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12. Abschnitt: Täterschaft und Teilnahme

12. Abschnitt: Täterschaft und Teilnahme

Inhaltsverzeichnis

§ 49 Strafbarkeit juristischer Personen

§ 50 Die Lehre von der Beteiligung

§ 51 Mittäterschaft

§ 52 Mittelbare Täterschaft

§ 53 Anstiftung

§ 54 Beihilfe

§ 55 Besondere persönliche Merkmale

12. Abschnitt: Täterschaft und Teilnahme › § 49 Strafbarkeit juristischer Personen

Martin Paul Waßmer

§ 49 Strafbarkeit juristischer Personen

A.Einführung1

B.Historischer Überblick2 – 19

I.Vom Altertum bis zum Beginn der Neuzeit2 – 4

II.Von der Aufklärung bis zu den Weltkriegen5 – 9

III.Die Diskussion in der Bundesrepublik Deutschland10 – 19

C.Verantwortlichkeit von Verbänden im bisherigen Recht20 – 54

I.Verbandsgeldbuße (§ 30 OWiG)21 – 37

1.Entstehung, Zweck und Rechtsnatur21 – 27

2.Voraussetzungen der Festsetzung28 – 32

3.Bußgeldrahmen und Bußgeldzumessung33, 34

4.Verfahren und Vollstreckung35 – 37

II.Weitere Sanktionen und Maßnahmen38 – 54

1.Einziehung von Taterträgen (§§ 73 ff. StGB, § 29a OWiG)38 – 41

2.Mehrerlösabführung (§ 10 Abs. 2 WiStrG 1954)42, 43

3.Umsatzbezogene Geldbußen44, 45

4.Einziehung von Gegenständen (§ 74e StGB, § 29 OWiG)46, 47

5.Verwaltungsrechtliche Maßnahmen48 – 52

6.Registereinträge53, 54

D.Die Diskussion um die Einführung eines Verbandsstrafrechts55 – 125

I.Dogmatische Aspekte55 – 84

1.Handlungsfähigkeit56 – 59

2.Schuldfähigkeit60 – 78

a)Schuldgelöstes Strafrecht61

b)Schuld = nur Individualschuld62

c)Schuld = auch Verbandsschuld63 – 78

aa)Verschulden der Mitglieder63

bb)Originäres Organisationsverschulden64 – 69

cc)Zurechnung des Verschuldens70 – 78

3.Straffähigkeit79, 80

4.Doppelbestrafung81, 82

5.Kollektivbestrafung83, 84

II.Rechts- und kriminalpolitische Aspekte85 – 119

1.Internationales und europäisches Recht86 – 91

2.Auslandsrechte92, 93

3.Individualverantwortung94 – 100

a)Beweisnot und Verschleierung95, 96

b)Pflichten von Individualtätern und Zurechnungsstrukturen97, 98

c)Individualstrafandrohung und Freistellungsklausel99, 100

4.Verbandsverantwortung101 – 119

a)Sanktionsinstrumentarium102 – 106

b)Verfolgung und Verfolgungspraxis107 – 110

c)Rechtsschutz und richterliche Kontrolle111, 112

d)Gerichtsverfahren und Öffentlichkeit113, 114

e)Unrechts- und Schuldgehalt sowie Angemessenheit der Sanktion115

f)Strafrechtliches Risiko und gesellschaftliche Verantwortung116 – 118

g)Prozessuale Regelungen119

III.Konzeptionelle Aspekte120 – 124

1.Vicarious liability-Modell121

2.Maßregelmodelle122

3.Modell originärer Verbandsverantwortlichkeit123

4.Zurechnungs- oder Repräsentationsmodell124

IV.Zusammenfassung125

E.Zum Entwurf eines Verbandsstrafgesetzbuchs (2013)126 – 133

I.Konzept und Ausgestaltung126 – 129

II.Bewertung130 – 133

F.Zum Entwurf eines Verbandssanktionengesetzes (2020)134 – 177

I.Konzept und Ausgestaltung134 – 159

1.Grundsätzliches134 – 137

2.Materiell-rechtliche Vorschriften138 – 150

3.Verfahrensvorschriften151 – 157

4.Verbandssanktionenregister158, 159

II.Bewertung160 – 177

1.Konzept161 – 164

2.Beseitigung von strukturellen Defiziten, insb. Verschärfung der Sanktionen165 – 171

