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c. Noordmans und die Konfession

Mit meinen Bemerkungen zur Dynamik des Wortes, das zur schöpferi­schen Kraft im Menschenleben wird, habe ich schon auf eine wichtige Innovation aufmerksam gemacht, die Noordmans in seiner Auslegung des niederländischen Glaubensbekenntnisses (Confessio Belgica, 1561) entfaltet. Das Ziel des göttlichen Wortes in der Welt ist, dass das Bild Gottes vom Menschen an den Tag kommt. Das Evangelium ebnet dafür den Weg, indem es den Erstgeborenen der neuen Schöpfung, Jesus Christus, zeigt. Noordmans korrigiert das traditionelle Denken über die Ordnung von Schöpfung und Vorsehung, indem er geltend macht, dass unsere Erkenntnis ihre Kraft erst von der Aufmerksamkeit für den Ge­kreuzigten her entfalten kann. Dort, in seiner Nähe, formt sich ein neues Bild vom Menschsein. Und darum heisst Schöpfung bei Noordmans «ein Lichtfleck um das Kreuz herum» (VW 2, 245). In meinem letzten Para­graph komme ich auf diesen innovativsten Punkt in Noordmans᾿ Theolo­gie zurück. |60|

4.3 Offenheit für säkulare Einsichten

Auch der dritte Punkt der reformierten Geisteshaltung, Offenheit für Weisheit und Einsicht ausserhalb der Welt von Glauben und Theologie, war Noordmans nicht fremd. Philosophie und Weltliteratur waren in seiner Bibliothek in reichem Masse vertreten. Seit dem Anfang seiner theologischen Entwicklung schrieb er über Philosophen wie Descartes, Pascal und Heidegger. Sein Gesamtwerk ist voll von Hinweisen auf grosse Literatur. Charaktere aus der Literatur kommen in seinen Werken auf zwanglose und spielerische Art und Weise vor. Sie dienen nicht dazu, der theologischen Arbeit eine kulturelle Farbe zu geben, sondern sollen die Einsicht vertiefen. Besonders Autoren wie Goethe, Cervantes, Dickens und Dostojewski werden angeführt. Ich nenne hier als Beispiel Dosto­jewski, von dessem Literatur sich Noord­mans in seiner Theologie beleh­ren lässt. Ich wähle ihn, da Noordmans bei Dostojewski die beste Illustra­tion für die Theologie von Karl Barth fand. Noordmans schreibt: «Die Charaktere in Dostojewskis Romanen sind, abgesehen von einigen Aus­nahmen, alle doppelt. Sie sind nicht Sünder oder Heilige wie bei Dickens, sondern Sünder und Heilige zugleich.» Dostojewski kennt die dunkelsten Ecken des Lebens, «aber er kennt sie zweimal, und aus dem Finstern ruft er sie auf nach ihrer ewigen Bedeutung» (VW 3, 590). Der folgende Ab­schnitt zeigt Noordmans᾿ Vertrautheit mit den Kerneinsichten aus Dos­tojewskis Romanen und macht anschaulich, wie er in jenem Licht die Theologie von Karl Barth belauscht.

«Er [Dostojewski, A.vdK.] geht ganz tief auf das Seelenleben seiner Per­­sonen ein. Er wirft das Ganze über den Haufen. Und doch zeigt er uns keine stetige Charakterentfaltung. Sie haben nicht einen Kern in ihrem Leben, einen guten oder bösen, der sich entwickelt, so dass ihre Per­sönlichkeit zu etwas Gutem oder Bösem heranwächst und sie Gott oder dem Teufel gleichförmig werden. Sie werden nicht logisch be­handelt. Nicht stetig weitergedacht. Ihr Leben ist nicht stetig.

