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|71|Neues Testament

Reinhard von Bendemann

Die Fülle der Gnade – Neutestamentliche Christologie
1. Einleitung

Eine von ihren jeweiligen Sprachformen und soziohistorischen Bedingungen ablösbare Lehre von Christus kennen die neutestamentlichen Schriften nicht. Streng genommen müsste man den Begriff »Christologie« im Blick auf die neutestamentlichen Befunde immer in Anführungszeichen setzen. Unterscheidungen und Beschreibungsbegriffe, wie sie sich erst in der späteren systematischen Theologie eingebürgert haben, stoßen im Neuen Testament auch sonst an Grenzen. So ist eine klare Differenzierung von »Christologie« und »Soteriologie« nicht durchführbar. Zwar gibt es im Neuen Testament immer wieder Texte, in denen es vorrangig nur um ein Handeln oder bestimmte Attribute Jesu resp. Christi geht (Phil 2,6–11; 1Tim 3,16; Hebr 2,9 u.a.); doch ist von »Jesus« bzw. »Christus« grundsätzlich und von Anbeginn an in allen frühchristlichen Stimmen nie ohne eine Deutung die Rede, die – so oder so – immer die Frage nach dem (zukünftigen) Ergehen von Einzelnen oder Gruppen einschließt. Insofern könnte man das Diktum Melanchthons auf das Christuszeugnis des ganzen Neuen Testaments beziehen, wonach Christus erkennen nicht seine »Naturen« zu erkennen bedeutet, sondern vielmehr die von ihm erwirkten Heilstaten (Melanchthon 1521: Introductio/Einführung, 13 [22f.]).

Angesichts der Dynamik der Entstehung, Etablierung, Entwicklung und Verbreitung von Aussagen der frühen Christen über den, den sie als ihren Herrn anrufen, angesichts der zeitlichen und regionalen|72| Differenzierungen und angesichts der Fülle von Sprachformen und Gattungen neutestamentlicher Christologie(n) steht jede Anordnung einer Gesamtdarstellung vor erheblichen Problemen.

Als nicht durchführbar erweist sich zunächst der Versuch, die Christusaussagen des Neuen Testaments auf bestimmte kleinere Grundbauformen zurückzuführen. Entsprechende Versuche wurzeln in der älteren formgeschichtlichen Erforschung des Neuen Testaments. Zwar gibt es in nahezu allen neutestamentlichen Schriften ältere formulare Sätze resp. »Bekenntnisaussagen«, die von den späteren Schriftstellern dann aufgegriffen werden konnten (vgl. z.B. 1Kor 15,3–5). Doch lassen sich die neutestamentlichen Christusaussagen insgesamt nicht in die Systematik einer sukzessiven »Entfaltung« solcher »Vorgaben« einordnen. Vielfalt, Eigenständigkeit und »Sprünge« in den Texten stehen solchen Versuchen entgegen.

Dieses Problem betrifft auch den Ansatz bei den sogenannten »Hoheitstiteln« für Jesus in der älteren neutestamentlichen Forschung. Zwar ist richtig, dass Titel bzw. Attribute wie »Christus«, »Sohn Gottes«, »Kyrios/Herr«, »Davidsohn« oder auch der »Menschensohn« in der neutestamentlichen Literatur vielfach eine hervorgehobene Stellung innehaben. Doch dürfen sie nicht wie feststehende Entitäten behandelt werden. Die »Titel« werden vielmehr jeweils erst durch konkrete Erzählungen oder briefliche Kontexte in ihrem Sinn bestimmt. Zudem zeigen die verbesserten Kenntnisse über das zeitgenössische Judentum: Die »Titel« sind in vielen Fällen keineswegs trennscharf zu fassen; vielmehr gibt es z.B. bei Attributen wie »Christus«, »Sohn Gottes«, »König«, »Davidsohn«, »Spross Davids« (vgl. Jes 11,1), (endzeitlichem) »Prophet« und »Priester« zahlreiche Überblendungsmöglichkeiten. Der Sinngehalt entsteht damit als Interferenz von traditionsgeschichtlichen Deutungen und kontextuell-situativen Bezügen. Man darf folglich nicht scharf konturierte Definitionen suchen, sondern muss die jeweiligen Korrelationen und Übergänge analysieren.

