Читать книгу: «Nick Francis 4», страница 2

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Bevor sich mein Vermieter weiter unnötig aufregte, beruhigte ich ihn:

»Hallo?! Ich wollte nachher los in die Geschichte Der Keller, du erinnerst dich? Dieses große, in Leder eingebundene Buch, das uns schon seit einiger Zeit beschäftigt?«

»Ach, das war heute. So schnell willst du wieder los? … Finde ich gut, umso eher erfahren wir vielleicht, was es mit der ganzen Sache auf sich hat.«

»Das hoffe ich auch.«

»Schön, also viel Glück, ich komme morgen so gegen Mittag zu dir, ist dir das recht?«

»Ist es!«

Dann hörte ich im Hintergrund die Stimme von Doris:

»Willi, komm schon, wir wollen los!«

»Tut mir leid Nick, aber ich muss Schluss machen.«

»Dann will ich dich nicht aufhalten, viel Spaß auf der Party und bis morgen dann!«

»Danke, ich werde mir Mühe geben mit dem Spaß, du weißt doch, wie ich solche Veranstaltungen liebe«, erwiderte er mit einem ironischen Unterton, den ich nur allzu gut dekodieren konnte.

***

Es war wie eine Sucht. Ich musste einfach in die nächste Geschichte, die Neugier war zu groß. Besonders nach meiner Idee, die mir durch das Computerspiel gekommen ist. Ich wollte mit Sam sprechen und nahm mir vor, mich dieses Mal nicht so von der Stimme ausquetschen zu lassen. Bei unserer Begegnung würde es stattdessen heißen: Quid pro quo!

Doch bevor ich meine Reise antrat, musste ich mich noch auf ein zusätzliches Experiment vorbereiten. Ich gehöre eigentlich nicht zu denen, die sich bewusst einen antütern, aber für die Wissenschaft tut man ja so einiges, und so machte ich mich nach drei Lütt un Lütt auf den Weg in den Keller – Prost!

Die Getränke nahm ich in der Küche zu mir und torkelte … nein, ich konnte noch normal gehen, ins Schlafzimmer, wo schon alles für das Ritual vorbereitet war. Bettdecken und Kissen hatte ich vom Bett geräumt. Nur das aufgeschlagene Buch lag auf der Matratze. Ich legte mich rücklings in die Mitte und zog das Buch auf meinen Bauch. Die rechte Hand platzierte ich auf den eingravierten Titel Der Keller – das Tor zu einem weiteren Abenteuer.

Also Augen zu, ruhig atmen und Schäfchen zählen. Die Seite fühlte sich wie immer kühl und hart an, und dann passierte es. Schon im Halbschlaf und damit in dem Zustand, in dem ich in die Welt des Buches gelangen konnte, spürte ich, wie die metallähnliche Oberfläche des Buches warm und weich wurde. Meine Hand versank in der Seite wie in Schaumstoff und wurde eins mit ihr, worauf sich das bekannte Gefühl einstellte: Es war, als krabbelten mehrere tausend Ameisen aus dem Buch heraus auf meine rechte Hand. Danach kribbelte mein rechter Arm, so als würden die Ameisen ihre Reise über diesen fortsetzen. Schließlich war es, als breiteten sich die kleinen Tierchen auf meinem ganzen Körper aus. Es kribbelte überall wie bei einem leichten, sanften Stromstoß. Es war angenehm und entspannend, auch wenn der Vergleich mit den Ameisen und dem Strom was anderes vermuten lässt. Ich hatte also das erforderliche Stadium erreicht. Der Zauber erfasste mich und brachte mich in eine neue Geschichte, die dieses Mal den Titel trug: Der Keller.

Kapitel 1 Roter Schnee

Das Erste, was ich wahrnahm, war ein Knistern und eine blecherne Stimme: »Nächster Halt: Gänsemarkt!«

Langsam öffnete ich die Augen. Aus einem Fenster sah ich verschneite, in der aufgehenden Sonne liegende Häuser an mir vorbeiziehen. Zischend wie eine Schlange zog das Gefährt, in dem ich saß, über die Schienen, dann tauchte es ab in den Untergrund und schlängelte sich durch einen dunklen Tunnel. Also mal wieder ein Zug. Allerdings war dieser im Gegensatz zu dem Zug in meinem Wildwest-Abenteuer recht modern. Ich war wohl nicht in der Vergangenheit gelandet, aber auch nicht in der Zukunft. Was bleibt da noch übrig? Was sagte die Frauenstimme eben? »Nächster Halt: Gänsemarkt!« Dabei fällt mir nur Hamburg ein. Na, sehr weit ins Ausland hat es mich dann nicht verschlagen. Ich habe wohl nur die Billigreise in die nächstgrößere Stadt gewonnen. Nichts mit Karibik oder dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten.