3.Beseitigung von Anwendungs- und Vollzugsdefiziten, insb. Legalitätsprinzip172

4.Verfahrensvorschriften, insb. Berücksichtigung verbandsinterner Untersuchungen173 – 177

G.Fazit und Ausblick178

Ausgewählte Literatur

12. Abschnitt: Täterschaft und Teilnahme › § 49 Strafbarkeit juristischer Personen › A. Einführung

A. Einführung

1

Strafen können im geltenden deutschen Recht nur gegenüber natürlichen Personen (Menschen) verhängt werden: „Societas delinquere non potest“. Gegen juristische Personen und Personenvereinigungen ist bislang lediglich die Festsetzung einer Geldbuße nach § 30 OWiG vorgesehen (Rn. 21 ff.), die als „Verbandsgeldbuße“ bezeichnet wird, mitunter auch, den Hauptanwendungsbereich kennzeichnend, als „Unternehmensgeldbuße“. Der Blick in die Geschichte (Rn. 2 ff.) zeigt allerdings nicht nur, dass es in Deutschland früher Verbandsstrafen gab, sondern auch, dass schon sehr lange diskutiert wird, ob ein Verbandsstrafrecht (wieder) eingeführt werden soll. Diese Diskussion wird dogmatisch (Rn. 55 ff.) sowie rechts- und kriminalpolitisch (Rn. 85 ff.) geführt. Nach Schünemann[1] handelt es sich um das inzwischen „meistdiskutierte Problem der Wirtschaftskriminalität“, geht es doch um eine Schlüsselfrage des modernen Wirtschaftsstrafrechts. Gegenwärtig ist die Thematik erneut sehr aktuell, da Verbands- bzw. Unternehmensstrafrechte, ausgehend vom anglo-amerikanischen Rechtskreis, mittlerweile in fast allen EU-Staaten geschaffen wurden (Rn. 92). Es überrascht daher nicht, dass bereits im September 2013 vom Land Nordrhein-Westfalen der Entwurf eines „Verbandsstrafgesetzbuchs“ (VerbStrG) vorgestellt wurde (Rn. 17, 126 ff.). Mitte August 2019 legte das BMJV den ersten Referentenentwurf eines „Gesetzes zur Sanktionierung von verbandsbezogenen Straftaten (Verbandssanktionengesetz – VerSanG)“ vor (Rn. 18), dem am 21. April 2020 der finale Referentenentwurf (Rn. 19, 134 ff.) folgte.

12. Abschnitt: Täterschaft und Teilnahme › § 49 Strafbarkeit juristischer Personen › B. Historischer Überblick

B. Historischer Überblick

I. Vom Altertum bis zum Beginn der Neuzeit

2

Ob in der Römerzeit[2] der Satz „societas delinquere non potest“, der eine lange rechtskulturelle Tradition suggeriert, jemals galt, ist ungeklärt. Jedenfalls dürfte er kaum im heutigen Sinne verstanden worden sein, da dem römischen Recht das Konzept der juristischen Person fremd war. Überliefert sind Strafverfahren gegen die damals wichtigsten Verbände, die Provinzialstädte (municipii).

3

Aus der germanischen Frühzeit[3] sind Kollektivstrafen bekannt. Die Sippe, eine auf Blutsverwandtschaft beruhende Gemeinschaft, hatte auch rechtliche Bedeutung. Beging ein Angehöriger eine Straftat, konnte die Sippe des Opfers „Fehde“ gegen den Täter und dessen Sippe führen. Durch eine Ausgleichszahlung (Buße), welche die Sippe (i.d.R. in Form von Vieh) aufbringen musste, konnte auf die Fehde verzichtet bzw. diese beendet werden.