Auch der Versuch, die verschiedenen christologischen Konzepte lokal zu identifizieren, d.h. sie bestimmen Orten auf der Landkarte des Frühchristentums wie Jerusalem, Antiochia, Alexandria oder Rom zuzuweisen, ist für das 1. Jahrhundert zum Scheitern verurteilt.|73| Unsere Quellen können solche Zuordnungsmöglichkeiten in vielen Fällen nicht stützen. Sie stehen auf tönernen Füßen.

Religionsgeschichtliche Ordnungsversuche, die christologische Aussagen auf ihre Nähe oder Ferne zum Judentum hin befragen, sind aus vielerlei Gründen schwierig. Das Problem betrifft zum einen die beiden Pole jüdischer und hellenistischer Vorstellungen. Oft lag in der Forschung der Akzent allzu einseitig auf dem hellenistischen Pol. Von hier aus betrachtete man das frühe Judentum in verfehlter Weise als einen quasi homogenen Bezugspunkt, von dem man sich abgrenzte. Zum anderen aber kam es von hier aus zu Fehlurteilen über das religiöse Feld des frühen Christentums. Man meinte, relativ trennscharf Judenchristentum und Heidenchristentum unterscheiden und als Stationen eines chronologischen Nacheinanders begreifen zu können. Demgegenüber stellt sich das frühe Christentum in seiner Geschichte vielschichtiger und facettenreicher dar. Entgegen einer älteren Forschungsmeinung hat es z.B. ein vitales und in sich vielfältiges Judenchristentum noch lange Zeit nach der Zerstörung des Zweiten Tempels 70 n. Chr. gegeben.

Neben den vorgenannten Ordnungsmodellen, die sich in einem weiteren Sinn als historisch verstehen lassen, werden in der jüngeren Erforschung neutestamentlicher Christologie(n) stärker systematische bzw. theologisch motivierte Strukturkonzepte diskutiert.

In biblisch-theologischer Perspektive wird nach Deutungen Jesu in den frühchristlichen Schriften mit Hilfe und im Licht alttestamentlicher Prätexte gefragt. Gesamtbiblische Annäherungen an das Christuszeugnis des Neuen Testaments gehen von dem Befund aus, dass die Bibel (das »Alte Testament«) das Lebensbuch der ältesten Christen war und diesem in vielen Fällen eine produktive Funktion bei der Entwicklung von Christusaussagen zuzuschreiben ist. Die biblisch-theologische Forschung hat erhebliche Fortschritte in der Untersuchung der intertextuellen Bedeutung einzelner biblischer Schriften für die christologischen Konzepte neutestamentlicher Texte erzielt, etwa des Jesajabuches für die Christologien des Lukas oder des Paulus oder des Ezechielbuches für die Christusvorstellungen der Johannesoffenbarung. Der Ansatz bewährt sich damit |74|zunächst bei Einzelschriften. Dagegen kann die Frage nach dem vetus testamentum in novo receptum/nach dem Alten Testament, soweit es im Neuen Testament rezipiert wird, als solche nicht zu einer tragfähigen Gesamtsystematik der Darstellung neutestamentlicher Christologie(n) führen. Auch besonders wichtige alttestamentliche Prätexte wie z.B. Ps 22, 69, 110, 118 oder Jes 53 erschließen kein gleichmäßig tragfähiges und übergreifendes Netzwerk von Verweisen und nehmen in der Rezeption insgesamt an den dynamischen Variierungs- und Vervielfältigungsprozessen teil, die sich oft schwer ordnen lassen. Weiter führt dagegen die Frage nach der Rezeption übergreifender narrativer Zusammenhänge und Motivkomplexe wie dem Exodus, dem Sinaigeschehen oder theologischen Traditionsgefügen wie der (Neu‑)Schöpfungsvorstellung u.a. Sodann ist die theologische Perspektive im engeren Sinn strikt als Klammer der beiden Testamente zu begreifen (siehe hierzu den Beitrag von Markus Witte in diesem Band). Bei alldem darf die Bedeutung des frühen Judentums in den Prozessen der Rezeption und Vermittlung biblischer Texte nicht abgeblendet werden.

Gesamtkanonische Annäherungen (»canonical approaches«) an die neutestamentlichen Christusaussagen sehen sich ferner vor das Problem gestellt, dass der christliche Kanon selbst keine Größe der neutestamentlichen Zeit ist; er kommt erst am Ende des 4. Jahrhunderts zu einem Abschluss.

