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Klara-Antonia Csiszar

Wohlauf

Existenzanalytische Zugänge und ihre Bedeutung für die Kirchenpraxis

♦ Die Logotherapie und Existenzanalyse nach Viktor E. Frankl gilt als die dritte Wiener Schule der Psychotherapie. Anthropologische Grundlage hierfür ist die Dimensionalontologie, auf der er seine Theorie und Therapiepraxis aufbaut. Unterschiedlichste Bereiche des modernen Lebens (Unternehmensberatung, Pädagogik, Seelsorge etc.) entdecken ihn und sein Menschenbild neu. Der Beitrag lädt dazu ein, die Logotherapie und Existenzanalyse als sinnzentrierte Therapie wie auch das Menschenbild und die Motivationstheorie nach Frankl kennenzulernen, um zu eruieren, welche Möglichkeiten sie für die Optimierung der kirchlichen Praxis zum Wohl des Menschen böten. (Redaktion)

Der Gegensatz von gesund ist krank und von Heil Unheil. Wenn wir hingegen den Ausdruck „wohlauf“ benutzen, meinen wir damit nicht nur eine körperlich, sondern auch eine seelisch gute Verfassung, eine Art ganzheitliches Heil. Aus Erfahrung wissen wir, dass Leib und Seele über eine Eigendynamik verfügen. Körperliche oder leibliche Gesundheit ist stets gefährdet, Krankheiten können sich trotz oder gerade auch im gesunden Leben einstellen, ihre Ursachen bleiben oft ungeklärt. Ärztliche, physiologische oder pharmakologische Behandlungen können uns beim Prozess der Genesung helfen. Ähnliche Erfahrungen machen wir bei seelischen Erkrankungen. In diesen Fällen haben wir aber oft mit innerpsychischen Interaktionen zu tun, und die therapeutischen Eingriffsmöglichkeiten stehen uns nur begrenzt zur Verfügung. Es ist klar, sowohl Seele als auch Körper können krank werden und der Weg der Heilwerdung ist oft lang und ein sehr unangenehmer Prozess der Re-Stabilisierung physischer oder psychischer Vorgänge.

Gibt es denn nichts Intaktes in unserem menschlichen Wesen, das nicht krank werden kann? Warum glauben manche Menschen kaum an Heilung und andere wiederum tun alles nur Mögliche, auch in den aussichtslosesten Situationen, um wieder gesund zu werden – das womöglich mit einer Lebenseinstellung, die Bewunderung hervorruft? Viktor E. Frankl behauptet, dass der Mensch nicht nur über eine seelische und körperliche Dimension seines Mensch-Seins verfügt, sondern auch über eine geistige Dimension, die eben nicht erkrankt, jedoch durch psychische und physische Krankheiten eingeschränkt werden kann: „[…] in Wirklichkeit ist der Mensch zwar eine leiblich-seelische Einheit, aber diese Einheit macht noch nicht den Menschen, macht nicht dessen Ganzheit aus, sondern zu ihr, zur wahren Ganzheit, gehört eben das Geistige wesentlich mit dazu.“1 Die geistige Dimension des Menschen macht es möglich, dass er, anders als Tiere, Triebe nicht abreagiert, auf Reize nicht nur reagiert, sondern in die Welt auch hineinagiert. Die geistige (noetische) Dimension des Menschen ist ein spezifisch menschliches Phänomen; sie zeigt sich in der Sinnstrebigkeit und in seiner Verantwortlichkeit sowie in seiner Fähigkeit, zu den Gegebenheiten Stellung zu nehmen. Aus dieser Überzeugung heraus gründete Frankl die erste sogenannte sinnorientierte Psychotherapie, die Logotherapie und Existenzanalyse als ihre philosophische und anthropologische Fundierung. In seinem sinnorientierten Konzept hat der Sinn im Leben des Menschen Heilungskraft und trägt dazu bei, dass auch der leidende Mensch ein qualitativ gutes Leben führen kann, trotz widrigster Umstände. Dieser Beitrag lädt in einem ersten Schritt dazu ein, die Logotherapie und die Existenzanalyse als sinnzentrierte Therapie kennenzulernen und dabei die Heilkraft des Sinnes zu entdecken. In einem zweiten Schritt werden mit fünf Thesen zur Person nach Frankl einige Anhaltspunkte für die kirchliche Praxis aufgegriffen und damit Anwendungsmöglichkeiten für dieselbe zum Wohl des Menschen vorgeschlagen.