4

Im Mittelalter[4] gewannen zunehmend räumliche (Bauernschaften, Marktgenossenschaften, Land- und Stadtgemeinden) und personale Verbände (z.B. Bürgerverbände, Gilden, Zünfte) an Bedeutung. Die rechtlichen Grundlagen für die Bestrafung dieser Verbände, insb. mittels Geldstrafen, aber auch durch den Entzug von Privilegien, Reichsacht, Zerstörung und Eroberung, schufen die Lehrer des weltlichen und kirchlichen Rechts. Die Glossatoren nahmen an, dass es Personengesamtheiten gebe, die unabhängig vom Wechsel ihrer Mitglieder Träger von Rechten seien, und die Gesamtheit als solche zivil- und strafrechtlich verantwortlich sei. Die Kanonisten entwickelten das Konzept der juristischen Person, das durch eine von den Mitgliedern zu unterscheidende Rechtsfähigkeit, die „universitas“, charakterisiert war, der grds. die Delikts- und Straffähigkeit zugesprochen wurde. Dagegen vertrat Papst Innozenz IV auf dem Konzil von Lyon (1245) die Auffassung, die universitas sei handlungs- und deliktsunfähig und damit für weltliche und geistige Strafen unempfänglich („nihil potest facere dolo“; „impossible est quod universitas delinquat“). Nachfolgend bejahten allerdings einflussreiche Postglossatoren die Straffähigkeit. So unterschied Bartolo da Sassoferrato (1313–1357) zwischen eigentlichen Körperschaftsdelikten (delicta propia), bei denen die universitas Täter und das Mitglied Mittäter oder Anstifter ist, und uneigentlichen Körperschaftsdelikten (delicta impropia), bei denen dies umgekehrt sein sollte. Diese Auffassung wurde auch in Deutschland rezipiert. Man erkannte zwar, dass eine kollektive Bestrafung ungerecht sein konnte, und bemühte sich, Unschuldige (Kinder, Greise, Unzurechnungsfähige) freizustellen, dennoch bestanden Bestimmungen über die Bestrafung von Städten, Gemeinden, Gilden und Zünften wegen politischer bzw. wirtschaftlicher Delikte. So enthielt die Reichskammergerichtsordnung von 1555 Vorschriften über das Verfahren gegen Gemeinden wegen Landfriedensbruchs. Diese Verfahren wurden bis ins 18. Jahrhundert geführt.

II. Von der Aufklärung bis zu den Weltkriegen

5

In der Epoche der Aufklärung[5] erfolgte die Abkehr von der Verbandsstrafe. Als Auslöser gilt die damals viel beachtete Schrift „Observationes quaedam ad delicta Universitatum spectantes“ (1792/93) des Erlanger Professors Julius Friedrich von Malblanc (1752–1828), in der er sich gegen die Bestrafung von Körperschaften wandte. Malblanc wiederholte allerdings im Wesentlichen nur bereits bekannte Einwände: Weder sei eine Schuldzurechnung an „posteriori“ (Individuen, die erst nach Deliktsbegehung Mitglieder geworden sind) möglich, noch sei eine Körperschaft strafempfänglich, da sie mit den Mitteln des Strafrechts nicht bestraft werden könne. Die eigentlichen Gründe für die Abkehr werden daher zum einen darin gesehen, dass die Körperschaften während der Zeit des Absolutismus infolge der Festigung der landesherrlichen Gewalt erheblich an Bedeutung verloren hatten, so dass Prozesse immer seltener geworden waren. Zum anderen stand in der Epoche der Aufklärung die Freiheit des Individuums im Mittelpunkt, mit der die Bestrafung als Mitglied eines Kollektivs nicht vereinbar ist. Schließlich wird angeführt, dass der theologische Schuldbegriff, der die alleinige Geltung des Schuldprinzips und den Grundsatz der Personalität der Strafe beinhaltet (kein Mensch darf ohne eigene Sünde eine ewige Strafe erleiden), in säkularisierter Form über die Naturrechtslehren in den deutschen Idealismus und von dort in die Strafrechtswissenschaft gelangte.[6]

6

Bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts, im Jahr 1801,[7] stellte Paul Johann Anselm v. Feuerbach (1775–1833) fest: „Jedes Subjekt, welches als Subjekt eines Verbrechens betrachtet werden soll, muss notwendig ein Individuum sein. Eine moralische (mystische) Person und insbesondere eine Universitas […] ist keines Verbrechens fähig“. Friedrich Carl v. Savigny (1779–1861) begründete dies im Jahr 1840[8] auf Grundlage seiner (romanistischen) Fiktions- und Vertretertheorie folgendermaßen: „Das Criminalrecht hat zu thun mit dem natürlichen Menschen, als einem denkenden, wollenden, fühlenden Wesen. Die juristische Person aber ist kein solches, sondern nur ein Vermögen habendes Wesen, liegt also ganz außer dem Bereich des Criminalrechts. Ihr reales Daseyn beruht auf dem vertretenden Willen bestimmter einzelner Menschen, der ihr, in Folge einer Fiction, als ihr eigener Wille angerechnet wird. Eine solche Vertretung aber, ohne eigenes Wollen, kann überall nur im Civilrecht, nie im Criminalrecht, beachtet werden“. Dementsprechend schlossen das Bayerische (1813), Hannoversche (1840) und Hessische StGB (1841) die Strafbarkeit von Verbänden ausdrücklich aus. Im Preußischen StGB (1851) und später im RStGB (1871) galt die Bestrafung bereits als undenkbar, so dass auf eine Erwähnung verzichtet wurde. Die Rechtsprechung bestätigte diese Sichtweise. So stellte das RG im Jahr 1887[9] fest, dass der juristischen Person „als einem nur fingierten Rechtssubjekte die natürliche Handlungsfähigkeit und damit zugleich die strafrechtliche Verantwortlichkeit für dasjenige, was ihre Organe in ihrer Vertretung handeln, abgeht.“

7

Andererseits gab es Ende des 19. Jahrhunderts sehr einflussreiche Stimmen, die mit Blick auf die Industrialisierung, in der die Bedeutung von Unternehmen stark zugenommen hatte, und das angelsächsische Recht ein Verbandsstrafrecht befürworteten. Franz v. Liszt (1851–1919) führte 1881[10] an, „daß die Bestrafung ‚juristischer Personen‘ nicht nur rechtlich möglich, sondern auch innerhalb gewisser Grenzen nach dem von der englischamerikanischen Praxis gegebenen Beispiele de lege ferenda empfehlenswert wäre“; „die Voraussetzungen für die Handlungsfähigkeit der Kollektivpersönlichkeit auf dem Gebiete des Strafrechtes [seien] prinzipiell keine anderen als auf jenem des Civilrechtes oder […] öffentlichen Rechtes“; „andererseits ist die Kollektivpersönlichkeit auch Trägerin von Rechtsgütern (Vermögensrechte, Existenz), die strafweise geschmälert oder vernichtet werden können.“ Otto v. Gierke (1841–1921) stellte 1887[11] seine (germanistische) „Theorie der realen Verbandspersönlichkeit“ vor, wonach Verbände in der sozialen Wirklichkeit vorgefunden werden, „real“ sind und „selbst“ durch ihre Organe handeln (sog. Realitäts- und Organtheorie); danach waren Willens-, Handlungs- und Straffähigkeit von Verbänden zu bejahen. Zu einem Meinungsumschwung führte dies jedoch, trotz lebhafter Diskussion,[12] nicht.

8

Umso überraschender ist es, dass kurz nach dem 1. Weltkrieg mit § 357 RAO 1919 (später § 393 RAO) eine Bestimmung zur Strafbarkeit von Verbänden in das Nebenstrafrecht gelangte: „Wenn in Betrieben von juristischen Personen und Personenvereinigungen Steuerzuwiderhandlungen begangen werden, kann da, wo das Gesetz die Strafe für verwirkt erklärt, ohne daß ein Verschulden einer natürlichen Person festgestellt werden braucht, die Geldstrafe gegen die juristische Person oder Personenvereinigung selber erkannt und diese in die Kosten des Strafverfahren verurteilt werden.“ Offenbar wurde im Steuerrecht ein Bedürfnis für die Bestrafung gesehen; ob darin eine Durchbrechung der herrschenden Doktrin zu erblicken war, geht aus der Begründung nicht hervor.[13] Letztlich dürfte die Vorschrift – wie auch die Subsidiärhaftung der Betriebe (§§ 416 Abs. 1, 3; § 417 RAO) und die Subsidiärstrafe (§ 416 Abs. 2 RAO) – allein fiskalischen Interessen geschuldet gewesen sein. Die Vorschrift erlangte zudem nie praktische Bedeutung. Zum einen entschied das RG bereits 1926, dass die Bestrafung des Organs eine Sanktionierung des Verbands ausschloss.[14] Zum anderen wurde an Schuldvermutungstatbestände angeknüpft, die 1939 wegfielen.[15] Aufgehoben wurden die §§ 393, 416, 417 [R]AO jedoch erst 1967.[16]