Grundsätzlich gilt: Alle Versuche die Stoffe historisch, traditionsgeschichtlich, kanonisch o.ä. zu ordnen, basieren auf hermeneutischen Prämissen und systematischen Entscheidungen; sie sind durch die jeweilige Perspektive auf den Textbestand und die damit verbundenen zeitgeschichtlich und theologiegeschichtlich relevanten Vorstellungen und Interessen bestimmt. Besonders betrifft diese Einsicht Fortschritts- und Entwicklungsmodelle, die verschiedenen Ordnungsmustern zugrundeliegen bzw. sich in ihnen auswirken können. Oft wird z.B. – explizit oder implizit – vorausgesetzt, dass die Christusaussagen in den ersten beiden Jahrhunderten allmählich und zunehmend an »Höhe«, d.h. an Nähe zur Göttlichkeit Gottes, gewonnen hätten. Solche Ordnungsmuster erinnern an den Angler, der einen Fisch fing und dessen Fisch in seinen späteren Erzählungen über die Jahre immer größer wird. Ein solches Schema |75|verfehlt jedoch die Befunde im Frühchristentum. So ist es keineswegs der Fall, dass Vorstellungen wie die der Erhöhung Jesu in eine göttliche Machtstellung oder die der Präexistenz Christi erst spät am Ende einer langen Entwicklung festzustellen wären (siehe z.B. unten 3. zu Paulus).

Angesichts der genannten Probleme ist im Folgenden so zu verfahren: Gegenstand und Ausgangspunkt einer Darstellung neutestamentlicher Christologie(n) können zunächst nur die gegebenen neutestamentlichen Schriften in ihrer Vielfalt und Distinktheit sein. Die Reihenfolge lautet: Vom Text her zur Geschichte, wo dies sinnvoll und notwendig ist. Die erste Aufgabe besteht immer darin, möglichst genau zu beschreiben und zu verstehen, wie Jesus Christus in den jeweiligen Einzelschriften dargestellt, erzählt, profiliert etc. wird. Auszugehen ist grundsätzlich von der Endgestalt dieser Schriften. Erst von hier aus ist nach einer möglichen diachronen Vorgeschichte bzw. Tiefenstruktur einzelner Christusaussagen angemessen zu fragen; erst von hier aus sind auch alttestamentlich-intertextuelle Bezüge adäquat zu bewerten; erst von hier aus können Versuche ansetzen, die Frage nach einer soziohistorischen Verankerung von christologischen Positionen in der Geschichte des Frühchristentums zu beantworten.

Ist die Endgestalt der Einzelschriften im Folgenden der Ausgangspunkt, so verdient hierbei die Fülle der verschiedenen Sprachformen besondere Beachtung. Es bedeutet z.B. einen gravierenden Unterschied, ob Aussagen über Christus im paränetischen Schlussteil eines Briefes (ggf.: der peroratio/Redeschluss) oder im Finale einer Erzählung begegnen. Hermeneutische Vorbemerkungen zu den einzelnen Abschnitten sollen den Blick für diesen Befund schärfen.

Der Zugriff auf die neutestamentlichen Schriften kann dabei nur punktuell bzw. exemplarisch erfolgen. Nach den christologiegeschichtlich so wichtigen Paulusbriefen wird das Markusevangelium als Beispiel einer narrativen Christologie vorgestellt. Weiterhin verdient das vierte Evangelium als eigenständig profilierter Entwurf, der für die altkirchliche Christologie eminent folgenreich wurde, besondere Beachtung. Sodann findet sich in der Konzeptualisierung Jesu als wahrer Hohepriester im Hebräerbrief die innerhalb |76|des Neuen Testaments singuläre Rezeption und Weiterentwicklung einer hellenistisch-jüdischen Messianologie, welche von der Priestersalbung her ansetzt. Schließlich wird nach der apokalyptisch konturierten Christologie im letzten Buch der Bibel gefragt.

Zuletzt stellt sich nochmals die Frage nach Ordnungsmomenten, Kohärenzen und Invarianten im vielfältigen Christuszeugnis der neutestamentlichen Schriften.

Eine unvermeidliche Sonderstellung nimmt der erste Abschnitt zum irdischen resp. »historischen« Jesus von Nazaret ein, insofern hier nicht von einem zusammenhängenden Schriftencorpus ausgegangen werden kann und sich die oben angesprochenen Probleme eines historischen Zugangs zugespitzt stellen.

2. Jesus von Nazaret als Grund neutestamentlicher Christologie(n)
2.1. Hermeneutische Vorbemerkung

Im Gefolge der sogenannten dialektischen Theologie galt in der protestantischen Theologie des 20. Jahrhunderts die Frage nach dem irdischen Jesus für die neutestamentliche Christologie und Theologie als faktisch irrelevant. Im Fokus stand stattdessen der geglaubte und gepredigte »übergeschichtliche« Christus (vgl. Kähler 1969). Im Rahmen der neutestamentlichen Wissenschaft fand diese Position wirkkräftigen Ausdruck in den Beiträgen Rudolf Bultmanns. Für Bultmann, so kann man in Weiterführung des berühmten ersten Satzes seiner »Theologie des Neuen Testaments« (Bultmann 1953: 1) feststellen, gehört Jesus unter die Voraussetzungen neutestamentlicher Christologie, aber nicht in diese selbst hinein. Bereits in Bultmanns Jesusbuch war diese Sichtweise angelegt. Bultmann war dabei insofern seiner Zeit voraus, als sein Ansatz es ihm erlaubte, den irdischen Jesus ohne hermeneutische Schwierigkeiten in den Kontext des zeitgenössischen Judentums einzuordnen (vgl. Bultmann 1926: 18–22), wohingegen viele seiner Schüler ihn mit einem scharf gefassten Differenzkriterium gegen das frühe Judentum ausspielten: Als jesuanisch galt, was Jesus aus |77|dem Judentum heraushob. Bultmanns Ausklammerung Jesu aus einer (entwickelten) neutestamentlichen Christologie erwies sich dabei als problematisch. Zur Begründung wurde oft 2Kor 5,16 als Referenzstelle herangezogen. Doch wendet sich Paulus hier gegen die Art und Weise des Erkennens, nämlich nach dem Fleisch (adverbial), nicht aber gegen den irdischen Jesus.

Es zeigte sich insgesamt, dass die Extrapolation Jesu aus der neutestamentlichen Christologie trotz aller methodischen Schwierigkeiten in vielerlei Hinsicht fragwürdig war, so dass seit den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts die Rückfrage nach dem »historischen« Jesus neu eröffnet wurde. Allerdings erwies sich dabei die Tendenz, Jesus gegenüber dem Judentum sowie auch gegenüber der späteren Zeit der Kirche zu isolieren, als weiterhin äußerst problematisch. Demgegenüber beachtet die durch den sogenannten »third quest for the historical Jesus« initiierte Forschung u.a. stärker Kriterien der Kohärenz und wirkungsgeschichtlichen Plausibilität historischer Annäherung (Theißen/Merz 2001: 21–31). Die älteste Jesusbewegung wird gegenwärtig intensiv als innerjüdische Erneuerungsbewegung erforscht. Jesus war ein besonderer, ein »radikaler« bzw. »marginaler« Jude (vgl. Meier 1991–2011 u.a.).

In methodischer Hinsicht hat die Forschung der letzten drei Jahrzehnte zudem gezeigt, dass ein historisches »Suchen und Finden« unter modernen Bedingungen in den als »Quellen« betrachteten Evangelien und weiteren antiken Texten als naiv gelten muss; insbesondere sind im historischen Urteilen die Rahmenbedingungen der antiken Erinnerungskultur zu beachten. »Erinnerung« kann und darf nicht neuzeitlich-subjektiv konstruiert werden, sondern beschreibt eine transsubjektive Repräsentanz im Gedächtnis der frühen Christen und ihrer grundlegenden Dokumente.

2.2. Anfänge und Kontexte

Jesus stammte aus einer jüdischen Familie und trug einen jüdischen Namen; er bedeutet auf Hebräisch soviel wie »JHWH hilf(t)«. Dass Jesus Vorfahren im weit verzweigten Davidstamm besaß (vgl. Röm 1,3f.), ist denkbar. Von Bedeutung ist die Einordnung Jesu in |78|das zeitgenössische Galiläa. Jesus kam aus Nazaret, einem Ort, der so unbedeutend war, dass der frühjüdische Geschichtsschreiber Josephus, der Galiläa aus eigener Anschauung kannte, ihn in seiner Darstellung des Jüdischen Krieges nicht einmal erwähnt. Primärer Wirkraum Jesu war sodann das Umfeld des galiläischen Sees (Kapharnaum, Chorazin, Betsaida, Dalmanuta u.a.).

Zwar kann Galiläa aufgrund seiner Vorgeschichte in einzelnen Quellen als »Galiläa der Heiden« gelten (Mt 4,15f./Jes 8,23–9,1; vgl. 1Makk 5,15). Doch darf man dies für die neutestamentliche Zeit nicht als Beschreibung ethnischer Identitäten der Bevölkerung auffassen. Galiläa war vielmehr seit der Wende vom 2. zum 1. Jahrhundert v. Chr. durch die Rejudaisierungsmaßnahmen der Hasmonäer zu einem überwiegend jüdischen Terrain geworden.

Ausgangspunkt der Praxis und Verkündigung Jesu bot dabei zunächst die prophetische Gerichtsbotschaft Johannes des Täufers (vgl. Lk 3,7–9.16f. par.). Dieser hatte – wie Jesus (vgl. Mk 1,16–20; Lk 9,57–62 par. u.a.) neben und nach ihm – »Jünger«; zu ihnen zählte wahrscheinlich auch Jesus, der sich von Johannes taufen ließ (vgl. Mk 1,9–11 par.). Eine bleibende Kontinuität zwischen Jesus und Johannes zeigt sich im Umkehrruf (vgl. Mk 1,14f.) und der prophetischen Gerichtsansage – vielfach unter Verwendung ähnlicher Metaphernfelder (vgl. Lk 6,43–45 par.; 13,6b–9; 17,23–37 par. u.a.). Der Täufer offerierte seine sündenvergebende Taufe als den einzigen Ausweg aus der unheilvollen Gesamtsituation Israels (vgl. Mk 1,4; Lk 3,3 par.). Die synoptischen Evangelien berichten nicht davon, dass Jesus die Taufpraxis des Johannes fortgeführt hat; historisch ist dies gleichwohl zu erwägen (vgl. Joh 3,22–24; 4,1). In den christlichen Quellen wird Johannes mehr und mehr (vgl. schon Mk 1,2f.7f.) die Rolle eines Wegbereiters und Vorläufers Jesu zugewiesen. Welche auslösenden Faktoren es dafür gab, dass Jesus sich zu Johannes an den Jordan begab und bald zu einem Wanderprediger wurde und ob es ein visionäres Berufungserlebnis gab (oft wird hierfür auf Lk 10,18 verwiesen), muss unsicher bleiben.

|79|2.3. Wundertätigkeit und Ansage der Präsenz der Königsherrschaft Gottes

Der vom Täufer bald differierende besondere Anspruch artikuliert sich zunächst in der dämonenbannenden und heilenden Praxis Jesu. Ausweislich aller frühen Quellen agierte Jesus als Exorzist und Therapeut. Neben den Instrumenten eines Dämonenbanners (Ausfahrbefehle u.a.) kommen manuelle Praktiken und volkstümliche medizinische Mittel wie Speichel bei Heilungen zum Einsatz (Mk 7,31–37; 8,22–26; Joh 9,1–7). Gebete zum Gott Israels spielen im Zusammenhang der Heilpraxis Jesu eine geringere Rolle. Dies bedeutet einen Unterschied zu frühjüdischen Wundertätern. Einige Wundererzählungen weisen auch in den Bereich schamanischer Kräfte, die Jesus in enger Interaktion mit natürlichen Abläufen bzw. diesen gegenüber souverän zeigen (vgl. Mk 4,35–41; 6,45–52 par. u.a.). Schon früh wird diese Wundertätigkeit Jesu insgesamt im Licht prophetischer Texte reflektiert. Besonders das Jesajabuch wirkt hier »christologiebildend« (vgl. Jes 26,19; 29,18f.; 35,5f.; 42,7.18; 61,1f.; vgl. Mt 11,5f. u.a.).

Die von der Erzählüberlieferung zu unterscheidende Wortüberlieferung bestätigt, dass in der charismatischen Heilkompetenz Jesu ein Kernbereich der besonderen, Aufmerksamkeit und Widerspruch erzeugenden (vgl. Mk 3,22–30 par.) Praxis Jesu zu erkennen ist. Jesus selbst deutet das heilvolle Geschehen, indem er eine Beziehung zum Schlüsselbegriff seiner Verkündigung herstellt, nämlich der Königsherrschaft Gottes (Lk 11,19f. par.). Die Evangelien schildern, wie mit dem Auftreten Jesu die Königsherrschaft Gottes selbst nahe kommt und sich Bahn bricht (vgl. Mk 1,14f. par.; Lk 17,20f. u.a.).

Diese Rede vom Reich Gottes resp. der Königsherrschaft Gottes zeigt Jesus zunächst, sehr allgemein gesprochen, als ein Kind der hellenistisch-römischen Zeit und Welt. In ihr war die Monarchie die allgemein bestimmende Staatsform. Entsprechend stellte man sich nicht nur im Judentum Gott (bzw. Götter) metaphorisch als König(e) vor. Im Umfeld der Wirksamkeit Jesu konnten sich Königs-Vorstellungen dabei zunächst mit den lokalen jüdischen Klientelregenten verbinden. Insbesondere spielt das Haus des Herodes|80| in den Evangelien eine wichtige Rolle (vgl. Herodes Antipas in Mk 6,14–16; Lk 13,31–33; vgl. die Herodianer in Mk 3,6; 12,13 par. Mt 22,16). Demgegenüber rekurriert Jesus auf die theologischen Voraussetzungen und Implikate. So wie es u.a. die JHWH-Königspsalmen voraussetzen (Ps 47; 93; 96–99), setzt der Gott Israels selbst seine souveräne Königswürde herrscherlich durch. Dies wird nun gegenwärtig mit Macht erfahrbar.

Jesu Rede von der Königsherrschaft Gottes ist also im Ansatz theozentrisch ausgelegt. Sie weist Berührungspunkte zur frühjüdischen Apokalyptik auf (siehe unten 6.1 zur Johannesoffenbarung). Die Gegenwart befindet sich an der Schnittstelle eines neuen Handelns Gottes an der Welt und seinem Volk bzw. Einzelnen in ihm. Man kann die Verkündigung Jesu ohne dieses eschatologische Vorzeichen nicht verstehen, wie es bereits anfangs des 20. Jahrhunderts Albert Schweitzer und Johannes Weiß gegen die uneschatologischen Jesusbilder der liberalen Theologie nachdrücklich gezeigt haben. In diesen eschatologischen resp. apokalyptischen Horizont sind z.B. die Seligpreisungen in Lk 6,20f./Mt 5,3-11 zu stellen: Glücklich, »selig«, sind die Armen, Hungernden und Weinenden nicht als solche, sondern weil Gott jetzt zu ihren Gunsten eintreten und ihr Geschick verwandeln wird. Die Königsherrschaft Gottes verweist jedoch nicht ausschließlich auf ein heilvolles Geschehen. Die Verkündigung und Praxis Jesu ist zugleich durch den Horizont eines kommenden Gerichtshandelns Gottes geprägt (vgl. sachlich Lk 22,30 par.). In diesen Zusammenhang gehört auch die in den Evangelien ausschließlich Jesus zugeschriebene Rede vom Menschensohn (siehe 4.2 zu Markus).

Für Jesus ist insgesamt die Vorstellung konstitutiv, dass der uranfängliche Wille Gottes, wie er sich mit seinem Schöpfungswerk verbindet, nun endzeitlich heilvoll und qualitativ vollgültig zur Geltung gebracht wird. Vom Willen des Schöpfers her bemisst sich z.B. die Begründung der Feindesliebe (vgl. Mt 5,45b). Von diesem Einsatzpunkt beim schöpferischen Willen Gottes her ist auch Jesu Haltung zur jüdischen Tora zu verstehen. Das »ich aber sage euch« der Antithesen (Mt 5,21–48) argumentiert nicht schriftgelehrt aus der Tora, so wenig diese auch kritisiert wird. Von Jesu souveränem Anspruch her ergeben sich sowohl Forderungen, die die Auslegung |81|der Tora verschärfen, als auch solche, die jenseits konkreter Tora-Gebote grundsätzlich neu ansetzen, so etwa im Fall der Ablehnung der Ehescheidung (vgl. Mk 10,1–9; Mt 5,32; ähnlich in Qumran). Der primäre Rückgriff auf die Schöpfung und ihre weisheitliche Erschlossenheit impliziert auch, dass die Praxis Jesu kulturelle, soziale und religiöse Grenzziehungen zu transzendieren vermag, die zeitgenössisch besonders von den Pharisäern verstärkt wurden. Deutlich wird dies z.B. an Jesu Kontakten zu aussätzigen und unreinen Menschen (vgl. Mk 1,40–45par.; Lk 14,1–6; 17,11–17 u.a.) und seiner Gemeinschaft mit Abgabenpächtern und Sündern (vgl. typisch: Lk 15,1–3).

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9783846342138
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