen alle schwer. Die Auguren haben dunkel. Ist die Nation noch retten machen?, fragen Eierköpfe voll. Das muss anders!, ruft die Politik aus dem Mund fürwahr, wenn wir uns nur wollen! Mit wir geht es uns voran!, weist sie in die Zukunft vorn.

Doch wem oder was sind wir?, so macht wie seit tausend Äonen die deutsche Frage sich offen. Sind wir überhaupt wie uns? Wo sind wir wiehalb? Wen wollen wir wogegen wowauf? Welchem wessen wir uns wadumm? Indes: Dem allen ist letzthalb pinkelegal. Wenn wir uns nur wieder mögen möchten wollen, wie uns lieben zu können allen verheißen gemusst ist! Deutschenpflege, das ist der Gebot den Stunden. Dem Deutschen tut das Deutsche ob. Hoch das Heimatstolz empor! Des Vaterland hinauf!

Zwar mit schiefen Augen äugt die Welt auf Deutschland in Europi Mittelloch. Deutschland Sauertopf gepanzerstark, dass Hitlerbrand Teutonenstrull dem Nachbarfell verohrenzieht, des dünkt das Ausland allenthalbs. Doch dem ist jetzt der Buckel da! Mit vollem Strotz steht Deutschlands Trutz auf gutem Recht im eignen Beritt, traun anfür und sapperlot: Mit Wanderklang im Dirndlsegen zur Schützenkrone voll Kindergnade, keine andere Zunge kann auf solche Gebarung gehörig sein. Das Waldesglück dem Alpengold im Hallighimmel, kein fremdes Ohr kann hochgejodel aufgewagnert besserwiss! Potztausend Weihnachtskeks und Nudelheit! Oh Kegelmacht Gemütsamkeit! Eiderdaus Regelgut und Sauberzack! Fürhold, dem deutschen Sprachen ist Wundersinn. Schöner den Lippen nie klingelt, was den Schmalzlappen niemals verzwickt: Wurstklammerhaus, Wiesenbuchlitze, Körperbrockenfass, Geburtsverbackensbilderbaum, Ofenrolle, Dackelhut, Gedankenbeutel – solcher Besitz mögte dem Vaterland behilflich sein wollen, um die Bewandtnis zu besitzen, dessen es in seiner Befugnis so bedarf.

Daran wachse das Vaterland strocks! Das Heimat ist die Krone des Lorbeer, den Palmen der Welt. Des hat das Auge warm! Und siehe, des Freuden Eimer macht Deutschland gnadenüber. Das Volk wird wieder ganz. Dem Land steht es heil. Das Macht ist der Einheit um den Freiheit willen übergut, dessen ist normal. Dem Miesegram hinweggefeg! So wird Deutschland hynkelbart bestechenschritt der Zukunft gegen.

Damit hat nun alles für und für: Dem Vaterland steht das Heimat gern, dessen ist jetzt futtenklar. Darum Deutschland lieb von allen schnoppelhoppel sackenhack! Dahalb hätschelweis vermögensbroll von allerseits. Sonst derverstalten mopfenblut, dass deutsch bestiefelgau gehodenfest! Verstrappen die Knursch, verstrappen die Mursch: o so verstrappen!! Wüllewoll bestraffenstucken strückenstocken heileweil zerweltenhock verknüppelsau: gewaffenwurz vererbenwack zerfrotzenpotsch! Jawulz!

Peter Köhler (13.1.2005)

Stirn ermüdet, Herz vergletschert

Die Wahrheit schreibt den offiziellen Rolf-Hochhuth-Preis für gequirlten Quark aus

»Greller Mittag, graues Zimmer / Stirn ermüdet, Herz vergletschert / eingestuft du, ›aus‹-gewertet / Sommer Phrasen Schlußverkauf.« So fängt ein Gedicht des Lyrikers Rolf Hochhuth an, und so geht es weiter: »Vor dem Fenster ›Wirklichkeiten‹ / die sich lärmend selbst erzeugen / Wegwerf-Ware wie wir selbst / Müllplatz der Big Dollar Words.« Und noch ‘ne Strophe: »Schnittpunkt Börse, Ämter-Kehricht / Mandarine der Konzerne / – du dazwischen ortlos zappelnd / Köder von ZK und Wallstreet.«