9

In der Weimarer Republik sprach sich Richard Busch in seiner 1931/32 entstandenen Habilitationsschrift zu den „Grundfragen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit der Verbände“ für die Verbandsstrafe aus.[17] Seine beim Erscheinen 1933[18] geäußerte Vermutung, dass dieses „alte Problem“ „im höchsten Maße aktuell“ geworden sei, da im „totalen Staate […] unter den Zweckerwägungen, die die strafrechtliche Verantwortlichkeit der Verbände als angebracht erscheinen lassen, die Interessen der Volksgemeinschaft und der Staatsführung stärker betont werden als im Parteienstaat individualistischer Prägung“, bewahrheitete sich nicht. Während der Zeit des Nationalsozialismus wurde daran festgehalten, dass nur Menschen strafbar sein können.[19]

III. Die Diskussion in der Bundesrepublik Deutschland

10

Nach dem 2. Weltkrieg wurde die Diskussion neu entfacht, da besatzungsrechtliche Vorschriften des Devisen- und Kartellrechts Kriminalstrafen gegen juristische Personen und Vereinigungen vorsahen.[20] Die Gerichte waren bei der Anwendung dieser Strafvorschriften, die als Ausdruck angelsächsischen Rechtsdenkens galten, jedoch sehr zurückhaltend, und es entbrannte Streit darüber, ob sie überhaupt daran gebunden waren.[21] Der BGH bejahte dies schließlich 1953[22] im Berliner Stahlhändlerurteil: Es widerspreche zwar dem „bisherigen deutschen Rechtsdenken, […] gegen juristische Personen oder sonstige Personengesamtheiten eine Kriminalstrafe zu verhängen“, da sie „nicht zu dem im deutschen Recht entwickelten sozialethischen Schuld- und Strafbegriff [passt]“, dies ändere aber nichts an der Verbindlichkeit des gesetzten Besatzungsrechts, das insb. mit Blick auf § 393 RAO nicht gegen den inländischen „ordre public“ oder Art. 43 der Haager Landkriegsordnung verstoße.

11

Während der Großen Strafrechtsreform der 1950er und 1960er Jahre wurde die Einführung der Verbandsstrafe im Hinblick auf die soziale Machtstellung der Verbände erneut sehr lebhaft diskutiert. Bereits im September 1953 hatte sich der 40. Deutsche Juristentag eingehend damit befasst, ob es sich empfiehlt, die Strafbarkeit der juristischen Person einzuführen. Das Gutachten, die Referate und die Mehrheit der Teilnehmer lehnten dies ab.[23] Die zeitgenössische, lebhafte Diskussion zeichnete Rudolf Schmitt in seiner 1958 erschienenen Habilitationsschrift „Strafrechtliche Maßnahmen gegen Verbände“ nach.[24] Die Große Strafrechtskommission[25] sprach sich in ihrer 50. Sitzung (5. Dezember 1956) nach einer kontroversen Debatte ebenfalls mehrheitlich gegen eine Verbandsstrafe aus; bei der Endabstimmung votierte dann jedoch die Mehrheit dafür, in den AT zumindest eine Bestimmung aufzunehmen, wonach bei bestimmten Delikten des BT eine „Geldsanktion“ gegen juristische Personen zulässig sein sollte, um ihnen zugeflossene Gewinne und sonstige Vorteile abzunehmen und etwaige, der Allgemeinheit erwachsene Schäden auszugleichen. Später befasste sich der Sonderausschuß des Deutschen Bundestages für die Strafrechtsreform[26] auf seiner 23. und 24. Sitzung (5. bzw. 7. Oktober 1964) erneut damit. Während sich der Referent der SPD für die Einführung einer Geldstrafe aussprach, da es gerechtfertigt sei, „die für das Zivilrecht geltende Fiktion auch für das Strafrecht gelten zu lassen“, lehnte der Korreferent der CDU dies ab, da man gegenüber der „Kollektivschuld“ vorsichtig sein müsse und die Gleichstellung nicht möglich sei. Dagegen trat der Referent des BMJ, Erich Göhler, für die Einführung von Geldbußen gegen juristische Personen ein und bekräftigte in der 57. Sitzung (13. April 1967), dies sei „der einzig vernünftige und richtige Weg“. Mit der Schaffung von § 23 OWiG 1968 (Rn. 17; dem späteren § 30 OWiG) wurde diese „Kompromisslösung“, die den Grundstein für ein Verbandsstrafrecht im weiteren Sinne legte (Rn. 26), umgesetzt.

12

In den 1970er Jahren befasste sich die vom Bundesjustizministerium der damaligen sozialliberalen Koalition (SPD/FDP; Brandt) berufene „Sachverständigenkommission zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität – Reform des Wirtschaftsstrafrechts“ u.a. mit der Frage der Unternehmenskriminalität. Die Kommission beauftragte Bernd Schünemann mit der Ausarbeitung eines Gutachtens, das 1979 publiziert wurde. Hierin prägte Schünemann zum einen den Begriff der „kriminellen Verbandsattitüde“ als zusammenfassende Bezeichnung für die kriminogenen Einflüsse, die einen einzelnen Mitarbeiter in einer Organisation zur Begehung einer Straftat bringen können.[27] Zum anderen prägte er auch den Begriff der „organisierten Unverantwortlichkeit“, um die drohende Beweisnot des Staates zu charakterisieren, wenn die zur Tatzeit bestehende Verantwortungsverteilung rekonstruiert werden soll.[28] In ihrem Schlussbericht hielt die Kommission an der Sanktionierung von Verbänden und Unternehmen mit Geldbußen (§ 30 OWiG) fest und empfahl lediglich den Ausbau des geltenden Rechts der Sanktionen.[29]

13

In den 1980er und 1990er Jahren bekam die Diskussion um die Einführung einer „echten“ Verbandsstrafe neue Nahrung. Der Großbrand bei der Sandoz AG in Schweizerhalle, die Havarie der Exxon Valdez vor Alaska und Embargoverstöße deutscher Firmen während und nach dem Zweiten Golfkrieg stießen auf große öffentliche Aufmerksamkeit und ließen Defizite sichtbar werden.[30] Anfang der 1990er Jahre erachteten mehrere Untersuchungen die Verbandsgeldbuße des § 30 OWiG nicht mehr als ausreichend und gingen überwiegend davon aus, ein Verbandsstrafrecht sei mit dem Schuldgrundsatz vereinbar.[31] Auch auf der Tagung der deutschsprachigen Strafrechtslehrer in Basel Ende Mai 1993 wurde die Unternehmensstrafbarkeit diskutiert.[32] Mitte der 1990er Jahre erarbeitete eine Expertengruppe um Bernd Schünemann im Rahmen des von der Thyssen-Stiftung finanzierten Programms „Deutsche Wiedervereinigung“ den „Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung der Unternehmenskriminalität“,[33] der als Maßregel eine sog. Unternehmenskuratel vorsah.

14

Im Juli 1997 stellte das Land Hessen, geführt von einer rot-grünen Landesregierung (SPD/Grüne; Hans Eichel), einen Diskussionsentwurf[34] vor, der die Aufnahme eines Achten Titels in den AT (Verbandsstrafe und Maßregeln, §§ 76b–76h StGB) vorschlug. Als Sanktion war insb. die Verbandsgeldstrafe vorgesehen, als Maßregeln sollten Weisungen und die treuhänderische Zwangsaufsicht möglich sein. Rund ein Jahr später stellte die 69. Justizministerkonferenz in Rostock-Warnemünde (17./18. Juni 1998) fest, im Hinblick auf die Unternehmenskriminalität und im Einklang mit der Entwicklung im Ausland und bei internationalen Rechtsinstrumenten bestehe die Notwendigkeit, die Sanktionsmöglichkeiten zu verbessern.[35] Bereits am 9. Juli 1998 präsentierte das Land Hessen einen Entschließungsantrag „zur Einführung strafrechtlicher Verantwortlichkeit für juristische Personen und Personenvereinigungen“ (BR-Drs. 690/98), der rund 11 Monate später, am 8. Juni 1999, durch die neue schwarz-gelbe Landesregierung (CDU/FDP; Roland Koch) zurückgenommen wurde (BR-Drs. 385/99).