1 Logotherapie und Existenzanalyse – eine kurze systematische Darstellung

Logotherapie und Existenzanalyse ist eine international anerkannte sinnzentrierte Psychotherapie, benannt auch als die Dritte Wiener Richtung der Psychotherapie. Nach der Psychoanalyse von Sigmund Freud und nach der Individualpsychologie nach Alfred Adler entwickelte der Wiener Arzt und Philosoph Viktor E. Frankl (1905–1997) die Logotherapie und Existenzanalyse.

1.1 Die Anfänge

Als der junge Arzt Viktor E. Frankl von 1933 bis 1937 im psychiatrischen Krankenhaus Steinhof in Wien den „Selbstmörderinnenpavillon“ leitete, wo er bis zu 3000 selbstmordgefährdete Frauen zu betreuen hatte, drehte er die damals selbstverständliche Gretchenfrage der Psychiatrie, warum denn diese Menschen krank würden, um, und fragte danach, was denn Menschen gesund hielte? Weshalb würden nicht alle Traumatisierten krank? In einer Studie mit 1000 gesunden Probanden befragte Frankl Frauen nach ihrem Grund, warum sie trotz miserabler Situationen nicht Suizid begangen hätten? Die Ergebnisse bestätigten, dass eine vom Menschen selbst erkannte Sinnperspektive ihn gesund hielte und vor psychischen Krankheiten schützte.2

1.2 Biographische Verifizierung der Logotherapie

Während des II. Weltkrieges erlebte Frankl in vier Konzentrationslagern hautnah die inhumansten Bedingungen mit und machte die Erfahrung, wie das Wissen um einen Sinn im Leben Kraft zum Überleben gibt:

„Und dann sprach ich schließlich noch von der Vielfalt der Möglichkeiten, das Leben mit Sinn zu erfüllen. Ich erzählte meinen Kameraden […] davon, dass menschliches Leben immer und unter allen Umständen Sinn habe, und dass dieser unendliche Sinn des Daseins auch noch Leid und Sterben, Not und Tod in sich mit einbegriffe. Und ich bat diese armen Teufel, die mir hier in der stockfinsteren Baracke aufmerksam zuhörten, den Dingen und dem Ernst unserer Lage ins Gesicht zu sehen und trotzdem nicht zu verzagen, sondern im Bewusstsein, dass auch die Aussichtslosigkeit unseres Kampfes seinem Sinn und seiner Würde nichts anhaben könne, den Mut zu bewahren. Auf jeden von uns, sagte ich ihnen, sehe in diesen schweren Stunden und erst recht in der für viele von uns nahenden letzten Stunde irgend jemand mit forderndem Blick herab, ein Freund oder eine Frau, ein Lebender oder ein Toter – oder ein Gott. Und er erwarte von uns, dass wir ihn nicht enttäuschen und dass wir nicht armselig, sondern stolz zu leiden und zu sterben verstehen!“3

Frankl bestätigte inmitten tragischster Zustände die Thesen der Logotherapie und Existenzanalyse, die er noch vor seiner Deportation aufstellte, und entwickelte seine Theorie bis zum Tod des Menschen weiter.

1.3 Motivationstheorie der Logotherapie

Die Unterschiede der drei Wiener Richtungen der Psychotherapie liegen nach Viktor Frankl primär in ihrer Motivationstheorie sowie in ihrem Menschenbild. Was die Motivationstheorie anbelangt, definiert Sigmund Freud die Grundmotivation des Menschen als Wille zur Lust und Viktor Adler als Wille zur Macht. Nach Viktor Frankl ist jedoch der Wille zum Sinn die Urmotivation des Menschen.4 Freud sieht im Menschen ein sich abreagierendes Wesen, das sich der Wirklichkeit anpassen muss, um gesund zu bleiben. Adler definiert den Menschen als ein reagierendes oder kompensierendes Wesen, das sich gestalten will, um sich zu behaupten. Bei Frankl ist der Mensch ein agierendes Wesen, das in der Wirklichkeit Wertmöglichkeiten erkennt und erfüllt, um Sinn zu finden. Er definiert den locus of power des Menschen in seiner Sinnorientierung: „Es wird nicht einfach eine Figur wahrgenommen, die uns vor einem Hintergrund in die Augen springt, sondern bei der Sinn-Wahrnehmung handelt es sich um die Entdeckung einer Möglichkeit vor dem Hintergrund der Wirklichkeit. Und diese Möglichkeit ist jeweils einmalig. Sie ist vergänglich. Aber auch nur sie ist vergänglich. Ist eine Sinnmöglichkeit einmal verwirklicht, ist der Sinn einmal erfüllt, so ist er es nämlich ein für allemal.“5