Aber wenn Dostojewski sie gelockert hat, wie man ein Stück Land mit einem Pflug lockert, wenn man gut gesehen hat, dass es Menschen sind und nicht mehr, wenn er ihr Herz, und ich sollte fast sagen, ihr Fleisch aufgerissen hat, dann lässt er manchmal etwas geschehen, wo­rin wir mit Überraschung entdecken, dass der Mensch einen Schöpfer als Gegenüber hat, dass der Sünder einem heiligen Gott gegenüber steht und der Verlorene einem Erlöser. So beschreibt Dostojewski die |61| Menschen nicht, um sie zu vergöttlichen, sondern um Gottes Offenba­rung an ihrem Leben zu zeigen. Das ist die dialektische Methode. Wir können mit unserem Denken und Entwirren, Analysieren, nur Fragen stellen, die Wahrheit muss aus dem Jenseits kommen. Sie führt nicht vom Menschen zu Gott, sondern sie macht den Menschen erst recht zum Menschen. Sie erklärt all das Göttliche, das er in sich selbst zu ha­ben meint, für falsche Münze, sie macht alle Menschen in jeder Hin­sicht gleich, um den Grund für Gottes Offenbarung zu schaffen, für die Wirkung seines Geistes. Durch dieses Beispiel von Dostojewski ist uns jetzt wohl auch deutlich, dass die Dialektische Theologie, obschon sie selbst lebhaft argumentiert, keine Argumentier-Theologie sein will. Dialektik ist immer mehr als das ordentliche Logische, auf die Wirklich­keit gerichtet. Kierkegaard nannte es ‹existenzielles› Denken. Existenz­denken. Denn die Personen von Dostojewski werden nicht ausgedacht, auch nicht zu Ende gedacht […], sondern das Geheimnis ihrer Existenz wird so tief wie möglich ausgeschöpft. Dort irgendwo auf dem Boden der Wirklichkeit hat man dann eine Chance, etwas von Gottes Offen­barung zu sehen. Ungefähr so will auch Barth theologisieren […].» (VW 3, 620)

4.4 Praktische Ausrichtung

Der niederländische Theologe Gerrit Neven hat in seiner Dissertation über Noordmans dessen Theologisieren als «scientia practica» typisiert, was dem vierten von Gerrish genannten Punkt entspricht.22 Gerrish be­hauptete, dass der reformierte Theologe nicht nur Gedanken produziert, sondern auch «wohldurchdachte Handlungen». Alle theologische Arbeit von Noord­mans᾿ ist darauf ausgerichtet, Orientierung für Probleme des Gemeindelebens und für Situationen, in denen Christen sich befinden, zu geben. Er schreibt gleichsam mittels eines Umweges über historische Un­tersuchungen auf die kirchlichen und sozialen Verhältnissen hin. Diese auf das konkrete Leben gerichtete Arbeitsweise ist tief in seiner pneu­ma­tologischen Sichtweise verankert. Das Evangelium bleibt toter Buchstabe, bis es ins Leben aufgenommen ist und dort wirkt. Es geht darum, dass Menschen einen Weg gezeigt bekommen, wie sie im Leben Anschluss an Weg und Werk des Heiligen Geistes bekommen. Das gibt der Arbeit von Noord­mans einen stark pädogogischen Einschlag. So lie­fert er zum |62| Beispiel eine Sicht des Lebens als «Teilen» in einer Bespre­chung des Buches «Terre des Hommes» des Autors und Piloten Antoine de Saint-Exupéry. Dieser erzählt von seiner Rettung nach einer Notlan­dung in der Wüste, die ihm wegen Wassermangels beinahe das Leben gekostet hätte. In dieser Situation lernt der Autor, dass Leben Teilen bedeutet. Noord­mans notiert dazu:

«Das Leben ist ein Symposion, ein Konvivium, das mit viel leichteren Tönen gespielt werden muss. Selbst das Wasser in der Wüste – so der Autor – ist es nicht selbst. Denn warum sollten wir es dann mit so viel Freude teilen? ‹Le plaisir véritable est le plaisir de convive.› Das Lä­cheln, womit die Retter es herantragen! Dabei fühlte der Autor sich glücklich!» (VW 4, 487)