15

Im Januar 1998 setzte der damalige, einer schwarz-gelben Koalition (CDU/CSU/FDP; Helmut Kohl) angehörende Bundesjustizminister Schmidt-Jortzig (FDP) eine Kommission zur Reform des strafrechtlichen Sanktionensystems ein, die aus Vertretern der Wissenschaft und Praxis, des Bundesjustizministeriums und der Justizverwaltungen der Länder bestand. Vorausgegangen war u.a. eine Große Anfrage der SPD-Fraktion zur „Besonderen Verantwortlichkeit von Unternehmen“ (BT-Drs. 13/9682). Bereits die vorbereitende Arbeitsgruppe[36] stand der Einführung der Verbandsstrafe skeptisch gegenüber und bezeichnete sie als „Weg in ein anderes Strafrecht“, das „vielschichtige Probleme in verfassungsrechtlicher, strafrechtlicher und strafverfahrensrechtlicher Hinsicht“ aufwerfe. Auf ihrer Sitzung am 29./30. November 1999[37] sprach sich die Kommission dann mit großer Mehrheit gegen die Einführung eines Unternehmensstrafrechts aus, da die bisherigen Sanktionsmöglichkeiten ausreichend seien und einer Implementierung der Verbandsstrafe gewichtige dogmatische und verfassungsrechtliche Bedenken entgegenstünden; empfohlen wurde der weitere Ausbau des vorhandenen Instrumentariums.

16

In den 2010er Jahren ist die Diskussion neu entbrannt. Verantwortlich hierfür dürfte nicht nur sein, dass mittlerweile fast alle EU-Staaten ein Verbands- bzw. Unternehmensstrafrecht eingeführt haben (Rn. 130), sondern auch, dass Großverfahren die Grenzen des bisherigen Systems aufzeigten und insb. die strafrechtliche Aufarbeitung der schweren Finanzkrise der Jahre 2008/09 als unbefriedigend angesehen wurde.[38] Im November 2011 befasste sich das 4. ECLE-Symposium[39] mit dem „Unternehmensstrafrecht“. Auf der Herbstkonferenz der Justizministerinnen und Justizminister am 15. November 2012[40] wurde erörtert, ob die Verhängung von Geldbußen „noch ausreicht“ und „noch zeitgemäß“ ist. Im April 2013 stellte die SPD-Fraktion im Bundestag den Antrag „Wirtschaftskriminalität effektiv bekämpfen“ und regte die Prüfung eines Unternehmensstrafrechts an.[41] Im September 2013 befasste sich die Gesellschaft für Rechtsvergleichung mit der Strafbarkeit juristischer Personen.[42]

17

Am 18. September 2013 präsentierte der nordrhein-westfälische Justizminister Thomas Kutschaty (SPD) den „Entwurf eines Gesetzes zur Einführung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Unternehmen und sonstigen Verbänden“ (Verbandsstrafgesetzbuch – VerbStrG)[43], der sich an das österreichische „Bundesgesetz über die Verantwortlichkeit von Verbänden für Straftaten“ (Verbandsverantwortlichkeitsgesetz, VbVG)[44] anlehnte (Rn. 120 ff.). Der Entwurf, der „demnächst“ in das Gesetzgebungsverfahren eingebracht werden sollte, wurde zwar von der Herbstkonferenz der Justizministerinnen und Justizminister am 14. November 2013[45] begrüßt, stieß aber im Schrifttum auf starke Vorbehalte (Rn. 130 ff.). Als Alternativvorschlag präsentierte der Bundesverband der Unternehmensjuristen (BUJ) im April 2014 einen Vorschlag zur Reform der §§ 30, 130 OWiG.[46] Der Entwurf des VerbStrG wurde bis Ende der Legislaturperiode nicht aufgegriffen, obwohl die Rahmenbedingungen als „günstig“[47] galten. Der Koalitionsvertrag der Großen Koalition (CDU/CSU/SPD; Angela Merkel) für die 18. Legislaturperiode von Ende November 2013 hatte in Aussicht gestellt, das Ordnungswidrigkeitenrecht auszubauen und ein „Unternehmensstrafrecht für multinationale Konzerne“ zu „prüfen“.[48]