Rolf Hochhuth ist, wie soll man sagen, zwar weltberühmt, aber nicht eben einer der Hellsten, und im Sonnenschein seiner Berühmtheit dichtet er seit Jahrzehnten so vor sich hin: »Zu entnervt, um nur zu fragen / wer dich kreiselt und verschleißt / ferngelenkt nach einem Kursbuch / dessen Chiffren niemand kennt.« In einem hochnotpeinlichen, an den Spiegel gerichteten Leserbriefgedicht über den Holocaust hat Hochhuth sich kürzlich abermals als Lyriker in Erinnerung gebracht, und wenn nicht alles täuscht, ist es höchste Eisenbahn, den Rolf-Hochhuth-Preis für gequirlten Quark auszuschreiben, im Geiste des Meisters, der einst gedichtet hat: »Friede, Gesundheit sind Zonen / des Neides, der Rachsucht, der Gier. / Erfolge, Schönheit, Applaus / locken Unfälle, Krankheiten, Frauen / und Politik an wie ein Vampir, // Der, was Familien erbauen, / leersaugt oder wegschleppt als Beute. / Wer kann sich dem Schicksal entziehen? / Lebe! – doch wisse auch heute: / Bett und Tisch sind nur jedem geliehen.«

Irgendwie zum Ausdruck bringen wollen hatte Hochhuth in diesem Gedicht vermutlich, dass Bett und Tisch »jedem nur geliehen« seien, opferte diesen ohnehin kargen Gedanken jedoch dem selbst verordneten Rumpeldipumpel-Rhythmus, und so kam es zu dem sonderbaren Ratschlag, man solle sich merken, dass Bett und Tisch nicht etwa uns allen geliehen worden seien, sondern »nur jedem«, also eben doch uns allen.

Und auch der Rest ist Quark, der sich als Gesellschaftskritik spreizt: Denn wen möchte Hochhuth anklagen, wenn es nach seiner eigenen Aussage die Erfolge, die Schönheit und der Applaus sind, die in Vampirgestalt die Unfälle, die Krankheiten, die Frauen, die Politik und das von den Familien Erbaute anlocken, leersaugen oder wegschleppen? Die Erfolge, die Schönheit und den Applaus?

Höchste Zeit, den Rolf-Hochhuth-Preis für gequirlten Quark auszuschreiben. Darum bewerben kann sich jeder, der bis zum 1. September 2005 ein mehrstrophiges, möglichst schlecht gereimtes und möglichst holperiges Gedicht über irgendein zeitgeschichtliches oder sozialpolitisches Sujet an folgende Adresse einschickt: Die Wahrheit, taz – die tageszeitung, Kochstraße 18, 10969 Berlin, Stichwort: »Quark«.

Dotiert ist der Rolf-Hochhuth-Preis für gequirlten Quark mit neun Euro 99 und 250 Gramm Kräuterquark, und verliehen wird er der glücklichen Gewinnerin oder dem glücklichen Gewinner am Stand der taz auf der diesjährigen Frankfurter Buchmesse. Alleiniger Juror ist Gerhard Henschel. Der bekannte Lobredner Oliver Maria Schmitt wird die Laudatio halten.

Also dichten Sie bitte. So gequirlt wie der olle Hochhuth! Können Sie das?

Gerhard Henschel (19.5.2005)

Gurke des Tages

Bei Wirtschaftsjournalisten fragt man sich manchmal, was dröger ist: ihr Thema oder sie selbst. Dabei bemühen sich Wirtschaftsjournalisten immer um eine lebendige, farbige und metaphernreiche Sprache. Und schreiben über »Lufthansa-Aktien im Steigflug«. Oder melden wie gestern die Ticker-Sherpas der Nachrichtenagentur AP: »Deutscher Automarkt nimmt Fahrt auf.« Wie sieht das wohl aus, wenn ein ganzer Markt Fahrt aufnimmt? Und wo fährt der Markt dann bloß hin? Sicher dorthin, wo die wilden Metaphern wachsen.

(15.6.2005)

Sommer des Scheidewegs

Neues von der beliebtesten Weggabelung der Welt: Dichtes Gedränge im Juni

Alle paar Wochen schauen wir uns am Scheideweg um, was so los ist und wer neu eingetroffen ist an der beliebtesten Wegkreuzung der Welt. Und üblicherweise schreiben wir dann einen kleinen Monatsbericht, der oben auf der Wahrheit-Seite seinen Platz findet. Doch in diesem Sommer ist alles anders. Wahlen stehen an, eine Krise soll stattfinden – und als Resultat ist der gute alte Scheideweg so überfüllt wie lange nicht mehr.