1.4 Das Menschenbild der Logotherapie

Die Logotherapie und Existenzanalyse arbeitet aufgrund eines dreidimensionalen Menschenbildes, das im Konzept der Dimensionalontologie vorgelegt wird. Neben eine somatische und psychische Dimension tritt hier die Dimension des Geistigen im Menschen, die das eigentlich Menschliche ausmacht.6 Menschliche Existenz bedeutet daher auch immer, aus sich selbst heraus- und sich selbst gegenübertreten zu können, „wobei der Mensch aus der Ebene des Leiblich-Seelischen heraustritt und durch den Raum des Geistigen hindurch zu sich selbst kommt“7. Frankl sieht den Schlüssel der Bewahrung und der Rettung der anthropologischen Einheit und Ganzheit des Menschen in der Dimensionalontologie. Darin löst sich nämlich der Widerspruch dieser verschiedenen und doch einheitlichen Wirklichkeiten der menschlichen Existenz auf.8 Bei dieser anthropologischen Einheit handelt es sich um eine ontologische Differenz, wobei die Person, die „eine Macht, eine Wirkkraft, ein Vermögen in sich trägt, wodurch sie ein immerfort Handelndes ist“, und die „nicht der Kausaldetermination untersteht“, die Erscheinungsform des Geistigen ausmacht.9 In der existenziellen Dynamik der geistigen Person kann von einem qualitativen oder gesunden Sein gesprochen werden, da das menschliche Sein sich in dieser Dynamik nicht als ein faktisches, sondern als ein fakultatives Sein manifestiert, und zwar nicht als ein Nun-einmal-so-und-nicht-anders-sein-Müssen, als welches der neurotische Mensch sein eigenes So-sein missversteht, sondern als ein Immer-auch-anders-werden-Können.10 Obwohl das Geistige den Menschen in Einheit mit seinem Leib und seiner Seele ausmacht, hat es das letzte Wort, „indem es seine Zustimmung erteilt oder vorenthält bei allem und jedem, wozu Leib und Seele gebraucht oder missbraucht werden“11. Die geistige oder noetische Dimension im Menschen macht ihn fähig, zu körperlichen und psychischen Gegebenheiten Stellung zu nehmen, und dadurch für die gesunde Lebenseinstellung trotz ungünstiger Lebensumstände zu optieren.12

1.5 Die Fähigkeiten des Menschen

Geprägt ist diese menschliche Existenz von der Fähigkeit der Selbsttranszendenz. Für Frankl bedeutet sie eine Transzendenz auf die menschliche Existenz hin, also die Fähigkeit des Geistes, aus sich heraustreten zu können, und zwar im Sinne einer Selbstdistanzierung. Um die Bedeutung dieses zentralen Begriffs in der Logotherapie zu erläutern, soll hier Frankl selbst zu Wort kommen: „Menschlichem Dasein geht es um viel mehr als um irgendwelche inneren Zustände; denn Menschsein weist allemal über sich selbst hinaus, auf etwas, dass nicht wieder es selbst ist, besser gesagt auf etwas oder auf jemanden, nämlich auf einen Sinn, dessen Erfüllung sich einem Menschen anbietet, oder auf einen anderen Menschen, den er liebt. In diesem Sinne lässt sich füglich sagen: ganz Mensch ist der Mensch nur im Dienst an einer Sache oder in der Liebe zu einer Person, und sich selbst verwirklicht er erst dann, wenn er sich selbst transzendiert. […] Fassen wir zusammen: Menschsein ist nicht zuständlich, sondern gegenständlich orientiert; es ist nicht an den inneren Zuständen inter­essiert, sondern an Gegenständen draußen in der Welt.“13

Das sinnzentrierte Menschenbild erkennt in jeder Situation eine Aufforderung an jede Person, in Freiheit und Verantwortlichkeit das Leben unter allen (auch widrigsten) Umständen zu gestalten. Gestalter kann der Mensch kraft seiner geistigen Dimension werden. Frankl bezeichnet diesen Prozess der Gestaltung als die kopernikanische Wende. Diese wandelt den frustrierten Menschen zu einem kreativen Jongleur, der seinen Blick auf die Wertemöglichkeiten richtet, die jeder Situation innewohnen und darauf warten, erfüllt zu werden.14