18

In der Wissenschaft wurde die Diskussion um ein Unternehmensstrafrecht intensiv fortgeführt.[49] Anfang 2016 bildete sich in Köln im Rahmen eines von der Volkswagenstiftung finanzierten Forschungsprojektes eine Expertengruppe aus Wissenschaft, Justiz, Rechtsanwaltschaft und Ministerialverwaltung. Bereits am 6. Dezember 2017 wurde der „Kölner Entwurf eines Verbandssanktionengesetzes“ (VbSG-E) vorgestellt,[50] der materiell- und verfahrensrechtliche Regelungen vorsah und erneut Elemente des österreichischen VbVG aufgriff.[51] Im Januar 2018 wurden die „Frankfurter Thesen“ präsentiert, deren Verfasser für eine „parastrafrechtliche“ Regelung der Unternehmensverantwortlichkeit eintraten.[52] Auch der Verband der Chemischen Industrie e.V. (VCI) und der Berufsverband der Compliance Manager e.V. (BCM) setzten sich für die Modernisierung des Unternehmenssanktionsrechts ein.[53] Am 7. Februar 2018 kündigte die wiedergewählte Große Koalition in ihrem Koalitionsvertrag an, das Sanktionsrecht für Unternehmen neu zu regeln.[54] Mitte August 2019 präsentierte Bundesjustizministerin Christine Lambrecht auf einer Pressekonferenz den (ersten) Referentenentwurf eines „Gesetzes zur Bekämpfung der Unternehmenskriminalität“,[55] das in Art. 1 das „Gesetz zur Sanktionierung von verbandsbezogenen Straftaten (Verbandssanktionengesetz – VerSanG)“ enthielt. Der Entwurf wurde allerdings im Anschluss nicht offiziell freigegeben, was nahelegt, dass sich die Ressortabstimmung sehr schwierig gestaltete. Kurz darauf, am 5. September 2019, wurde der „Münchener Entwurf eines Verbandssanktionengesetzes“ vorgestellt, den Frank Saliger und die Kanzlei Tsambikakis & Partner mit Unterstützung des Verbandes „Die Familienunternehmer“ erarbeitet hatten. Dieser Entwurf versteht sich als „Gegenentwurf“,[56] da er kleine Verbände (Stiftungen, nicht wirtschaftliche Vereine und Unternehmen) aus dem Anwendungsbereich des Gesetzes herausnehmen möchte.

19

Am 21. April 2020 wurde vom BMJV der finale Referentenentwurf eines „Gesetzes zur Stärkung der Integrität in der Wirtschaft“ vorgelegt,[57] dessen Art. 1 eine modifizierte Fassung des Verbandssanktionengesetzes (VerSanG) enthält (Rn. 134 ff.). Der neue Titel des Entwurfs, der die Stärkung der Wirtschaft in den Mittelpunkt stellt, dürfte der Corona-Pandemie geschuldet sein, die im Frühjahr 2020 zu einem weltweiten „Lockdown“ führte und die Weltwirtschaft in die schwerste Rezession seit dem Zweiten Weltkrieg stürzte. Dem entspricht es, dass das BMJV in dem Schreiben, das die Verbände um Stellungnahme bis zum 12. Juni 2020 bat, ausführt, gerade in wirtschaftlich schweren Zeiten sei es wichtig, „die große Mehrzahl der Unternehmen zu stärken, die sich an die Regeln halten und die nicht die Notsituation vieler ausnutzen, um sich selbst ungerechtfertigte Vorteile zu verschaffen“. Ungeachtet der zahlreichen kritischen Stellungnahmen[58] und Änderungsvorschläge, die zum Referentenentwurf abgegeben wurden, präsentierte das BMJV bereits am 16. Juni 2020 überraschend den – inhaltlich weitestgehend unveränderten – Regierungsentwurf.[59] Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den Stellungnahmen fand demnach nicht statt. Am 18. September 2020 bat der Bundesrat in seiner Stellungnahme[60] zum Gesetzentwurf[61] die Bundesregierung, insbesondere die verfahrensrechtlichen Teile grundsätzlich zu überarbeiten und unterbreitete umfangreiche Vorschläge. Zuvor hatten der federführende Rechtsausschuss und der Wirtschaftsausschuss sogar die Ablehnung des gesamten Entwurfs empfohlen.[62] In ihrer Gegenäußerung vom 21. Oktober 2020 hat die Bundesregierung zum Ausdruck gebracht, dass sie am Entwurf festhält, und die Prüfung der Vorschläge in Aussicht gestellt.[63] Damit erscheint es möglich, dass das Verbandssanktionengesetz noch in dieser Legislaturperiode verkündet wird und nach einer Übergangsfrist von zwei Jahren (Rn. 135; der Bundesrat hat eine Verlängerung auf drei Jahre angeregt) in Kraft tritt.

12. Abschnitt: Täterschaft und Teilnahme › § 49 Strafbarkeit juristischer Personen › C. Verantwortlichkeit von Verbänden im bisherigen Recht

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