4.5 Diener des Wortes: «Reden wie aus Gott»

Bei diesem letzten Punkt scheint das Wesentlichste der reformierten Identität angesprochen, nämlich, dass man jemand ist, der für Gott in der Welt spricht. Und das, weil er oder sie nicht anders kann. Hier steht die gan­ze Existenz der Person auf dem Spiel. Von den Bemerkungen von Gerrish ausgehend, fällt mir Noordmans᾿ Typierung der Existenz des Pas­­to­ren/Theologen ein: die Existenz einer homuncio quispiam (VW 5, 379; 6,20), ein aus dem Staub gezogener Mensch, der etwas von Gott zu er­zählen hat. Und der dies kann wegen der Erfahrung der Freiheit in seiner durch Christus gerechtfertigten Existenz. Dies sind Worte, die Noord­mans von Calvin entlehnt. Es geht in dieser Zeichnung der Exis­tenz um Echtheit. Um einen Menschen, der so spricht, dass aller Schein verschwun­­den ist. Es ist ein Reden, in dem – mit einem Lieblingsaus­druck von Noord­mans gesprochen – Gott die Grenze ist. Es geht nicht darum, der Welt Informationen über Gott zu geben. Es geht darum, für Gott in der Welt zu leben und zu reden; mit Gott und dank Gott.

Gerrish verweist im Zusammenhang mit dem fünften Punkt auf Jer 20,9. Noordmans führt den Text in einer Predigt zu einem Pauluswort in 2Kor 2,17 ebenfalls an. Dieser Text besagt: «Wir jedenfalls sind nicht wie die vielen, die das Wort Gottes zu Markte tragen; lauter und klar, aus Gott und vor Gott, reden wir – in Christus.»

Was wird damit gesagt? Ich zitiere ein kurzen Abschnitt aus einer Predigt Noordmans᾿: |63|

«Wenn wir durch die Türen eines Menschenherzes eintreten, dann können wir von Zimmer zu Zimmer gehen, zurück und zurück. Und wenn wir dann nach dem, was dort verborgen liegt, suchen, dann kann kein Philosoph oder Gelehrter das finden. Dann liegt da Gottes Wesen als die Quelle, woraus alles fliesst. Wer kann beschreiben, was für ein herrlicher Trost es ist, wenn von dort her die Worte kommen. So fühlte Jeremia sie kommen, als er sagte, dass er sie wie ein Feuer in seinem Innern fühlte (Jer 20,9). Reden wie aus Gott, bezeugen […]. Und auch wenn alles nicht so gewaltig ist: Bei den Aufrichtigen kann doch dieselbe Erfahrung gemacht werden, dass ihre Worte aus Gott ge­redet sind. Solche Worte sind rein, fein und lauteres Gold. Es braucht nicht hoch zu sein, aber es muss echt sein» (VW 7, 161; Her­vor­­­hebung A.vdK.).

Lässt sich mit diesen fünf Annäherungen an Noordmans mit Hilfe von Gerrishs «reformierter Geisteshaltung» etwas anfangen für ein Profil re­formierter Identität im 21. Jahrhundert? Zuhörend zu denken; sich kritisch zur Tradition zu verhalten, aufmerksam dafür zu sein, dass das Heil des Evangeliums nicht verkürzt wird; sensibel zu bleiben für die Einsichten, die durch Zeitgenossen in anderen Welten von Kunst und Literatur arti­kuliert werden; praktisch zu sein im Sinne eines Tastens danach, wo im Leben selbst das Evangelium hörbar wird; und Echtheit im Reden für Gott in dieser Welt zu suchen. Alle diese Kennzeichen haben ihren Grund in dem, was Gerrish im Korintherkommentar Calvins gezeigt hat: Christus anhaften. Wir haben gehört, dass dies für Noordmans eine erkenntnisthe­oretische Dimension hat: In der Nähe des Gekreuzigten wird offenbar, was Menschsein ist. Im Folgenden meine letzten Bemerkungen zu Noord­mans᾿ theologischen Reflexionen zu diesem zentralen Punkt.

5. Noordmans’ Beitrag zur Theologie des 20. Jahrhunderts: der kritische Schöpfungsbegriff

Jeder von Noordmans verfasste Text ist ein Beispiel von Traditionsbil­dung im Kontext des 20. Jahrhunderts. Der innovativste Punkt dieser Tra­di­tions­bildung ist, wie gesagt, Noordmans᾿ Erneuerung des Schöp­fungs­­be­griffes. In diesem Begriff konzentriert sich seine Aufmerksamkeit auf das |64| Wirken des Geistes als Spiritus Creator. Noordmans führt ein neues theologisches Denken ein, in dem die Schöpfungslehre, die Lehre vom Heil in Christus und die Lehre von der Neuschöpfung im Verständ­nis des Wirkens des Geistes gründen. In diesem Wirken des Geistes ist das Kritische und Schöpferische des Gotteswortes in der Welt wirksam. Der Schöpfungsbegriff hat Noordmans zufolge seine Herkunft nicht in einer Erfindung (er ist nicht «thetisch»), sondern in einem Urteil (es ist «kri­tisch»).23 Schöpfen ist, so Noordmans, nicht etwas herstellen, sondern scheiden.

Gott ist kein Töpfer, weil er Gefässe herstellt und modelliert, sondern weil Er scheidet zwischen dem einen und dem anderen Gefäss (Röm 9,21). Schöpfen ist Scheiden, kein Formen. Gott ist Geist, und Er wirkt durch Urteile. (VW 255)24

Der kritische Schöpfungsbegriff besagt, das Gott in dieser Welt das Dä­monische und das Humane auseinanderhält (was in menschlicher Ethik immer durcheinandergerät) und auf diese Weise das Menschenleben zu Gottes Zukunft, zu Gottes Reich, führt und darin bewahrt. Neuschöpfung im Geist ist damit keine Restauration (wie im Neocalvinismus), sondern ein neues Werk Gottes im Geist. Die Arbeit des Geistes ist göttlicher Un­terricht, um Menschen zu lehren, was Schöpfung ist. Dieser Unterricht fängt Noordmans zufolge in der Nähe des Kreuzes Jesu Christi an.

In «Neuschöpfung» sieht man, wie Noordmans die Schöpfung als ei­nen Lichtpunkt rund um das Kreuz beschreibt und damit ein urchristli­ches Motiv aufnimmt, das den Akzent der Reformation auf der theologia crucis verstärkt. Gleichzeitig vermeidet er damit, dass diese – wie in der erfahrungsorientierten Theologie des 19. Jahrhunderts – auf ein Wort reduziert wird, das nur das Innere des Menschen berührt. «Christus an­haften», die grundlegende Geisteshaltung, die Gerrish bei Calvin ver­deutlichte, bekommt hier ihre tiefe Bedeutung.

«Die Schöpfung, die die Wissenschaft behandelt, ist nicht die eigentli­che Schöpfung. Sie ist eine Abstraktion. In der wahren Schöpfung be­gegnen wir der Sünde und dem Leiden und dem Tod, die zum Jesus |65| des Apostolischen Glaubensbekenntnisses passen […] Wenn wir die Schöpfung nicht als ein abgeschlossenes Ganzes nehmen, sondern sie eng mit Christus verbinden, so wie wir das Evangelium mit dem Hei­ligen Geist in Verbindung bringen, dann wird sie kein düsteres Chaos oder ein selbstherrlicher griechischer Kosmos, sondern ein Lichtfleck rund um das Kreuz. Und in diesem Fleck wird dann die Sünde offen­bar […]. Dass Schöpfung ein kritischer Begriff ist, lehrt uns die Bibel selbst. Sie beginnt damit, aber ohne uns weiter etwas davon zu erzäh­len. Sie sagt nur, dass alles gut war. Damit haben wir dann einen Mass­stab in Händen, um zu erkennen, dass alles gefallen ist […].» (VW 2, 245f.)

Im Reden über Neuschöpfung wird unterstrichen, dass erst in der Nähe des Gekreuzigten offenbar wird, was Schöpfung ist. Noordmans nennt die Worte Jesu am Kreuz «Schöpfungsworte». Sie reden von einer Welt, die ex nihilo geschaffen wird. Ein Mörder wird eingeladen ins Paradies. Theologisch ist hier gesagt, dass der erste Satz des Glaubensbekenntnis­ses, nämlich: «Ich glaube an Gott dem Schöpfer», vom zweiten her aus­ge­legt werden muss. Mit dieser Umstellung stellt sich Noordmans gegen ein un­fruchtbares Ursprungsdenken und gegen eine ungebrochene Schöp­­fungs­theologie, wie er sie im Neocalvinismus von Abraham Kuyper antraf. Diese Umstellung ist laut Noordmans aufgenommen in einer tri­nitarischen Bewegung: «Die Evangelien verkündigen uns ein neues trini­tarisches Werk, und von Golgotha her sehen wir die Schöpfung besser als vom Paradies her.» (VW 2, 412)

Wenn man sehen will, was geschieht, wenn ein Theologe mit einem Schöp­fungsbegriff arbeitet, der seine Bedeutung vom Kreuz her be­kommt, dann muss man Noordmans᾿ Meditationen lesen (VW 8). Dort sieht man den Begriff «wirken». Sein Schöpfungsbegriff (lies: seine Neu­in­ter­pretation des altkirchlichen Dogmas) ermöglicht Noordmans eine neue Perspektive auf den Text der Bibel. Noordmans liest diese Texte auf die Zukunft hin. Er zeigt das Schöpferische im Text. Als Beispiel sei hier hingewiesen auf eine Meditation zu Gen 12,1 mit dem Titel «Der fah­rende Ritter». Der fahrende Ritter ist Abraham, dessen Profil hier ge­zeichnet wird im Vergleich mit Don Quichotte aus Cervantes’ Roman (vgl. meine Be­merkungen oben in 4.3). Noordmans unterstreicht Abra­hams Umher­streifen und seine Grosszügigkeit gegenüber seinem Neffen Lot. Wir hören: |66|

«Abrahams Leben richtet sich vollständig auf das andere Land, das Gott ihm zeigen wird. Eigentlich lesen wir von ihm keine Lebensge­schichte. Es ist vielmehr eine Geschichte seines Glaubens. Als Lebens­geschichte kannst du mit einer Kugel hindurchschiessen. Ganz anders als bei seinem Enkel Jakob. Wir kennen Abrahams Leben nur als ein Skelett. Er tut nichts anderes, als sich zu trennen. Sich trennen von sei­nem Vater, von seinem Neffen Lot (Gen 13,9), von Hagar (Gen 21). Was sind das für leere Räume, die dazwischen entstehen? Wie soll man sie nennen? […] Abraham hatte seinen Frieden damit. Er war sich der Dynamik dieser leeren Räume in seinem Leben bewusst. Er wusste, dass Gott leere Räume braucht, um schaffen zu können, und dass es sich mit dem Glauben genauso verhält. Darin fand er den Mut, sich immer wieder zu trennen. Abraham wird der Vater der Gläubigen genannt. ‹Der Glaube aber ist die Grundlegung dessen, was man er­hofft, der Beweis für Dinge, die man nicht sieht› (Hebr 11,1). […] Ab­raham blieb in der Leere, d. h. im Glauben […].» (VW 8, 183f.)25

Die erzählte Geschichte weist uns nicht zurück in eine Urzeit, sondern nach vorn zum Leser in der eigenen Zeit. Die Geschichte erzählt von einer Möglichkeit des Menschseins, einem Menschsein, das durch Treue be­stimmt ist. So setzt die Geschichte den Leser auf die Spur dessen, was gut ist und Zukunft hat.

Auch diese Meditation ist Traditionsbildung. Man spürt hier Noord­mans᾿ Liebe zur Romantik. Diese äussert sich in der Aufmerksam­keit für die Partikularität. Man findet das vor allem in Noordmans᾿ Hin­weisen auf konkrete Ereignisse in der erwähnten Genesisgeschichte: den (nicht an­genommenen) Schuhriemen (Gen 14,23); das Nichtgebundensein eines Menschen an Zeit und Raum. Aber Noordmans bleibt nicht im Ro­man­ti­­­schen stecken. Inmitten dieser Konkretheit steht die Entdeckung, was Glauben ist: Leben in der Leere, offen für die Stimme, die spricht. Diese Leere ist von Gott. Und damit steht sie der nihilistischen und exis­ten­tia­lis­ti­schen Leere entgegen, in der der Leser sich befindet. Es ist eine Erzäh­lung |67| darüber, wie das neue Menschsein zustande kommt, und da­mit sagt sie noch einmal etwas Wichtiges zum Thema reformierte Identi­tät.

Fazit: Mit seinem pneumatologischen Ansatz hat Noordmans einen wich­tigen Beitrag zum Durchdenken des Themas «Reformierte Identität» ge­liefert. Wie erwähnt ist in seinem theologischen Denken die Anthropolo­gie in der Pneumatologie aufgenommen. Reformierte Identität heisst: dyna­­mische, geistgewirkte Identität. Sie entsteht in der Glaubensent­schei­­­dung, mitten im Leben – die aktive Seite. Sie zeigt die schöpferische Wir­kung des Gotteswortes im Leben des Menschen und der Welt – die passive Seite. Der pneuma­tolo­gische Ansatz besagt, dass der Mensch viel mehr ist als eine (aristotelisch/cartesianisch verstandene) Selbstreferen­tia­lität, weil er im Kraftfeld des Geistes existiert, Christus anhaftend: kö­nig­lich, prophetisch, priesterlich. Reformierte Identität heisst beteiligt sein an der Neuschöpfung, der Umsetzung aller Dinge – der Geburt von Gottes Welt.

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II. Reformierte Identität im Kontext von Natio­nalsozialismus und Kaltem Krieg

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«Der ausgesprochenste Reformierte in Deutschland»1

Reformierte Identität im Kirchenkampf und im Kalten Krieg: Wilhelm Niesel (1903–1988)*

Hans-Georg Ulrichs

1. Wilhelm Niesel: Repräsentant des deutschen Reformier­tentums in globalen Kontexten

Nur wenige Wochen vor seinem Tod im Jahr 1988 erhält Wilhelm Niesel zu sei­nem 85. Geburtstag einen offi­ziellen Ge­burtstagsgruss der deut­schen Refor­mi­erten durch den da­maligen Modera­tor des Reformierten Bundes, Hans-Joa­chim Kraus: Niesel «hat uns bewusst gemacht, was ‹re­formiert› heisst: Das Wort, das Wort und nichts als das Wort!»2 Dieser Gruss spiegelt möglicher­weise mehr das Selbstverständnis des Geehrten wider als die Wertschätzung, die ihm gewiss auch zukam – und na­tür­lich haben sich die Reformierten auch unter Niesels Führung mit zahlrei­chen an­deren Din­gen |72| beschäftigt als mit dem «Wort» allein. Auf jeden Fall lässt dieser Geburtstagsgruss ahnen, dass Niesel bereits zu Leb­zeiten über Jahrzehnte hin als die Per­soni­­­fi­­­zierung des reformierten Pro­tes­tan­­tis­mus in Deutsch­land galt und in der Retrospektive als der ein­flussreichste Re­präsentant dieser Konfession zu identifizieren ist. Durch sein ökume­ni­sches Enga­ge­ment auf globaler Ebene und seine bald füh­rende Mitarbeit im Re­for­­mier­­­­ten Weltbund (RWB), die von seiner Präsi­dentenzeit 1964–1970 gekrönt wur­de, wurde diese Einschätzung auch weltweit geteilt. Kaum jemand galt in der reformierten Weltfamilie in der zweiten Hälfte des 20. Jahr­hun­derts als so reformiert wie Wilhelm Niesel. Bezeichnender­wie­­se schrieb etwa nach Nie­sels Ehrenpromotion 1954 der Dekan der theologischen Fakultät Aber­deen an Niesel, er sei in Schottland will­kommen, «weil Sie die refor­mier­ten Brüder aus ganz Deutschland würdig repräsentieren».3 Und so wurde aus dem «Eisernen Wilhelm», wie er respektvoll in Deutsch­land ge­nannt wurde, der «Welt-Wilhelm».4

Niesel ist eine bemerkens­werte Figur innerhalb der neueren refor­mier­­ten Kirchengeschichte, deren Weg zu kennen für die Beurteilung dieses zur Rede stehenden protestan­tischen Formats erhellend ist.

Niesel verdiente sich durch seine wissenschaftlichen Arbeiten und die persönliche Nähe zu Karl Barth seine theologischen Sporen kurz vor dem und im «Dritten Reich» und sammelte kirchenpolitische Erfahrungen – freilich bis hin zu lang anhaltenden «Traumatisierungen» – während der Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Führend tätig und da­mit auch konfessionspolitisch prägend wurde Niesel trotz seines relativ jungen Alters gleich nach 1945, also in einer «durch einen eisernen |73| Vorhang ge­trennten Welt»5, die er – gerade wohl auch als geborener Ber­­li­­­ner – schmerzhaft wahrnahm. Die totalitären Diktaturen und dann die in Ost und West zerrissene Welt liessen in ihm die Gewissheit wachsen, dass die Menschen zwar «in der noch nicht erlösten Welt» (Barmen V) leben, aber Christen eben in dieser Welt die Befreiung erfahren, indem Jesus Christus Zuspruch und Anspruch auf das ganze Leben ist (Barmen II).

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9783290177355
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