Dabei beginnt es recht harmlos mit einem Kommentar des europapolitischen Sprechers der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Peter Hintze, zur Ablehnung der EU-Verfassung in den Niederlanden: »Europa am Scheideweg«, meldet der in seiner Fraktion »Pfarrer Baldrian« genannte Hintze am 2. Juni den oft und gern am Scheideweg gesehenen Gast Europa, der von den übrigen Scheidewegelagerern mit lautem Hallo begrüßt wird. Zu denen beispielsweise der FC St. Pauli und der KFC Uerdingen zählen, wie dpa am 6. Juni entdeckt: »Auf Grund ihrer finanziellen Schieflage stehen der FC St. Pauli und der KFC Uerdingen nach dieser Saison am Scheideweg.« Schieflagen haben schon öfter an den Scheideweg geführt. Es verwundert daher nur wenig, dass wieder einmal der Dauergast Irak am Scheideweg eintrifft, wie der designierte US-Botschafter in Bagdad, Zalmay Khalilzad, am 7. Juni bemerkt: »Der Irak steht am Scheideweg.«

Doch jetzt kommt es ganz schlagzeilendick: »System am Scheideweg«, betitelt Die Welt am 11. Juni eine Beilage. Steht tatsächlich das ganze Schweinesystem am Scheideweg? Nein, zum Glück handelt es sich nur um das Gesundheitssystem, das zwar enorm viel Platz beansprucht, aber zumindest etwas Raum für andere Bewohner lässt.

Der auch dringend notwendig ist. Denn am 14. Juni treffen die ganz dicken Brieftaschen ein: »Deutsche Banken am Scheideweg«, titelt die Süddeutsche Zeitung. Inzwischen gibt es ein heftiges Geschiebe um den verbliebenen Restplatz am Scheideweg, mit den Banken jedoch sind wenigstens alle Sorgen ums Geld am Scheideweg verflogen.

Dass dann mit Beginn des Confed-Cups »Rehhagels EM-Helden am Scheideweg« auftauchen, wie dpa am 17. Juni berichtet, irritiert längst niemanden mehr. Die griechischen Defensivfußballer sind eine echte Bereicherung in der mittlerweile Schulter an Schulter an der Kreuzung ausharrenden Masse. Tore durch die Griechen fallen allerdings nur wenige.

Dann kommt Deutschland! Wie immer mit aller Wucht und mit der designierten Kanzlerin Angela Merkel, die der FAZ am 24. Juni ein Interview gibt, das die alten Frankfurter Zeitungshasen munter auf die Seite eins nageln: »Deutschland steht am Scheideweg«, brüllt die Schlagzeile hinaus, und allen bereits am Scheideweg Eingetroffenen bleibt nun doch die Luft weg. Das dicke Deutschland auch noch, geht ein Stöhnen durch die Reihen, und erstmals ist ein leichter Widerwille zu spüren: Man könne doch nicht jeden an den Scheideweg lassen, und wenn schon, dann lieber die CDU-Kandidatin allein. Grimmig skandieren die Scheideweg-Bewohner: »Merkel an den Scheideweg!«

Genützt hat es nichts. Aber wir beobachten die beliebte Weggablung weiter, und demnächst werden wir dann auf eine ganz besondere rhetorische Leistung eingehen: »Das ist ein erster Schritt in die richtige Richtung.« Gibt es auch erste Schritte in die falsche Richtung? Wahrscheinlich nur am Scheideweg.

Michael Ringel (6.7.2005)

Wenn alle Stricke reißen …

Die Literatur des Landes Gordien ist reich an überaus verwickelten Problemen

»Tertium non datur«, heißt es am Schluss von »Tao«, dem neuesten Roman von Literaturnobelpreisträger Ronato Kentzo, der damit seine unstillbare Hassliebe zum eigenen Land zur Sprache bringt: Man kann Gordien abgöttisch lieben oder es in die Hölle wünschen – eine dritte Möglichkeit gibt es nicht.

Zum ersten Mal wird in diesem Jahr Gordien und seine Literatur auf der Frankfurter Buchmesse vertreten sein. Das gab am vergangenen Dienstag der Börsenverein des Deutschen Buchhandels bekannt und begrüßte zugleich den »starken Geschäftsstrang, der zwischen Frankfurt und Gordo geknüpft worden ist«. Und niemand repräsentiert den typisch gordischen Geschäftssinn so wie Ronato Kentzo.

Kentzos Beziehung zu Gordien gleicht der seiner ewigen Hauptfigur Ombert Ecu. Ecu, Olympiaberichterstatter und glückloser Verfasser historischer Sportromane, der seit »Gjorcje è Tisku« (dt. »Der Knoten im Taschentuch«, Ullstein, 1997) Leser auf der ganzen Welt bezaubert, liebt die Schönheiten des Landes: die kühlen Sundischen Wälder, die heißblütigen Gordierinnen, die Strecke der Transgordischen Eisenbahn und die glorreiche olympische Vergangenheit der »Kordeln« – wie die Gordier sich selbst nennen.

