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2. Die fünf Punkte der reformierten Geisteshaltung

Die Frage, die uns nun weiter führt, lautet: Wie soll man unter Berück­sichtigung der erwähnten Dynamik das Profil Noordmans᾿ als refor­miertem Theologen beschreiben? Ich tue dies mit Hilfe der fünf Kennzei­chen der reformierten Geisteshaltung, die der amerikanische Theologe Brian Gerrish in einem Buch über die «Zukunft der Reformierten Theolo­gie» vorgestellt hat.4 Diese Kennzeichen lassen sich als Interpretations­hil­fe für Noordmans᾿ Theologie benutzen. Gerrish argumentiert, dass Cal­­vin in seiner Institutio keine vollständige Liste von reformierten Glau­bens­­­arti­keln erstellt habe, sondern nur einige erwähnt, die allerdings notwendig seien: «Es ist ein Gott, Christus ist Gott und Gottes Sohn, unser Heil be­steht in Gottes Barmherzigkeit.»5 In seinem Kommentar zu 1Kor 3,11 unterstreicht Calvin sogar, dass es nur eine elementare Lehre gebe, die nicht aufgegeben werden darf, nämlich dass wir Christus anhaften, da er das einzige Fundament der Kirche ist.6 Dies ist aber letztlich keine Lehre, sondern eine Geisteshaltung. Sollte man darum nicht sagen können, so fragt Gerrish, dass dies diejenige Geisteshaltung ist, worauf alle christli­che Lehre aufbaut?7 Gerrish arbeitet deshalb fünf Kennzeichen einer refor­mierten Geisteshaltung heraus, zu denen theo­logische Bildung in Seminarien oder Universitäten befähigen sollte, damit die Pastoren in den Kirchen diese Geisteshaltung wieder in den verschie­­de­nen Aspekten ihrer Arbeit weitervermitteln können. Ich stelle diese Geisteshaltung kurz vor und werde danach anhand ihrer Kennzeichen das Profil Noordmans᾿ skizzieren.

1. Das erste Kennzeichen ist die Ehrfurcht vor der Vergangenheit. Das ist freilich, nach Gerrish, nicht etwas, was heute hoch angesehen ist, es ist aber das, was im Begriff der Tradition enthalten ist. Will man heutzutage die reformierte Tradition aufrechterhalten, dann bedeutet dies Achtung |51| vor den Aposteln und Kirchenvätern. Dieses Kennzeichen zeigt an, dass wir etwas empfangen haben. Es macht bescheiden, wir sind nicht besser als unsere Vorväter (vgl. 1Kön 19,4). Achtung vor der Tradition bedeutet jedoch nicht nur Achtung vor dem, was in historischen Büchern steht. Die richtige Achtung entsteht erst dann, wenn man sich auch zu den Ausagen verhält, mit ihnen in ein Gespräch eintritt. Dieses Kennzeichen ist zudem eine Aufforderung, nicht nur die neuesten Bücher im Blick zu haben und zu lesen, sondern auch die alten Quellen. Es gibt keine wirkliche Achtung vor einem Theologen wie zum Beispiel Karl Barth, wenn man dessen Quellen nicht auch gelesen hat. Wenn wir diese Achtung vor den alten Quellen verlieren, können wir laut Gerrish «genausogut zumachen und die Gebäude jemandem verkaufen, der sie sinnvoller verwenden kann».8

2. Das zweite von Gerrish erwähnte Kennzeichen ist die kritische Hal­tung gegenüber der theologischen Erbschaft der Vergangenheit. Dies ist für den Reformierten genauso wesentlich wie die Achtung. Es gilt «zu­gleich ehrfürchtig und kritisch zu sein!»9 Dass gerade hierbei Spannungen auftreten, merke man beispielsweise bei Calvin. Einerseits wurde er, Gerrish, inspiriert durch Calvins Vision der väterlichen Güte Gottes, andererseits stört er sich an Calvins «angeekelter Rede über die conditio humana».10 Im Umgang mit der Tradition ist es schwer, sich dem Spannungsfeld zwischen Anziehung und Abstossung zu entziehen. Da­r­um ist es so wichtig, das richtige Gespräch mit der Tradition zu lernen: Wir sollen sie nicht ignorieren, sie aber auch nicht nur passiv aufnehmen. Lerne dich zur Tradition zu verhalten! Calvin selbst hat es uns vorge­macht. Er schreibt einem katholischen Gegner (Pighius): «Wir arbeiten Tag und Nacht daran, die Tradition nicht nur auf das Treueste zu bewah­ren, sondern sie auch in die bestmögliche Form zu überführen.»11 Ohne Kritik an der Tradition hätte es keine Reformation der Kirche gegeben. Jetzt gibt es eine reformierte Tradition, aber diese kann nicht ohne konti­nuierliche Selbstkritik fortbestehen. Darum gilt: ecclesia reformata semper reformanda. Das ist nach Gerrish eine Geisteshaltung und kein leeres Motto. Sonst reduzieren wir die lebendige Tradition auf die beschränkten Grenzen unserer Lieblingsthemen. |52|

3. Das dritte Kennzeichen einer reformierten Geisteshaltung ist die Offenheit: Offen zu sein für Weisheit und Einsicht, wo immer sie gefunden werden können. Sich gute Gedanken zu leihen, ist kein Problem. Calvin selbst stützte sich neben Luther auch auf die Humanisten. Gott säe auch bei weltlichen Autoren Einsichten, schreibt Calvin in sei­nem Kommentar zu Joh 4,36.12 Er schreibt nicht nur sein erstes Buch über den römischen Philosophen Seneca, sondern liest auch weiterhin seine klassischen Autoren, trotz der turbulenten 40er Jahre des 16. Jahrhunderts in Genf. Es gehört zur reformierten Haltung, Offenheit dem Weltlichen gegenüber zu lernen und zu zeigen. Theologische Bildung darf in der reformierten Tradition per definitionem keine Insel inmitten anderer Wis­senschaften sein.

4. Das vierte Kennzeichen der reformierten Geisteshaltung ist Gerrish zufolge ihre Zuwendung zur Praxis, ihre Ausrichtung auf Öffentlichkeit. Theologische Wahrheit ist grundsätzlich mit guten Werken verbunden. Die guten Werke des theologischen Geistes sind nicht nur wahre Ge­dan­ken, Gerrish bezeichnet sie als «wohldurchdachte Handlungen».13 Das impliziert, dass die Erkenntnis Gottes sowohl auf persönliche als auch soziale Verände­rung zielt. Anders als Luther, für den Reformation Predigt des Wortes Gottes bedeutet, sieht Calvin Reformation als die Pflicht, nicht nur zu verkündigen, sondern jeden Bereich des öffentlichen Lebens zu reformie­ren. Theologische Bildung gemäss der reformierten Tradition hat diese Haltung zu fördern, wenn sie sich selbst treu bleiben will.

5. Das fünfte und letzte der von Gerrish vorgestellten Kennzeichen ist ein klassisches: Diener des Wortes Gottes zu sein. Gerrish beruft sich auf die historische Bezeichung der reformierten Kirchen: Die reformierten Kir­chen sind nach dem Wort Gottes reformiert. Im reformierten Bewusstsein gab es immer etwas von einem prophetischen Gefühl, dass man wie Jeremia unter dem Wort des Herrn steht (vgl. Jer 20,9). Das Wichtigste, das nach Gerrish über das Wort Gottes zu sagen ist, ist, dass Gottes Wort kommt. Es ist nicht etwas, das wir entdecken oder worüber wir lesen oder uns entscheiden zu lesen. Es kommt, auch wenn wir nicht hören oder nicht hören wollen. Was ist dieses Wort? Es ist die gute Nachricht, dass das Wort Fleisch geworden ist. Das bringt eine Notwendigkeit mit sich, |53| dies auch zu predigen: «Weh mir, wenn ich das Evangelium nicht ver­kündige!» (1Kor 9,16). Dies, so formuliert Gerrish, ist das Herzstück der reformierten Geisteshaltung, wenngleich es nicht den Reformierten vor­behalten ist. Darum heissen Pfarrerinnen und Pfarrer Verbi Divini Ministra/Minister, Dienerinnen und Diener am Wort Gottes. Diese Hal­tung des Die­nens bewirkt, dass die reformierte Geisteshaltung gleichzeit­lich re­spek­tvoll und selbstkritisch sein kann. Tradition ist, mit Calvin ge­sprochen, nichts anderes als ein Weiterreichen des Wortes Gottes.14

3. Zum Hintergrund von Noordmans' Denken

Anhand von Gerrishs fünf Kennzeichen werde ich nun ein Porträt von Noordmans zeichnen. Dabei werde ich Noordmans᾿ Gespräch mit Barth und dessen Theologie ins Spiel bringen, um so dem Eigenen von Noord­mans als reformiertem Theologen im Kontext der Dialektischen Theologie Kontur zu geben.

Zuerst einige einleitende Bemerkungen zu Noordmans᾿ Hintergrund. Ein halbes Jahrhundert lang, zwischen 1906 und 1956, leistete dieser Theo­loge seinen Beitrag zur Erneuerung der niederländischen reformier­ten Theo­logie mittels der Publikation von Büchern, Artikeln und vielen Gele­genheitsschriften, die in den elf Bänden der Gesamten Werke ge­sam­melt sind.15 Er blieb sein ganzes Leben Dorfpfarrer und entging mehrmals einer Ernennung zum Professor. 1935 bekam Noord­mans ein Ehren­dok­­­to­­rat der Universität Groningen. Sein wissenschaftliches Ansehen war gross. Viele Theologen betrachteten diesen Dorfpfarrer als ihren Lehr­meis­ter, so zum Beispiel Kornelis Miskotte, der Dogmatik an der Uni­ver­­­­­sität Leiden lehrte. Dessen Nachfolger, Hendrikus Berkhof, hat Noord­mans als den genialsten nie­derländischen Theologen des 20. Jahr­­­hunderts bezeichnet. Noordmans wird besonders als ein «Theologe des Heili­gen Geistes» angesehen. Er formulierte seine theologische Theorie als Pneu­ma­tologie, d. h. sein Den­ken war geprägt von der Aufmerk­­sam­keit für das Wirken des Geistes, durch welches die ganze Heilswahrheit, auch das Erlösungswerk Christi, eine innerliche, lebensumfassende Erfahrung wird.

Oepke Noordmans stammt aus einem reformierten Milieu in Fries­land, Nord-Niederlande, und wurde später ein Repräsentant dessen, was |54| man in den Niederlanden als «Ethische Theologie» bezeichnete, eine moderne Variante der reformierten Theologie (deren Begründer im 19. Jahrhundert Daniel Chantepie de la Saussaye und Johannes Hermanus Gunning waren).16 Diese theologische Richtung war mit der deutschen Vermittlungstheologie verwandt (allerdings stärker orthodox geprägt) und suchte eine Synthese von Kultur und Christentum, ausgehend von der Inkarnation, dem Grundgedanken, dass in Jesus Christus das Wort wirklich Fleisch, also Kultur und Geschichte, geworden ist. Die Ethische Theologie stellte sich damit gegen den Intellektualismus des neocalvi­nistischen Offenbarungsglaubens von Abraham Kuyper und den libera­len Subjektivismus der sogenannten «vrijzinnigen» (Karel Hendrik Roes­singh u. a.). Das typisch Reformierte sahen die Ethischen Theologen in der Er­kenntnislehre, in der Betonung des Persönlichen im Erkennen der bibli­schen Wahrheit. Diese personalistische Erkenntnislehre hat ihren Aus­gangspunkt nicht in einem Prinzip oder einem abstrakten Begriff, sondern im persönlichen Wort, das in Jesus gehört wird und nach Ant­wort verlangt. Die Ethische Theologie legte Nachdruck auf die Bildung des Menschen zu einer «religiösen Persönlichkeit» als Zugangsweg zu Gott. Anders als die verwandte Strömung des Neocalvinismus war die Ethi­sche Theologie weniger scholastisch und suchte stärker danach, in wel­cher Weise biblische Wahrheit das Leben in Bewegung bringt.

In der Entwicklung von Noordmans᾿ Theologie spiegelt sich sein Ver­ständnis der Zeit, in der er lebt. Die tiefgreifenden Ereignisse in den ers­ten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts wie die Erschütterung durch den Ersten Weltkrieg und die russischen Revolution, die Arbeitslosigkeit und die prekären sozialen Umstände der Arbeiter in Europa, das alles brachte Noordmans dazu, seine ethisch-theologische Position neu zu durchdenken. Er erkannte, dass eine bedrohte Humanität einer adäquate­ren theologischen Durchdringung bedarf, als dies die Ethische Theolo­gie mit ihrem Interesse für die religiöse Persönlichkeit leisten konnte. Aus eigener Kraft machte er eine Wendung in seinem Denken durch, die man mit der Wendung in der Dialektischen Theologie hin zu einem of­fen­­barungstheologischen Ansatz vergleichen kann. Anfang der 1920er Jahre erschienen Artikel Noordmans᾿, in denen diese Wendung deutlich arti­ku­­liert |55| ist. Noordmans problematisiert darin das ethische Persönlich­keits­­­denken und sagt, dass wir nur dann, wenn wir im Glauben die Sichtweise Gottes mitvollziehen – exzentrisch –, zu sehen bekommen, wer wir als menschliche Personen sind.17 Das Leben zwischen Geburt und Tod lässt sich nicht von innen heraus verstehen.

Noordmans war ein visionärer Geist, der vorhersah, dass das 20. Jahr­hundert ein Jahrhundert mit grundsätzlichen Veränderungen auf vielen Gebieten der Gesellschaft werden würde – nicht nur im Bereich von Reli­gion, Kunst und Organisation, sondern auch auf dem Gebiet der Wis­senschaft und ihrer Anwendungen. Er hatte ein Auge für die destruktiven Seiten der neuen Technologien, wenn diese im Kriegsbetrieb angewendet und so als Instrument gewalttätigen Machtswillens missbraucht werden. Man muss Noordmans᾿ Theologie, wie auch die von Karl Barth, als eine Reak­tion auf eine Periode der Krise verstehen. Wie Barth sah Noord­mans sich dazu gedrängt, eine Theologie zu entwickeln, die einer Theo­­­­lo­gie widerstand, die mit dem Zeitgeist antidemokratischen Denkens und nationalistischer Ideologie ging. In «Neuschöpfung», seinem dogma­ti­schen Hauptwerk aus den 1930er Jahren,18 aber ebenso in Artikeln machte er seine Sichtweise deutlich. Und wie bei Barth spielt auch bei ihm die Eschatologie eine Schlüsselrolle.19 Noordmans᾿ Theologie ist zukunfts­orientiert.

Die eschatologische Ausrichtung ist nicht im Sinne einer Flucht aus der Gegenwart zu verstehen, vielmehr geht es darum, die menschlichen Möglichkeiten aufzudecken, die sich gerade in Krisenzeiten offenbaren. Glaube und Theologie bekommen in Noordmans᾿ Werk eine grosse Ver­antwortung, wenn es um die Reflexion von Ethik und Wissenschaft geht. |56| Ein Barthianer ist Noordmans nicht geworden, dafür war sein Denken im Zeitpunkt, wo er Barth kennenlernte, bereits zu sehr ausgereift. Auch war das Prinzip der Ethischen Theologie, dass man jeden Tag eine be­stimmte Empfänglichkeit für die göttliche Wahrheit erleben kann, für ihn unaufgebbar. Es gibt in Noordmans᾿ Denken eine Verbindung zwischen Wort und Person, die in seinen Artikeln nach 1935 zu immer kritischeren Fragen an Barths Theologie des Wortes führte.20 Das Wort Gottes ist vom menschlichen Leben und menschlicher Erfahrung zu unterscheiden, darin stimmt Noordmans mit Barth überein, aber dieses Wort wird wirk­sam in der Existenz des Christen. Der Fokus liegt bei Noordmans auf dem pneuma­to­lo­gischen Ansatz und damit der Wirkung des Wortes. Trotz aller Verwandtschaft muss gesagt werden, dass Noordmans aufgrund seines reformiert-pneumatologischen Anliegens lebenslang sowohl der Dialektischen Theologie als auch dem Neocalvinismus von Abraham Kuyper gegenüber kritisch blieb.

4. Noordmans’ reformiertes Profil

Was fällt auf, wenn man Noordmans anhand der fünf Punkte der reformierten Geisteshaltung von Gerrish in den Blick nimmt? Was fällt als das unter­scheidend Reformierte auf?

4.1 Ehrfurcht vor der Vergangenheit: hörendes Denken

Achtung vor der Vergangenheit ist für Noordmans’ Denken von zentraler Bedeutung. Man kann bei ihm von einem hörenden Denken sprechen. Dies hat für ihn mit «Autorität» zu tun, aber nicht mit einer Autorität im Sinne von Zwang. Vielmehr geht es darum, eine Haltung des Zuhörens einzunehmen und so intellektuelle Bescheidenheit zu zeigen. Ich möchte diesen Punkt anhand eines Artikels aus dem Jahre 1921 näher erläutern, denn dieses Jahr wird meistens als das angesehen, in dem Noordmans eine Wendung von einer ethisch-theolo­gischen hin zu einer stärker offen­­­ba­rungstheologischen Position durchlaufen hat. Aus diesem Jahr stam­­­­men einige Aufsätze, die tatsächlich seinen theologischen An­satz der fol­gen­den Jahre ankündigen. Einer dieser Aufsätze trägt den Titel «Glau­ben auf Autorität hin». Dieser Aufsatz ist ein Plädoyer für ein Autoritäts­element |57| in der Erkenntnislehre und kritisiert den Hang zu in­tellektueller Autonomie sowohl in der Theologie als auch in der Kultur. «Glauben auf Autorität hin» bedeutet, aus einem Hören heraus zu glau­ben, durch welches ein Mensch in seiner ganzen Existenz betroffen wird. Hören gelingt so, dass man seine Aufmerksamkeit zu den Stimmen der Heiligen Schrift und der Kirchengeschichte ziehen lässt, aber auch zu den Stimmen derer, die noch kein Gehör in dieser Welt gefunden haben. Es geschieht etwas, wenn sich das Denken in den Dienst dieses Hörens be­gibt; das Denken und damit die Geisteshaltung werden bescheiden. Am hörenden Denken sind dabei zwei Seiten zu unterscheiden, eine anthro­pologische und eine theologische. Das Anthropologische zielt auf etwas, das nach Noordmans für das Menschsein wesentlich ist. Es ist die Ehr­furcht vor dem Geheimnis der Stimme, für das, was Noordmans als «das zum Klang geworden Innerliche des Menschen» beschreibt. Und er schreibt weiter: «Verkennung des Wortes, in jeder Form, schädigt die Heiligung des innerlichen Menschen» (VW 2, 142). Die theologische Denkhaltung, die dieses Hören achtet, basiert nicht auf einem wissen­schaftlichen Drang, selbst etwas zu finden, oder auf unbeugsamen Prin­zipien, sondern sie richtet sich nach der «Grammatik des Glaubens» (dem «Wort­zu­sam­men­hang» der Evangeliumsverkündigung, wie Noordmans in «Neu­schöp­­­fung» schreibt, VW 2, 218). Diese Denkhaltung sagt dann (auf der Linie einer kantianischen intellektuellen Demut), dass unser Er­kennen begrenzt ist und fragmentarisch bleibt, weil es von der Erkennt­nis, die bei Gott ist, umgriffen ist. Das hat man Noordmans zufolge im niederländischen Pro­testantismus seiner Zeit verlernt. Man wollte zwar noch Autorität für die Moral anerkennen, im Denken aber autonom sein.

4.2 Kritik: die Fülle von Gottes Heils nicht einschränken

Der zweite Punkt der reformierten Geisteshaltung führt uns zum Ent­scheidenden an Noordmans᾿ Beitrag zur Theologie des 20. Jahrhunderts. Noordmans hat sich nicht nur zur sogenannten Ethischen Theologie, der Variante der reformierten Theologie, die er gelernt hatte, kritisch ver­halten, son­dern auch zu der grösseren Linie der Reformations­geschichte. Ich nenne einige auffallende Punkte und werde danach näher auf seinen wichtigs­ten Beitrag zur Theologie, den sogenannten kritischen Schöp­fungs­begriff eingehen.

a. Noordmans und Calvin/Calvinismus

Calvin ist in Noordmans᾿ Gesamtwerk als ständiger Referenzpunkt seiner Entwicklung überall präsent. Noordmans nennt ihn selbst «meine Auto­rität» (VW 1, 201). Man kann Noordmans᾿ Hauptwerk «Neuschöpfung» als eine Übertragung von Calvins Institutio unter den Bedingungen des 20. Jahrhunderts sehen. Das heisst: Noordmans liest Calvin unter dem Gesichtspunkt einer bedrohten Humanität. Besonders die Weise, in der Calvin über den Glauben redet, ist für Noordmans grundlegend. Glauben heisst, Christus anzugehören, unio mystica, die durch Gottes Geist bewirkt wird. Das sagt etwas über Identität aus: Man lebt als Mensch von dem, was man selbst nicht besitzt, und man leiht seine Identität von dem, was einen noch erwartet.21 Die Anthropologie geht hier in der Pneumatologie auf.

Noordmans᾿ kritische Geisteshaltung zeigt sich in seiner Unterschei­dung zwischen Calvin und dem Calvinismus. Noordmans sagt in seinen Texten oft, dass er auf der Suche nach dem «wahren» Calvin sei. Seines Erachtens ist dieser in den dogmatischen Systemen der streng calvinisti­schen Varianten der konfessionellen Theologie abhanden gekommen. Oft redet Noordmans über die Kargheit und Härte des Calvinismus, wodurch das Heil Gottes unzulänglich beschrieben werde. Ein gutes Beispiel dafür ist seine Meditation «Sünder und Bettler» (siehe Luk 16,19–31; VW 8, 15–25), worin er deutlich macht, dass Heil nicht nur mit der Sündhaftigkeit der Menschen zu tun hat, sondern auch mit der leiblichen und geistlichen Not, in der sich Menschen befinden. Theologen können mit ihrem Dis­kurs auch eine Mauer gegen den Reichtum von Gottes Heil in dieser Welt aufbauen. Es gibt, schreibt Noordmans oft, mehr im Evangelium, als die Kirche sich daraus angeeignet hat (z. B. VW 8, 25).

b. Noordmans und Barth

Wie bereits erwähnt, hat der Einfluss von Barth auf Noordmans bei die­sem keine direkte Wendung verursacht, sondern einen Prozess verschärft, der bereits im Gange war. Dabei artikulierte er das Anderssein Gottes schärfer als jemals vorher und unterstrich, dass das Menschsein in seiner wahren Bedeutung nur von der Neuprädikation durch Gott her zu erken­nen ist. Wo liegt bei aller Verwandtschaft die Differenz zu Barth? Es gibt zwischen 1925 und 1940 mehrere Beiträge von Noordmans zu Barths |59| Theologie, die mehr Licht darauf werfen. Ich kann nur einen einzigen Hauptpunkt nennen. Interessant ist, dass Noordmans᾿ Kritik an Barth durch ein Zurückgreifen auf die reformierte Tradition geschieht. Noordmans interpretiert das Kritische an Gottes Reden in unserer Wirk­lichkeit anders als Barth, da er ein anderes Verständnis des Wortes Gottes hat. Das Wort hat bei Barth – so Noordmans᾿ Sicht – zu wenig Zeitbin­dung. Barth sieht seiner Meinung zu wenig das Dynamische und Beweg­liche von Gottes Wort, das Möglichkeiten bietet, im Leben einen Weg zu finden. Noordmans sucht also die Wirkung dieses Wortes in allen Din­gen. Die Dynamik des Wortes macht gegenwärtig, was in der Kultur ver­drängt wird. Es gibt in jenem Wort immer etwas Schöpferisches, etwas vom «Es werde …» von Genesis 1. Es wird Raum für das geschaffen, was noch nicht ist. Diesen Akzent vermisst Noordmans bei Barth. Noordmans will das Wort nicht als ein «Geschehen» sehen, sondern als «Medium» von «göttlicher Offenbarung», die eine «geistliche Kontinuität» impliziert (VW 2, 188). Er ist der Meinung, dass Barth in seiner Auffassung vom Wort zu lutherisch geblieben ist und zu wenig vom reformierten Be­wusstsein zeigt, dass das Wort «weitergehende Wahrheit» (VW 3, 643) ist, die sich in sehr verschiedenen Formen in der menschlichen Existenz zeigen kann. |58|

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