Neonröhren tauchten den Waggon in ein grelles Licht. Mein Kopf fühlte sich schwummerig an von der kleinen Zecheskapade, die ich vor Reiseantritt zelebriert hatte. Das Fazit lautete also: Experiment geglückt, Proband besoffen … Nein, so nun auch wieder nicht! Ich hatte genau die richtige Menge Lütt un Lütt intus. Ich war nicht betrunken, aber auch nicht nüchtern – hicks! Autofahren dürfte ich bestimmt nicht mehr, aber wozu auch, ich fuhr ja mit der Bahn.

Doch kommen wir zurück zum Eigentlichen: Angenehmerweise befand ich mich nicht in einer unbequemen, dahinrasenden Kutsche, nicht in einem antiken Zug und schon gar nicht in einer Sklavengaleere, die mit einem Peitschenschwinger bestückt war, der mich durch einen heftigen Hieb in die Welt der Festung brachte.

Nein, ich saß in einer U-Bahn, wir fuhren durch eine Röhre und kamen nur selten ans Tageslicht. Während ich nun meinem mir noch unbekannten Ziel entgegenratterte, nahm ich die Leute in dem Waggon etwas genauer unter die Lupe.

In dieser Saison schienen für die jungen Herren der Schöpfung geföhnte, gern auch gegelte, hochstehende, mit schwarzen und blonden Strähnen versehene Frisuren angesagt zu sein. Auf einigen weniger gestylten Häuptern entdeckte man bunte, aber auch schlichte Wintermützen, vereinzelte Exemplare waren gestrickt und mit einem Bommel versehen. Die Herren trugen enge Röhrenjeans, Lederjacke mit Stehkragen, wahlweise auch Mantel und Winterjacke. Das Schuhwerk war dem Outfit angepasst: Cowboystiefel, Winterstiefel, auch Turnschuhe wurden vereinzelt getragen. Zwei Anzugträger mit langen Kaschmirmänteln waren ebenfalls an Bord.

Die meisten Mädels trugen ihre langen Haare offen. Vier Frauenköpfe waren durch Dauerwellen aufgeplustert. Einige bunte Leggins schauten unter den Winterjacken hervor, aber auch Jeans und zwei Röcke, alle Damenfüße steckten in Winterstiefeln. Dieser modische Look, der mir in die Augen sprang, kam mir total bekannt vor. Ich hatte ihn schon einmal gesehen. Und nicht nur das − ich hatte ihn auch selbst mit stolzgeschwellter Brust und aus tiefster Überzeugung getragen.

Doch nicht zu diesem Zeitpunkt, denn ich selber trug eine schlichte Winterjacke, Schal, Mütze und Handschuhe – Mann, war mir warm.

Als ich nach einigen Minuten alles um mich herum inspiziert hatte, tauchte die Neonbeleuchtung einer U-Bahn-Station auf. Erst jetzt bemerkte ich den Reisekoffer zwischen meinen Füßen. Die Lautsprecher knisterten erneut und die Blechstimme verkündete: »Gänsemarkt!«

Wir wurden langsamer, dann kam der Waggon mit einem Ruck zum Stehen. Die Reisenden, die sich bereits erhoben hatten, bemühten sich, das Gleichgewicht zu halten. Die U-Bahn stand und ich saß. Sollte ich aussteigen? Weiterfahren? Ich musste mich schnell entscheiden. Die Leute öffneten die Türen und verließen in Windeseile das Abteil, genauso schnell stiegen neue Fahrgäste ein. Als sich die Türen schon wieder zu schließen begannen, sprang ich mit einem Satz auf, griff instinktiv nach dem Gepäckstück zwischen meinen Beinen und hechtete hinaus.

Da stand ich nun auf dem Bahnsteig, die U-Bahn hinter meinem Rücken setzte sich in Bewegung. Na, wenn das hier man richtig ist. Ich entschied, der Menge zu folgen, die vermutlich zum Ausgang strömte. Nach wenigen Metern teilte sich der Menschenstrom; es gab also mehr als einen Ausgang. Ich ließ mich von der Menge, die Richtung Dammtorstraße und Staatsoper strömte, mitnehmen. Wir durchschritten einen Gang, dessen weiß gekachelte Wände Graffiti und andere Schmierereien schmückten. Einige Kunstwerke waren mit Veranstaltungsplakaten übertapeziert. Ich blieb stehen und betrachtete die Plakate genauer. Sie verkündeten, dass David Bowie am 26.06.1982 im Hamburger Volksparkstadion auftreten würde. Ich bin also wirklich in Hamburg, und zwar nicht wie bisher üblich in einer weit zurückliegenden Zeit, sondern im Jahr 1982! Ich starrte auf den Aushang und bekam kaum mit, wie die Menschenmassen an mir vorbeihasteten und mich dabei rücksichtslos anrempelten. Schließlich ließ ich mich erneut im Strom der Menge mitreißen. Es ging eine Treppe hinauf.

Also 1982 − der modische Trend meiner Mit-U-Bahnfahrer hatte mich ja schon vorgewarnt. Also, Leute! Habt ihr Bock auf die Achtziger? Dann folgt mit mir dem Sog der Menge. Macht euch, meine lieben Zuhörer, einmal mehr bereit, mich auf meiner abenteuerlichen Reise zu begleiten. Macht es euch gemütlich, stellt das Telefon auf lautlos und das Handy aus, legt die Beine hoch, schaltet ein behagliches Licht an und seid gespannt auf das, was auf uns lauern wird, wenn wir gemeinsam hinab in den Keller steigen, wo das Grauen sicher schon auf uns wartet.

***

Je höher wir die Treppe hinaufstiegen, desto schärfer wehte mir ein eisiger Wind ins Gesicht. Klasse, dass ich Mütze, Schal und Handschuhe bekommen habe! Danke, großer Unbekannter. Als ich die obersten Stufen erreichte, ertönten die verschiedensten Autohupen und allmählich wurde der Menschenstrom, der sich aus der U-Bahn-Station nach oben in den grauschummrigen Morgen hinaufarbeitete, langsamer. Grün-weiße Polizeiautos parkten mit Blaulicht zwischen den Schneebergen. Ein Martinshorn heulte auf, und der dazugehörige Krankenwagen mit hektischem Blaulicht tauchte hinter einem Häuserblock auf.

Abrupt blieben die Leute vor mir stehen. Unten waren alle noch so in Eile gewesen, als sei der Leibhaftige hinter ihnen her, und hier oben … Stillstand. Nun schienen sie alle Zeit der Welt zu haben. Die Menschentraube wurde immer größer. Wir reckten die Hälse und versuchten, über die Leute vor uns hinwegzuspähen.

Da ich trotz meiner wackeligen Versuche, auf Zehenspitzen zu stehen, nichts erkennen konnte, beschloss ich, etwas zu tun, was so gar nicht meine Art ist. Ich drängelte mich durch die Menge nach vorne. Dabei musste ich mir etliche Pöbeleien und Ellenbogen-Stöße in die Seite gefallen lassen. Ein Schaulustiger entriss mir sogar meinen Koffer und schnauzte mich an:

»He du, was fällt dir ein, glaubst du, ich will nicht auch mehr sehen? Stell dich gefälligst hinten an!«

Doch ihr kennt mich jetzt schon ein wenig länger und könnt euch denken, dass ich mich von solchen Lappalien nicht aufhalten lasse. Ich zog an meinem Koffer und erwiderte:

»Lassen Sie gefälligst los, ich bin Arzt.« Der Typ ließ tatsächlich von mir und dem Koffer ab, und ich drängelte mich dichter an das Geschehen heran. Am U-Bahn-Eingang waren Polizisten damit beschäftigt, die Neugierigen davon abzuhalten, die Absperrung durch die Drängelei zu durchbrechen. Gerade als ich mir einen Platz in der ersten Reihe erobert hatte, meinte ein Polizist:

»Seien Sie doch vernünftig, treten Sie zurück … Herrschaften … Bitte! … Hier gibt es nichts zu sehen!«

Also benahm ich mich wie jeder vernünftige Mensch in so einer Situation. Ich schenkte dem Polizisten keine Beachtung und reckte meinen Hals umso höher. Meine weit aufgerissenen Augen erspähten einen regungslosen nackten Oberkörper, der aus einem Schneeberg herausragte. Er schien mit einer rot glänzenden Schicht überzogen. Gefrorenes Blut? Roter Schnee umzeichnete den Oberkörper zusätzlich. Polizisten schaufelten den toten Mann aus dem Schnee heraus. Von hinten drängelten sich zwei Männer an mir vorbei und setzten gerade an, mit ihren gezogenen Fotoapparaten über die Absperrung zu klettern, als der Polizist sie anblaffte:

»Sind Sie denn ganz und gar verrückt?! Auch Sie bleiben gefälligst zurück – und keine Fotos!«, befahl er und drückte die Kameras runter.

Die Männer, die ich durch ihre an den Mänteln befestigten Presseausweise als Journalisten identifizierte, protestierten lautstark, wobei der eine, ein dauergewellter blonder Schönling mit Schnauzbart, besonders heftig debattierte. Leider konnte ich bei dem Getümmel um mich herum nicht verstehen, was er sagte. Ich hörte dafür noch den Beamten so etwas antworten wie: »Warten Sie auf die Pressekonferenz, da werden Sie alles erfahren«, bevor sich zwei hoch interessierte ältere Frauen zwischen uns quetschten. Gibt es hier was umsonst?

»Es soll ein junger Mann sein, der hier unter dem Schnee gefunden wurde«, begann die eine zu tuscheln.

»Ja, völlig zerfleischt soll er gewesen sein«, tuschelte die andere zurück. »Und nackt!«

»Oh! Wie schrecklich.« Sie hielt sich die Hand vor dem Mund.

»Das ist jetzt schon der Dritte, und alle noch so jung.«

»Und so etwas hier bei uns. Wie furchtbar. Man traut sich ja nachts kaum noch auf die Straße.«

Dann ließen sich die Frauen über die Arbeit der Polizei aus. Die hätte das verhindern müssen, doch stattdessen wäre sie nur damit beschäftigt, Falschparker abzuschleppen und so weiter.

In diesen ganzen Bruchstücken, die ich inzwischen erhascht hatte, steckten ein paar interessante Informationen. Ich wusste jetzt, dass der junge Mann nicht das erste Opfer war. Die Leichen waren mit Blut bedeckt und der Täter hatte bisher nur nachts zugeschlagen. Nachts, viel Blut? Habe ich es wieder mit einem Vampir zu tun? Nee, ein Vampir kann es nicht sein, der würde doch niemals so viel Blut übrig lassen. Es sei denn, er wäre auf Diät. Nick, du spinnst mal wieder.

Dann fiel mir ein großer, schlanker Mann mit grauem Wintermantel und einem schwarzen Hut auf, der in der Nähe der Leiche stand. Er diskutierte mit zwei Männern, vielleicht Kollegen, die wie er in Zivil unterwegs waren. Irgendwie erinnerte er mich an jemanden. Das Aussehen, die Körperhaltung, das wilde Gestikulieren. Mit einer ausgesuchten Höflichkeit fragte ich den Polizisten, der hinter der Absperrung stand und immer noch versuchte, uns von einem weiteren Vordringen abzuhalten:

»Entschuldigen Sie, wer ist der große Mann da hinten − der mit dem grauen Mantel?«

Ich konnte es gar nicht recht glauben, aber ich bekam tatsächlich eine, wenn auch knappe Antwort:

»Hauptkommissar Wallace. Und nun verschwinden Sie, bevor ich Sie einsperren lasse wegen Behinderung eines Polizeieinsatzes.«

»Schon gut, ich bin bereits weg«, antwortete ich und schob mich durch die Menge nach hinten. Hauptkommissar Wallace? An wen erinnert er mich nur? Fällt mir sicher wieder ein.

***

Ich entfernte mich immer weiter weg vom Schauplatz, und nach einigen Metern stand ich vor einem Denkmal. Ich schaute es mir an und las die Hinweistafel. Ach ja, das Lessing-Denkmal. Jetzt weiß ich es wieder. – Ich wollte es auch einmal so gut haben wie andere Menschen. Aber es ist mir schlecht bekommen. – War das nicht von ihm?

In diesem Augenblick registrierte ich zum ersten Mal bewusst, wo ich mich eigentlich befand. Es kam mir gar nicht wie eine Welt aus dem Buch vor. Alles um mich herum war deutlich vertrauter als in den anderen Geschichten. Aber warum sollte es nicht so sein? Wenn ich in das Jahr 1694 reisen konnte, wieso nicht auch in das Jahr 1982, genauso hätte ich wohl auch im Jahre 2129 oder so landen können. Ich hatte zu sehr damit gerechnet, in eine weit entfernte Vergangenheit zu reisen. Ihr sicher auch – oder?

So stand ich einige Minuten grübelnd vor dem Denkmal, bis ein kalter Windstoß, der kleine Schneeflocken mit sich trug, in meine Jacke fuhr. Ich schaute mich um und erblickte ein großes Schild über einem einladenden Eingang. Albatros. Dem Schild zufolge ein Bistro mit integrierter Bar. Ich überquerte die Straße und betrat die rustikal gestaltete Gaststätte. An den Wänden hingen Bilder von James Dean, Humphrey Bogart, Elvis Presley, dem jungen Marlon Brando in Lederklamotten und von Marilyn Monroe. Eine Studentenkneipe der Achtziger. Das Albatros hatte anscheinend durchgehend geöffnet, denn so wie es aussah trafen hier die letzten Nachtschwärmer auf die ersten Frühaufsteher.

Ich gönnte mir eine Frühstückspause. Nachdem ich bestellt hatte, fiel mir ein, dass ich, wenn ich hier nicht abwaschen wollte, Geld benötigte. Ich durchsuchte die Jacke, die ich bereits über die Rückenlehne des Stuhls gehängt hatte, und fand in der Innentasche eine Geldbörse mit einigen großen und kleinen Scheinen unserer guten alten Deutschen Mark. Die Scheine kamen mir vertraut und gleichzeitig sehr fremd vor; es waren noch die alten Scheine, nicht die, die wir vor der Euroumstellung hatten, einige von euch werden sie sicher noch kennen. Und nun ratet mal, wie viel Geld es war. Sage und schreibe fünftausend Mark! Also genügend Knete, um den Kaffee und die beiden halben belegten Brötchen zu bezahlen und sich auch noch ein Zimmer für ein paar Tage zu mieten. So fragte ich die Kellnerin, als sie mir den Kaffee und die Brötchen brachte:

»Entschuldigen Sie, könnten Sie mir hier in der Nähe eine günstige Bleibe empfehlen?«

Sie schaute mich an und lächelte so, als wollte sie sagen: »Bei mir.« In Wirklichkeit aber sagte sie:

»In der Pension Gerhard hier am Gänsemarkt. Die ist sehr nett und vor allem sauber. Ich arbeite da oft am Wochenende zur Frühstückszeit.«

»Da auch! Dann sind Sie ja eine viel beschäftigte Frau.« Ich lächelte der Schönheit, deren Alter ich auf Anfang zwanzig schätzte, zu.

»Ich kann nicht klagen, aber ab und an ist es schon stressig, denn hauptsächlich studiere ich. Mit den beiden Arbeitsstellen finanziere ich mir das Studium. Tanzen gehen am Wochenende kommt da manchmal etwas kurz«, lächelte sie.

Ich nutzte die Gelegenheit und fragte:

»Wochenende? Ich bin ganz durcheinander, weil ich einige Tage unterwegs war, können Sie mir vielleicht verraten, welchen Tag wir heute haben?«

»Heute? – Montag!«

»Richtig, Montag der …«, ich sah sie nachdenklich an. Sie hatte rehbraune Augen, die tief in einem dunkelhäutigen Gesicht lagen.

»Montag, der elfte Januar.«

»Schon der elfte Januar?! Es kommt mir vor, als hätte das neue Jahr erst gestern begonnen. Ich habe jedenfalls fröhlich reingefeiert … Sie auch?«

»Klar! Hier war eine Riesenparty. Wir haben das Jahr neunzehnhundertzweiundachtzig gebührend empfangen.«

»Ja, das ist was! Jetzt haben wir schon neunzehnhundertzweiundachtzig«, sagte ich und dachte: Eigentlich wäre ich jetzt erst zehn Jahre alt. Und ich hörte: »Hallo, Fräulein!«

»Entschuldigen Sie, es war nett, mit Ihnen zu plaudern, aber ich darf die anderen Gäste nicht vernachlässigen.«

»Selbstverständlich, vielleicht sieht man sich mal wieder.«

»Würde mich freuen«, sagte sie lächelnd und drehte sich um. Ihre schwarzen Locken flogen hinter ihr her, als sie zum Nebentisch ging.

***

Das Leuchtschild mit der Aufschrift Pension GerhardZimmer frei zeigte mir mein nächstes Ziel. Doch bevor ich mir ein freies Zimmer organisierte, besorgte ich mir erst einmal eine Zeitung an dem Kiosk, der auf dem Weg lag.

»Moin, ich hätte gern das Hamburger Abendblatt

»Einmal Abendblatt – bitte sehr, macht eine Mark, der Herr!«

Geld und Zeitung wechselten die Besitzer, dabei fragte ich:

»Erscheint die Zeitung täglich?«

Fragend schaute mich der Verkäufer an: »Ja, wenn sie nur einmal die Woche rauskäme, wäre es doch eine Wochenzeitung und keine Tageszeitung?!«

»Da haben Sie auch wieder recht. Wissen Sie, ich war mal an zwei besonderen Orten und da gab es nur eine Zeitung pro Woche.«

»Wenn Sie unbedingt wollen … ich habe auch Zeitungen, die nur einmal in der Woche herauskommen. Hier … die Fernsehzeitung zum Beispiel. Für achtzig Pfennig ist es Ihre.«

»Okay, nehme ich auch.«

Ein weiteres Mal wechselten Gegenstände die Besitzer. Als ich die Zeitungen zusammenrollen wollte, sprang mir die fett gedruckte Schlagzeile des Abendblattes entgegen: Wann wird der Schlächter von Hamburg wieder zuschlagen?

»So ganz aktuell ist Ihre Zeitung aber nicht.«

»Wie meinen Sie das?«

»Weil der Schlächter bereits wieder zugeschlagen hat.«

»Habe ich gehört. Das wird bestimmt morgen drinstehen.«

»Na, dann bis morgen. Schönen Tag noch.«

»Danke, Ihnen auch!«

Obwohl ich sehr neugierig auf den Schlächter-Artikel war, sodass ich ihn am liebsten an Ort und Stelle gelesen hätte, rollte ich die Zeitungen zusammen und machte mich samt Lesematerial auf den Weg zur Pension. Dort empfing mich eine rundliche kleine Frau, ich schätzte sie auf Mitte bis Ende sechzig. So wie es aussah häkelte sie gerade an einem Platzdeckchen. Als sie mich sah, legte sie ihre Handarbeit zur Seite, hieß mich herzlich willkommen und stellte sich als Frau Gerhard vor. Ich teilte ihr mit, dass ich für ein paar Tage ein Zimmer suchte. Mit einem Lächeln gab sie mir ein Formular, welches ich pflichtbewusst ausfüllte. Als ich damit fertig war, wollte sie noch meinen Ausweis sehen, doch natürlich fand ich keinen bei mir. Um nun das Ausweisdefizit auszugleichen, meinte ich, dass mir ihre Pension von der Kellnerin aus dem Albatros empfohlen worden sei, die an den Wochenenden bei ihr arbeite.

»Dann geht es schon in Ordnung, geben Sie nur Ihren Namen an. Wenn Sie von Vanessa kommen, ist das als Referenz ausreichend für mich.«

Vanessa.

Damit waren also die Formalitäten erledigt und ich bekam einen Schlüssel. Frau Gerhard ließ es sich nicht nehmen und führte ihren neuen Gast persönlich in das Zimmer, durch dessen Fenster man genau auf das Lessing-Denkmal sah. Zu dem Raum gehörte ein kleines Badezimmer. Super, endlich der ersehnte Übernachtungskomfort! Ihr wisst doch noch, wie ich sonst immer untergebracht war. Hier stand sogar ein kleiner, grüner Fernseher auf einer Kommode. Kennt ihr die Fernseher noch, die nur einen Drehknopf für die drei Programme hatten? Nach der Inspektion des Zimmers schaltete ich das Gerät kurz ein. Das rauschende Schneebild aus schwarzen und weißen Punkten wich nach kurzer Zeit einer farblosen Nachrichtensprecherin, die ich nach einer weiteren Minute auch zu hören bekam:

»Hamburg! Wie uns gerade mitgeteilt wurde, gab es letzte Nacht an der U-Bahn-Station Gänsemarkt ein weiteres Mordopfer. Ein junger Mann, dessen genaues Alter noch unbekannt ist, wurde in den Morgenstunden bei Schneeräumarbeiten gefunden. Dieser ist das dritte Opfer in den vergangenen drei Wochen. Die Polizei hat in einer kurzen Pressekonferenz angedeutet, dass es sich bei dem Mörder mit hoher Wahrscheinlichkeit um einen Serientäter handelt … In den USA kann Präsident Reagan seine einjährige Amtszeit feiern. Rückblickend auf das erste Jahr, meinen einige …«

Jetzt schneite es nicht nur draußen, sondern auch wieder auf dem Bildschirm. Da half kein an der Antenne rütteln und kein Klopfen auf das Gerät. Ich stellte es ab und öffnete den Koffer. Um mir einen Überblick über meine Habseligkeiten zu verschaffen, breitete ich den Inhalt auf dem Bett aus. Zwei Jeanshosen, Unterwäsche, Pullover, Hemden. Keine Pflegemittel. Wo ich hier doch so ein tolles Badezimmer habe. Aber einen aufklappbaren Reisewecker gab es als Bonus. Ich räumte die Sachen in den Schrank. Bekommt eigentlich jeder, der in die Geschichten reist, seine Kleidergröße? Wie geht das?

Dann nahm ich das Hamburger Abendblatt und setzte mich an den Tisch. Aufmerksam studierte ich den Schlächterartikel und erfuhr mehr Details als von der Schwarz-Weiß-Tante aus dem Röhrenapparat. Das Schwarzgedruckte verkündete, dass die beiden jungen Männer, die in den vergangenen Wochen getötet wurden, erst Anfang zwanzig gewesen waren und dass seit Ende letzten Jahres von drei Männern im gleichen Alter jede Spur fehle. Dazwischen wurde ein Zusammenhang vermutet. Der Autor des Artikels nannte auch den Namen des Mannes, der die Ermittlungen leitete: Hauptkommissar Wallace. Danach erging sich der reißerische Text in Spekulationen: Vieles würde darauf hindeuten, dass hinter dem Ganzen eine satanische Gemeinschaft stecke, die den Wolf verehre und sicherlich auch für den Wolfsdiebstahl aus dem Hamburger Tierpark verantwortlich sei, der sich kurz vor dem ersten Mord ereignet hatte. Der Marktschreierartikel endete mit: Bis jetzt waren die Opfer nur Männer Anfang zwanzig. Trotzdem sollte sich keiner in diesen Zeiten zu sicher fühlen … Denn wer weiß, vielleicht könnte es bald jeden jederzeit treffen!

***

Gegen Mittag verließ ich meine neue Bleibe, um mich, wenn möglich, etwas genauer am Tatort umzusehen. Doch da gab es nichts zu entdecken, alles war weggeräumt. Keiner der Passanten blieb mehr stehen, um sich umzuschauen. Der einzig Neugierige war ich, dessen Neugierde am Ende doch noch belohnt wurde. Denn etwas abseits des Leichenfundorts entdeckte ich ein Amulett, genauer gesagt ein Pentagramm, das an einem Lederband hing. Das silberne Ding hatte einen Durchmesser von ungefähr vier Zentimetern. Wie konnte die Polizei das nur übersehen? Ob es mit den Morden zusammenhängt oder hat es einer der Schaulustigen verloren?

Zum ersten Mal in all meinen Abenteuern war mir meine Aufgabe sehr schnell klar: Diese Geschichte drehte sich um die Morde, kein Zweifel. Hier in Hamburg war es nicht so wie in der Karibik, wo ich erst einige Seemeilen überwinden musste, um zu erfahren, worum es in Die Festung eigentlich ging.

Dafür hatte ich große Schwierigkeiten mir zu vergegenwärtigen, dass ich mich wirklich in einem meiner Abenteuer befand. An diesem Ort war mir einfach alles so viel vertrauter als in den anderen Geschichten des Torbuches, die ich bereits durchlebt hatte. Auch wenn ich Hamburg in Wirklichkeit zum ersten Mal 1991 mit meinen Eltern besucht hatte, um das Phantom der Oper in der Neuen Flora zu sehen. Danach waren wir zwei- bis dreimal pro Jahr in der Stadt. Entweder in einem Musical oder im Ohnsorg-Theater, und auch den Gänsemarkt hatte ich in dieser Zeit kennengelernt.

Meine Eltern … in den letzten zwei Jahren musste ich immer seltener an sie denken. Sie wären sicher stolz auf mich, wenn sie wüssten, dass ich Willis Laden übernommen habe. Und meine innige familiäre Beziehung zu Willi und Doris würde sie bestimmt beruhigen. Sie hatten die beiden schließlich auch sehr gemocht. Was würden meine Eltern wohl zu den Torbuch-Erlebnissen sagen? Mutter wäre vermutlich ganz ängstlich und Vater hätte mir das Buch mit Sicherheit weggenommen − nur um dann selbst darin zu verschwinden. Vielleicht wären wir gemeinsam in das Buch gereist. War das eigentlich möglich? Was würde passieren, wenn zwei Menschen ihre Hände gleichzeitig auf einen Titel im Torbuch legten?

Jedenfalls hätte sich mein Vater so eine Gelegenheit nicht entgehen lassen. Er war ein Abenteurer, wie oft war er mit mir zelten und fischen gegangen! Und dann die ganzen aufregenden Dinge, die ich mit ihm in der von ihm geleiteten Pfadfindergruppe erlebt hatte. Ach ja, und die riesigen Kuchen meiner Mutter, über die wir Pfadfinder uns jedes Mal wie eine Meute Wölfe hermachten. Meine Mutter … sie hatte immer als Erste die Hand gehoben, wenn in der Pfadfindergruppe Fahrer gebraucht wurden.

All die Erinnerungen. Nach dem Tod der beiden hatte ich sie einfach nicht ertragen. Deshalb war ich auch aus der Pfadfindergruppe ausgetreten. Jetzt kommt es mir vor, als wären die Erlebnisse meiner Jugend auch nur Abenteuer aus dem Buch. Und meine Eltern? Sie waren dabei wie die Freunde, die ich jedes Mal zurücklassen musste, wenn ich eine Geschichte verließ. Dieser Gedanke gefällt mir, denn es könnte doch vielleicht sein, dass meine Eltern in einer Parallelwelt weiterlebten?

Doch kommen wir wieder zurück zu unserer Geschichte, wo mein Blick gerade auf ein Gebäude der Deutschen Post landete. Instinktiv machte ich mich auf den Weg dorthin. Ich wollte nur eines, nach Hause telefonieren. Technisch war es möglich, aber praktisch? Aus der Reihe an Telefonbüchern der verschiedenen Regionen Deutschlands suchte ich das passende Verzeichnis heraus. Doch ich fand weder Peter Francis noch Willi Funke und das brachte mich wieder zurück in diese Welt der Nichtexistenz. Oder existiert meine Welt zu Hause ebenso wenig? Ich klappte das Telefonbuch zu und ließ es in den Ständer zurückgleiten, wo es genau wie meine Gedanken noch ein bisschen hin- und herpendelte. Ich hätte gerne noch einmal mit meinen Eltern gesprochen. Bei dem Gedanken lief mir allerdings ein kalter Schauer über den Rücken. Denn wenn das möglich gewesen wäre, hätte ich auch mit mir selbst sprechen können. So hatte ich einen Beweis mehr dafür, dass es sich bei den Geschichten nicht um Zeitreisen handelte, sondern eher um eine gleichartige Parallelwelt.

In den nächsten beiden Stunden verschwand meine melancholische Stimmung allmählich. Ich machte mich vertraut mit der Umgebung und stöberte in den Seitenstraßen des Gänsemarktes. Als Letztes schlenderte ich in die Drogerie Bukowski. Dort deckte ich mich mit ein paar Badezimmerartikeln ein. Zahnbürste, Zahnpasta, Rasierzeug, Deo, Duschgel, Shampoo und auch ein paar Tempotaschentüchern. Die sind bei diesem Wetter bestimmt angebracht. Hatschi! Als ich beim Bezahlen das überquellende Portemonnaie sah, überlegte ich mir, einen Teil des Geldes lieber irgendwo zu deponieren, um nicht immer alles mit mir herumschleppen zu müssen. Zurück in der Pension fragte ich also, ob es so etwas wie einen Safe gäbe. Es gab einen. Ich bekam einen Umschlag von Frau Gerhard und schob viertausendfünfhundert Mark hinein. Meine Wirtin quittierte den Empfang und schloss den Umschlag in ihrem Panzerschrank im Büro ein.

Ich ging in meine Kajüte, wie ich mein Zimmer in Erinnerung an mein letztes Abenteuer nannte, und deponierte die Drogerieartikel im Badezimmer. Anschließend begab ich mich nach unten in den kleinen Speiseraum, wo eine ordentliche Portion Rindsgulasch mit Nudeln auf mich wartete. Nach dem Essen verbrachte ich einige Zeit mit dem Abendblatt und der Fernsehzeitschrift. Dann – so gegen sieben Uhr – machte ich mich auf den Weg zum Albatros. Ich wollte mit den Einheimischen in Kontakt treten. Ich hoffte, dass ich so mehr über die Morde erfahren würde. Quasi aus erster Hand ohne schwarz-weiße Nachrichtensprecherin und Druckerschwärze. Im Flur vor meinem Zimmer traf ich auf Frau Gerhard und erzählte ihr von meinem Vorhaben, ausgehen zu wollen.

»Seien Sie bitte recht vorsichtig, Herr Francis, vor allem bei den U-Bahn-Stationen«, entgegnete sie fürsorglich.

»Warum gerade da?«

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22 декабря 2023
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9783981431391
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