Im Telefongespräch mit dem Autor dieses Textes sagte Kentzo, der wegen eines endlos-verworrenen Strafprozesses um seine angebliche Verstrickung in eine Seilschaft zur Geldwäsche derzeit das Land nicht verlassen darf: »Nie werde ich Gordien, diesem innigst geliebten Land mit dem Knoten in der Flagge, wohl lebend mehr den Rücken kehren, und ich fürchte, der Grund für meinen frühen Tod werden ebendieses so traumhafte wie traumatisch an sich selbst leidende Land und seine engstirnigen, wenngleich liebenswerten Bewohner sein.«

Das hinter Tetschikistan gelegene, in seinem innersten Wesen bereits asiatische Gordien, von einer einzigen, oft durch riesige Mufflonherden blockierten Bahnstrecke durchzogen, hat sich seit dem Zerfall des Sowjetimperiums nur unwesentlich entwickelt. Ein wiedererstarkter orthodoxer Klerus und eine korrupte Clique um den demokratisch gewählten Staatspräsidenten Raoul Klitschnienko hintertreiben erfolgreich jede Modernisierung. Gordien trägt in Kentzos Romanen den sprechenden Namen »Knotjestan«: Es ist ein notorisch verknotetes Land.

Landwirtschaft und Fabrikseilerei, einst prosperierende Wirtschaftszweige, leiden seit Jahren unter der Knäuelmotte, die das Hanfgras zur Kordelherstellung unbrauchbar macht; eine tückische Baumkrankeit dezimiert die Sisal-Algarve, die den Grundstoff für Spezialseile aller Art liefert. Der Anstieg der Arbeitslosenzahlen wird durch die hohe Selbstmordrate kaum gebremst. Allein im vergangenen Jahr griffen rund 100.000 Gordier zum Strick, während in der Hauptstadt Gordo ein durch Gelder aus China finanzierter milliardenteurer Präsidialpalast und 15 kolossale Ministeriengebäude eingeweiht wurden und die Präsidentenfamilie Urlaub auf den Kordelieren machte.

Einzig in den Romanen des Ronato Kentzo findet sich derzeit ein anderes, ein euphorisches, sinnentaumelndes Gordien – bezeichnenderweise in der Welt des vergangenen olympischen Ruhms von 1924, als die gordische Nationalmannschaft mit Konstantin Jekow an der Spitze beim Tauziehen Griechenland besiegte. Durch seinen ergreifenden Kommentar zum olympischen Finale wird der kleine Sportreporter Ombert Ecu zum Nationalhelden: »Zieht, ihr Helden, zieht, mythische Gordier, packt das Tau der Erniedrigung bei den Knoten, zieht Gordien ins Licht der neuen Zeit! Reißt sie um, die Nachfahren des spöttischen, platten Alexander, der gegen unseren gordischen Tiefsinn, gegen den ehrbaren gordischen Knoten in unserer vorderasiatischen Volksseele, einst das schnöde Schwert gebrauchte! Hier helfen ihnen keine Schwerter, hier hülfe nur die schiere Zugkraft. Doch die haben sie nicht. Die fehlt ihnen. Zieht, gordische Brüder, zieht Gordien zum Sieg, zieht unser Gordien zur Freiheit!«

Gerade diese Zeilen würdigte 1979 das Nobelpreis-Komitee in Stockholm, als es Ronato Kentzo ehrte, der in seiner Dankesrede der gordischen Literatur ein Denkmal setzte: »Mit den gordischen Literaten ist es wie mit den Pflanzen in einem Treibhaus, dessen Bewässerungssystem zerstört ist. Sie stehen noch in vollem Saft und ahnen nicht, dass kein Wasser mehr kommen wird. Die verdorbene, von Geld- und Machtgier korrumpierte Politik wird an ihrem Tod schuld sein, wie sie auf kurz oder lang den Untergang Gordiens herbeizuführen droht.«

Möge deshalb die Präsenz von 25 belletristischen und 475 Fach-Verlagen auf der Frankfurter Buchmesse die Schlinge lockern helfen, die sich um den Hals der gordischen Hochliteratur zu schließen droht. Denn: »Wenn alle Stricke reißen«, erklärt Ronato Kentzo mit gebotener Schärfe, »hilft nur … – Literatur!«

Tom Wolf (24.9.2005)

399
575,26 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
399 стр. 16 иллюстраций
ISBN:
9783941895768
Редактор:
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают