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Abbildungen

Abbildung 1: Schüler*innen der vierten Klassen der Mittelschule St. Veit/Gölsen (Johann Gastegger)

Abbildung 2: Fenster der Erinnerung der Mittelschule St. Veit/Gölsen (Johann Gastegger)

1 Allgemeinbildende Höhere Schule

2 Berufsbildende Mittlere/Berufsbildende Höhere Schule

3 Polytechnische Schule

4 Vgl. https://wien.orf.at/stories/3047858/ und https://zpb.phwien.ac.at/wp-content/uploads/Kurzfassung_Studie_Sch%C3%BClerinnen-Wissen-zu-Nationalsozialismus-4.pdf, Zugriff: 12.11.2020

5 Bezirk Scheibbs im Mostviertel

6 http://town-wiener-neustadt.at/, Zugriff: 18.01.2021

Anke Kramer
Nachhaltige Blütenlese
Aspekte einer Literaturdidaktik der Pflanzen (Tieck, Droste-Hülshoff, Olfers)
1. Einleitung

Eine Didaktik, die sich kulturelle Nachhaltigkeit zum Ziel setzt, muss ihr Interesse auf die Pflanzen richten. Pflanzen sind mit Nachhaltigkeit schon begriffshistorisch eng verknüpft, denn der Begriff der Nachhaltigkeit wurde durch Hans Carl von Carlowitz’ forstwissenschaftliche Schrift Sylvicultura oeconomica (1713) entscheidend geprägt (vgl. u.a. Schlechtriemen 2019, 29–34). Pflanzen sind die Basis des Lebens auf der Erde; ohne Pflanzen gäbe es keine Tiere und keine Menschen. Das aktuelle Massensterben der Pflanzen erfährt allerdings deutlich weniger öffentliche Aufmerksamkeit als das der Tiere. Zu einem großen Teil liegt dies sicherlich an einem Phänomen, das „Plant blindness“, Pflanzenblindheit, genannt wird (Wandersee & Schussler 1999): das weitverbreitete Unvermögen von Menschen, Pflanzen angemessen wahrzunehmen und wertzuschätzen. Ziel einer Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) muss eine verstärkte Wahrnehmung und Wertschätzung von Pflanzen sein, die auch deren kulturelle Dimension sichtbar macht und dadurch Grundlagen und Motivationen für nachhaltiges Handeln schafft.

Die Literaturdidaktik kann dazu einen wichtigen Beitrag leisten; auf welche Weise dies geschehen kann, zeigen die folgenden Überlegungen auf. Literarische Entwürfe von Pflanzen beleuchten deren ästhetische Dimensionen, machen ihren Anteil am Handeln sichtbar, reflektieren das Verhältnis zwischen Pflanzen, Menschen und den übrigen Wesen der Natur, machen auf das Wissen aufmerksam, das Pflanzen übertragen, und rücken die ethischen Fragen ins Bewusstsein, die mit ihnen verknüpft sind. Ein Literaturunterricht, der an kultureller Nachhaltigkeit orientiert ist, kann, so argumentiere ich, diesen Anregungen, Verknüpfungen und Problemen gezielt nachgehen und Schülerinnen und Schüler dadurch anregen, Pflanzen in ihren materiellen und semiotischen Zusammenhängen mit den übrigen, menschlichen und nichtmenschlichen, Wesen der Natur wahrzunehmen. Zugleich kann er Strategien bereitstellen, um komplexe literarische Texte zu erfassen und unter einer aktuell relevanten Perspektive neu zu lesen. Grundlagen dafür sind die Begriffe und Methoden der kulturwissenschaftlichen Pflanzenforschung (Plant Studies) und der themenorientierten Literaturdidaktik.

Dieser Beitrag stellt drei literarische Entwürfe von Pflanzen aus dem langen 19. Jahrhundert vor, die sich für die Lektüre mit Schülerinnen und Schülern eignen, und befragt sie aus der Perspektive der aktuellen kulturwissenschaftlichen Pflanzenforschung auf ihr Potenzial für eine Didaktik kultureller Nachhaltigkeit hin: Ludwig Tiecks Erzählung Die Elfen, die 1811 für den Phantasus entstand; Sibylle von Olfers’ Bilderbuch Etwas von den Wurzelkindern (1906); Annette von Droste-Hülshoffs Gedicht Der Knabe im Moor (1841/42). Aus der Vielzahl möglicher Aspekte, unter denen die Pflanzen in der deutschsprachigen Literatur im Kontext einer Literaturdidaktik der Pflanzen gewinnbringend zu betrachten wären, greife ich dabei die der anthropomorphen Darstellung von Pflanzen heraus. Anthropomorphe Pflanzendarstellungen können im Sinne des neueren Ecocriticism ‚gegen den Strich‘ als dem Anthropozentrismus entgegenwirkende Textverfahren gelesen werden (z.B. Iovino & Opperman 2012, 82; Moore 2008, 11). Solche Lesarten lenken die Aufmerksamkeit auf Ähnlichkeiten zwischen Pflanzen und Menschen, auf agentielle Potenziale von Pflanzen, ihren zentralen Stellenwert im Ökosystem als Lebensgrundlage der Tiere und Menschen sowie ihre ästhetischen Besonderheiten.

2. Plant Studies

Bis vor Kurzem wurden Pflanzen in den Literatur- und Kulturwissenschaften wenig beachtet, sie wurden als Teil der Szenerie betrachtet oder als Symbole oder Metaphern gelesen, die externe Bedeutungen übertragen. Hier setzen die kulturwissenschaftlichen Plant Studies an,1 die sich derzeit als neues Forschungsfeld formieren und seit Kurzem auch in der Literaturdidaktik aufgegriffen werden:2 Sie richten den Blick gezielt auf Pflanzen in ihrer medialen Vermittlung, auf ihre Aktivität, ihren Beitrag zum Handeln, das von ihnen übertragene Wissen, ihre ethische Dimension und ihr ästhetisches und poetologisches Potenzial. Basierend auf Ansätzen der Akteur-Netzwerk-Theorie, der Environmental Humanities und des Ecocriticism bemühen die Plant Studies sich um eine neue kritische Wahrnehmung der in Kunst und Kultur allgegenwärtigen Pflanzen und um eine ihnen angemessene Weise des Sprechens über sie.3 Roland Borgards Bemerkung über die Tiere lässt sich auf die Pflanzen übertragen: Sie sind „überall, und doch bedarf es einer eigenen Anstrengung, auf diese Allgegenwart angemessen zu reagieren.“ (Borgards 2016a, VII). Dazu ist ein erweiterter Begriff von agency (Wirksamkeit, Handlungsmacht) notwendig, der von Intentionalität und Rationalität abgekoppelt ist. Handeln ist nach dieser Auffassung nicht mehr nur Sache von Menschen und Tieren, sondern auch von unbeseelten und sogar unbelebten Wesen – Flüssen, Stürmen, Dingen, Bakterien, Viren und natürlich Pflanzen. Sie alle können am Handeln teilhaben, wie die Akteur-Netzwerk-Theorie, die Philosophie Donna Haraways und der auf beiden aufbauende New Materialism lehrt. Durch diesen erweiterten Begriff des Handelns und durch die Historisierung und Kontextualisierung der inszenierten Pflanzen gehen die Plant Studies über Motivanalysen hinaus.4 Eine zentrale Fragestellung einer von den Plant Studies informierten Lektüre ist: In welcher Weise verändern die Pflanzen in einem Text „eine gegebene Situation […], indem [sie] einen Unterschied mach[en]“ (Latour 2007, 123), wodurch sie mit Bruno Latour zu Akteuren werden? In welcher Weise tragen sie zum Handeln bei? Mit welchen Verfahren stellt der jeweilige literarische Text die agency von Pflanzen dar und her? Welche Wechselwirkungen gehen Pflanzen mit den übrigen – menschlichen und nichtmenschlichen – Wesen ein, wie sind sie mit ihnen verwoben? Mit welchen Textverfahren werden Pflanzen von anderen Wesen abgegrenzt, und wie stabil oder porös sind diese Grenzen? Und welche poetologischen Verfahren basieren auf der Dynamik der Pflanzen?

3. Ludwig Tieck: Die Elfen (1811)

Ludwig Tiecks Märchen Die Elfen (1811) eignet sich als Lektüre für die Sekundarstufe und kann als paradigmatischer Text für die Erkundung der Verwobenheit von Pflanzen und Menschen in der Romantik gelten. Es ist die Geschichte des Mädchens Marie, das mit seinen Eltern in einer besonders grünen, fruchtbaren Gegend lebt. Die Idylle wird in den Augen von Maries Eltern und deren Nachbarn durch einen dunklen Tannengrund gestört, der im Gegensatz zu den Obstbäumen, Feldern und grünen Wiesen der übrigen Gegend das menschliche Verlangen nach Nahrung und Schönheit nicht zu stillen vermag. Eines Tages entdeckt Marie, dass sich in diesem Tannengrund der wunderbare Garten der Elfen verbirgt, in dem zugleich Tulpen, Rosen und Lilien blühen und Kirschen, Aprikosen und Erdbeeren reif sind. Marie freundet sich mit dem Elfenmädchen Zerina an, das ihr die innersten Zusammenhänge der Natur offenbart: Die Elfen verwalten die vier Elemente und teilen die Ressourcen der Natur zu, sie sind für das Gedeihen der Pflanzen und die Fruchtbarkeit der Erde verantwortlich. Als Marie zu ihren Eltern zurückkehrt, sind sieben Jahre vergangen. Marie heiratet den Nachbarssohn Andres und bekommt eine Tochter, die sie Elfriede nennt; eines Tages beobachtet sie Elfriede beim Spiel mit ihrer ehemaligen Elfenfreundin Zerina. Als Maries Mann jedoch einmal wieder über den Tannengrund und seine Bewohnerinnen schimpft, zeigt Marie ihm Zerina und verstößt damit gegen das Gebot, niemandem von den Elfen zu erzählen. Die Elfen verlassen das Land und die Gegend verödet; Marie und ihre Tochter sterben.

Urte Stobbe bemerkt, dass Die Elfen „zur kritischen Reflexion des Mensch-Natur-Verhältnisses an[regen]“, weil sie „ein ‚anderes‘ Wissen über die Zusammenhänge in der Natur transportieren.“ (Stobbe 2017, 153 u. 161). Tatsächlich erzählt das Märchen eine Geschichte über kulturelle Nachhaltigkeit (und die Folgen, die nicht nachhaltiges Handeln haben kann). Pflanzen haben in dieser Erzählung eine Sonderrolle inne. Sie agieren in vielfacher Hinsicht als Verbindungsstifter zwischen der Menschen- und der Elfenwelt (vgl. Kramer 2021b). Ein wichtiger Aspekt dabei ist, dass die Pflanzen zentrale Elemente in der Liebesbeziehung zwischen den Menschen- und Elfenmädchen sind, und zwar nicht nur als Metaphern und Symbole, sondern als aktiv Beteiligte.

Fasse dich fest mit mir, sagte [Zerina], und Marie schlang die Arme um den zarten Leib. Da fühlte sie sich empor gehoben, denn die Bäume erwuchsen unter ihnen mit der größten Schnelligkeit; die hohen Pinien bewegten sich und die beiden Kinder hielten sich hin und wider schwebend in den roten Abendwolken umarmt und küßten sich […]. (Tieck 1984b, 311)

Maries und Zerinas Liebe findet ihren Ausdruck und auch eine Form von Erfüllung (die Umarmungen und Küsse) in der gemeinsamen Himmelfahrt auf den magischen Pinien.

Tieck inszeniert die Elfen in diesem Märchen als Personifikationen der vier Elemente und ihrer Produkte, insbesondere der Pflanzen. Die Liebe Maries und Elfriedes zu ihrer Elfenfreundin Zerina lässt sich als Entwurf einer von Liebe geprägten, libidinösen Beziehung zu einer im Gegenzug freundlichen, nährenden und lebenserhaltenden Natur lesen. Sie zeugt von Tiecks intensiver Auseinandersetzung mit den Schriften Jacob Böhmes (vgl. Goetze 2011; Lüer 1997). Tiecks Elfen verweisen auch auf die Pflanzendarstellungen seines Bewunderers Philipp Otto Runge, die ebenfalls von Jacob Böhme inspiriert sind (vgl. Dönike 2011). Runges Illustrationen von Tiecks Sammlung Minnelieder aus dem Schwäbischen Zeitalter zeigen einander umarmende und küssende Kinder auf Blüten, deren Größenverhältnis die herkömmliche hierarchische Beziehung zwischen Menschen und Pflanzen infrage stellt: Die menschlichen Figuren sind auf Blumengröße geschrumpft (Abb. 1).


Abbildung 1: Philipp Otto Runge: Illustration aus Tieck, Ludwig (1803) (Hrsg.), Minnelieder aus dem Schwäbischen Zeitalter. Berlin: Realschulbuchhandlung, S. 284 (Bayerische Staatsbibliothek München Res/P.o.germ. 1469).

Wenn Kinder auf Blüten sitzen oder sogar, wie in diesem Beispiel, anstelle von Stempel und Staubgefäßen aus diesen herausragen, so gehen menschliche und vegetabile Natur bruchlos – wenn auch auf durchaus merkwürdige Weise – ineinander über. In Runges Werk Der Morgen (Abb. 2) sitzen drei einander umarmende Kinderpaare auf einer im Verhältnis riesigen Lilienblüte, die in den geröteten Himmel ragt.


Abbildung 2: Philipp Otto Runge: Der Morgen (1. Fassung), 1808, Hamburger Kunsthalle (Detail), aus: Walther, Ingo (1995) (Hrsg.), Malerei der Welt. Köln: Taschen, S. 453.

Runge imaginiert hier im Anschluss an Böhme die Beziehung zur übrigen Natur als Liebesbeziehung. Auch Tiecks Marie tritt im Elfengarten in eine Beziehung der Liebe mit der Natur ein. Nach den von Böhme inspirierten Lehren der Naturphilosophie, auf die Tieck im Phantasus immer wieder verweist,5 müsste sie beste Chancen auf ein gelingendes Leben haben. Doch Tiecks Märchen erzählt etwas anderes. Es berichtet davon, dass die Menschen nicht dazu in der Lage sind, solch ein Naturverhältnis für längere Zeit, auf nachhaltige Weise also, aufrechtzuerhalten. Sie sind mit der nichtmenschlichen Natur zwar in komplizierten Interdependenzen verwoben, haben jedoch kaum Handlungsmacht und können die Natur nie vollständig verstehen oder gar beherrschen; allenfalls vermögen sie ihre eigenen Lebensgrundlagen zu zerstören.

4. Sibylle von Olfers: Etwas von den Wurzelkindern (1906)

Eine optimistischere Perspektive auf das Miteinander menschlicher und vegetabiler Natur vertritt Sibylle von Olfers in ihrem kinderliterarischen Klassiker Etwas von den Wurzelkindern (1906). Die Wurzelkinder sind jeweils einzelnen Pflanzen verschiedener Arten zugeordnet und personifizieren diese Pflanzen ähnlich wie manche antiken Nymphen (Daphne den Lorbeer, Syrinx das Schilfrohr, die Oreaden, Dryaden und Hamadryaden jeweils bestimmte Bäume). Im Frühling ziehen sie von ihren unterirdischen Schlafplätzen auf die Erdoberfläche und sorgen dadurch für das Erblühen der Natur; im Herbst flüchten sie vor Wind und Kälte mitsamt ihren Blumen wieder unter die Erde. Dabei sind, dem auch heute noch verbreiteten Stereotyp vom weiblichen als dem schönen Geschlecht entsprechend, die Wurzelmädchen den Blumen (Maiglöckchen, Veilchen, Seerose etc.), die Wurzeljungen dagegen den Gräsern (Weidelgras, Zittergras, Roggen-Trespe) zugeteilt. Während die Wurzelmädchen bunte Kleider in der Farbe der Blüte ihrer Blume tragen, sind die Kittel der Wurzeljungen allesamt grün. Alle Kinder tragen ein Exemplar der ihnen zugeordneten Pflanze vor sich her; einige der Gräser, welche die Wurzeljungen halten, sind in auffallend phallischer Form dargestellt (vgl. Abb. 3).


Abbildung 3: Sibylle von Olfers (o.J.): Etwas von den Wurzelkindern. Eßlingen am Neckar. 60. Aufl. München: J.F. Schreiber.

Die Zuordnung der Mädchen zu Blumen und der Jungen zu Gräsern bietet im Unterricht die Gelegenheit, den tradierten Topos von Frauen als Blumen vorzustellen und zu hinterfragen. Wieso sind in Olfers’ Bilderbuch keine Gräser Mädchen und keine Blumen Jungen zugeordnet (erst im letzten Bild des Buchs, das die chaotische Wirkung des Herbstwinds zeigt, ist diese sonst streng durchgehaltene Ordnung andeutungsweise aufgelockert)? Was sagt dies über die dadurch vermittelten Vorstellungen davon aus, wie Jungen und Mädchen sein sollten? Welche Auswirkungen haben diese Vorstellungen für die Menschen – könnte ein Zusammenhang dieser Vorstellungen von Geschlecht mit der Tatsache bestehen, dass Frauen beim Erscheinen dieses Bilderbuchs noch kein Wahlrecht hatten? Ist von diesen Vorstellungen auch heute, über hundert Jahre später, noch etwas zu bemerken? Hier wie in vielen anderen Fällen zeigt sich, dass die pflanzenorientierte Literaturdidaktik Teil eines gendersensiblen Literaturunterrichts sein muss.6 Die Perspektive auf die Pflanzen kann dazu beitragen, bereits im Literaturunterricht der Grundschule den Konstruktionscharakter von Geschlecht und der damit verbundenen Rollenerwartungen ins Bewusstsein zu rufen, anschaulich werden zu lassen und in seinen Wirkungen und Konsequenzen zur Diskussion zu stellen.

In den Wurzelkindern sind ähnlich wie in Philipp Otto Runges Pflanzendarstellungen die Größenverhältnisse so verändert, dass die Kinder auf Blättern von Blumen sitzen können, zum Beispiel denen der Seerose (Abb. 4).


Abbildung 4: Sibylle von Olfers (o.J.): Etwas von den Wurzelkindern. Eßlingen am Neckar. 60. Aufl. München: J. F. Schreiber.

Die Größe der auf fast jedem Bild dargestellten Insekten – Käfer, Libellen, Ameisen, Schmetterlinge – macht deutlich, dass hier nicht die Pflanzen größer, sondern die menschlichen Figuren kleiner als in der Realität gezeichnet werden. Die kleine Gestalt der Wurzelkinder, die auf die englischen fairies insbesondere der literarischen und volksmythologischen Tradition verweist (Williams 1984, 795), zieht die herkömmliche Hierarchie von Menschen und Pflanzen in Zweifel: Wenn die menschlichen Figuren nicht größer sind als die Blumen und Gräser, wenn sie mit diesen im Frühling erscheinen und im Herbst wieder unter der Erde verschwinden, dann ist ein Naturverhältnis denkbar, in dem die Menschen eher gleichgeordnete companion species (Haraway) als Herrscher über die Natur sind. Im Unterricht wäre eine lohnende Frage die nach den Veränderungen, die sich für das Verhältnis zu den übrigen Wesen der Natur ergeben würden, wenn Menschenkinder so klein wie die Wurzelkinder wären: Was wäre dann möglich, was wäre schwieriger?

5. Annette von Droste-Hülshoff: Der Knabe im Moor (1841/42)

Die Interaktionen menschlicher und nichtmenschlicher Wesen erkundet Annette von Droste-Hülshoff systematisch in ihren Naturgedichten (vgl. Detering 2020; Kramer 2021a). Darin stellt sie Pflanzen und Tiere nicht isoliert, sondern in ihren jeweiligen Umwelten dar, zu denen Wasser, Wind, Sonne, Steine, Pflanzen, Tiere, Menschen und auch die Geister gehören. In Drostes wohl berühmtestem Gedicht, Der Knabe im Moor, nehmen die Pflanzen des Moors auf unheimliche Weise menschliche Züge an.

O schaurig ist’s über’s Moor zu gehn,

Wenn es wimmelt vom Haiderauche,

Sich wie Phantome die Dünste drehn

Und die Ranke häkelt am Strauche,

Unter jedem Tritt ein Quellchen springt,

Wenn aus der Spalte es zischt und singt,

O schaurig ist’s über’s Moor zu gehn,

Wenn das Röhricht knistert im Hauche!

(Droste-Hülshoff 1985, S. 67f., v. 1–8)

Wenn „die Ranke häkelt am Strauche“, „[w]enn aus der Spalte es zischt und singt“, wenn (in der dritten Strophe) das „Gestumpf “ am Ufer hervor „starret“ und die Föhre „[u] nheimlich nicket“, dann sind das Moor und seine Vegetation menschenähnlich beseelt, bevor noch die Geräusche am „Hage“ und im „Geröhre“ als Äußerungen individueller und mit einem Narrativ verknüpfter Gespenster identifiziert werden. Die Grenzen zwischen menschenähnlich handelnden – singenden, starrenden, nickenden – Pflanzen und menschlichen Figuren verschwimmen auf unheimliche Weise. Die Geister haben teil an den Wechselbeziehungen in Drostes Poetik der Natur und sind mit den übrigen Wesen der Natur verwoben. Anstatt aber der Wildnis der Heide einen heimeligen Kulturraum entgegenzusetzen, macht Droste im Rückgriff auf Figuren des Volksglaubens die wilden, unheimlichen und unbeherrschbaren Kräfte sichtbar, die das Menschliche wie das Nichtmenschliche durchziehen.

6. Kulturelle Nachhaltigkeit und literarisches Lernen mit Plant Studies

Eine pflanzenorientierte Lektüre der hier vorgestellten Texte kann Schülerinnen und Schülern den Kerngedanken eines Konzepts der Natur vermitteln, von dem sowohl die aktuellen Naturwissenschaften als auch die Environmental Humanities ausgehen: dass Menschliches und Nichtmenschliches in der Natur nicht kategorisch voneinander zu trennen, sondern in komplizierten Interaktionen miteinander verwoben sind.7 Dieses Naturkonzept liegt gegenwärtigen Theorien der Nachhaltigkeit zugrunde (für einen Überblick vgl. Kluwick & Zemanek 2019). Es ist die Voraussetzung, um komplexe ökologische Zusammenhänge z.B. des Klimawandels oder des Artensterbens zu begreifen. Deshalb ist ein Verständnis dieses Naturkonzepts zentraler Bestandteil einer Bildung für nachhaltige Entwicklung, die im UNESCO-Weltaktionsprogramm gefordert und vom Bundesministerium für Bildung und Forschung in einem nationalen Aktionsplan umgesetzt wird: „Bildung für nachhaltige Entwicklung ermöglicht es jedem Einzelnen, die Auswirkungen des eigenen Handelns auf die Welt zu verstehen und verantwortungsvolle Entscheidungen zu treffen.“8 Anders als in den naturwissenschaftlichen Fächern können im Literaturunterricht die ökologischen Zusammenhänge nicht nur aufgezeigt und kognitiv begreiflich gemacht, sondern als individuelle ästhetische Erfahrung emotional erfassbar werden. Diese Lernprozesse beschreibt die kulturökologische Literaturdidaktik, sie stellt deshalb die Basis einer Adaption der Plant Studies im Literaturunterricht dar (vgl. z. B. Grimm & Wanning 2016).

Ein von den Plant Studies informierter Ansatz im Literaturunterricht kann zudem ein Instrument sein, um literarisches Lernen zu fördern. Den Blick auf die Pflanzen in einem Text zu fokussieren, kann als Methode eingesetzt werden, um komplexe Texte zu erschließen. Eine pflanzenorientierte Lektüre eröffnet neue Möglichkeiten zum literarischen Lernen, indem sie (1) zur genauen Textwahrnehmung anleitet, (2) Strategien zur Bewältigung komplexer Texte vermittelt und (3) Literatur als Medium der Übertragung, Vermittlung und Produktion kulturhistorischen Pflanzen-Wissens und damit als „nachhaltige For[m] kultureller Praxis“ (Zapf 2019, 361) präsentiert. Wie funktioniert das? Auf welche Weise kann ein pflanzenorientierter Ansatz dazu beitragen, den Schülerinnen und Schülern bei schwierigen Texten die Augen für ein „intensives, vertieftes literarisches Verstehen“ zu öffnen und ihnen „den Erwerb literarischer Kompetenz als Gewinn erfahrbar“ (Spinner 2006, 7) zu machen, also die von Kaspar Spinner formulierten Ziele jeden Literaturunterrichts zu erreichen?

Die themenorientierte Literaturdidaktik schlägt vor, im Unterricht thematische Achsen zu legen, anhand derer die Schülerinnen und Schüler sich den Text erarbeiten.9 Die Perspektive in einer Unterrichtseinheit auf die Pflanzen zu fokussieren, eröffnet einen gangbaren Weg durch den komplexen Text, eine thematische Achse des Verstehens, die in weiteren Unterrichtseinheiten durch weitere Achsen ergänzt werden kann: Im Fall von Tiecks Elfen wären dies etwa die Themen romantische Erkundung des Unbewussten, frühromantische Poesie, Architektur, Industrialisierung und Modernisierung; auch die Tiere wären einer eigenen Betrachtung wert.

Im Unterrichtsgespräch der Pflanzen-Einheit ist zu fragen: Wo kommen im Text Pflanzen vor? Sind sie an dieser Stelle Metapher oder Teil der erzählten Wirklichkeit? Wer findet noch eine versteckte Pflanze, die bisher niemand genannt hat? Welche Funktion haben die Pflanzen jeweils, welche Bedeutungen sind an welchen Stellen mit ihnen verknüpft, welche menschlichen Figuren interagieren auf welche Weise und mit welchem Ergebnis mit ihnen, was bewirken sie, und mit Bruno Latour: welchen Unterschied machen die Pflanzen in der jeweils erzählten Situation?

Ein pflanzenorientierter Ansatz im Literaturunterricht kann auf diese Weise einen Beitrag zu einer Bildung für nachhaltige Entwicklung leisten, der auch die „kulturelle Dimension der Nachhaltigkeit“ (Kluwick & Zemanek 2019b, 11) sichtbar macht. Eine Literaturdidaktik der Pflanzen zu entwickeln, ist deshalb dringend geboten.

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1316 стр. 111 иллюстраций
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9783706561921
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