1.6 Die drei Säulen der Logotherapie

Logotherapie und Existenzanalyse werden von drei Säulen getragen, die Frankl folgendermaßen benennt:

(1) Die Freiheit des Willens: Als geistige Person ist der Mensch in erster Linie nicht nur ein reagierendes, sondern ein agierendes Wesen. Trotz seiner Bedingtheit ist er dazu fähig, Entscheidungen zu treffen, eigenverantwortlich zu handeln und dadurch seinen eigenen Lebensraum zu gestalten. Die Logotherapie hilft dem Menschen dabei, Freiräume im/in konkreten Leben(-ssituation) aufzuschließen, zwischen Symptom und Person zu differenzieren, und dadurch die Selbstbestimmungsfähigkeit im Menschen wieder zu finden.

(2) Der Wille zum Sinn ist ein Grundaxiom der Motivationstheorie der Logotherapie. Frankl meint, dass der Mensch nicht nur frei, sondern immer auf etwas hin frei ist. Ihn bewegt die Grundmotivation, sich in der Welt auszudrücken. Den Menschen bewegt die Suche nach einem Sinn im Leben. Kann der Wille zum Sinn – aus welchem Grund auch immer – nicht zur Geltung kommen, so muss sich der Mensch dem Gefühl der Sinn- oder Wertlosigkeit stellen. Die Andauer dieses Gefühls bedeutet dann existenzielle Frustration und kann zu diversen psychosomatischen oder neurologischen Störungen führen. Durch die Logotherapie wird der Mensch für die Wahrnehmung von Sinnmöglichkeiten sensibilisiert. Sie bietet dem konkreten Menschen nicht den Sinn an, sondern mit Hilfe der Logotherapie wird er dazu gebracht, Sinnmöglichkeiten in seinem Leben selbst zu entdecken.

(3) Sinn des Lebens: Im Sinne der Logotherapie bedeutet dies, dass das Leben nicht nur einen Sinn, sondern einen bedingungslosen Sinn hat. Dieser Sinn ist potenziell da, muss aber gesucht werden. Der Mensch ist dazu fähig, den Sinn in allen Lebenssituationen zu erkennen und zu verwirklichen. Und die Sinnmöglichkeit zeigt sich von Person zu Person unterschiedlich, aber auch im Falle derselben Person ist sie immer auch situationsbedingt. Daher arbeitet die Logotherapie nicht mit einem allgemeinen Lebenssinn, sondern sie hilft dem Menschen, seine Offenheit und Flexibilität für eine sinnvolle Gestaltung des Alltags zu bewahren und die Sinnmöglichkeiten ad situationem und ad personam immer wieder zu finden.15

1.7 Das psychiatrische Credo Frankls

An diese dargestellten konstitutiven Elemente des menschlichen Daseins – im Sinne der Logotherapie und Existenzanalyse – schließt sich das sogenannte psychiatrische Credo von Viktor E. Frankl an. Darin behauptet er, dass das Geistige im Menschen nicht erkranken kann, auch wenn es an schwersten leibseelischen Krankheiten leidet. Es kann gestört oder unsichtbar, aber niemals zerstört werden: „Die geistige Person ist störbar, aber nicht zerstörbar – durch eine psychophysische Erkrankung. Was eine Krankheit zerstören, was sie zerrütten kann, ist der psychophysische Organismus allein, das Endogene. Die Zerrüttung des Organismus bedeutet demnach nicht weniger, aber auch nicht mehr als eine Verschüttung des Zugangs zur Person – nicht mehr. Und das möge unser psychiatrisches Credo sein: dieser unbedingte Glaube an den personalen Geist – dieser ‚blinde‘ Glaube an die ‚unsichtbare‘, aber unzerstörbare geistige Person.“16 Allein diese geistige Person kann unter allen Umständen immer wieder „ein trotzdem Ja zum Leben sagen“17, denn sie ist von innen her motiviert, den Sinn des Lebens zu suchen, und ebenso ist sie dazu fähig, der Trotzmacht des Geistes auch in hoffnungslosen Situationen eine Chance zu geben, Sinnmöglichkeiten in der konkreten Lebenspraxis zu finden und sie zu erfüllen.

1.8 Franklsche Wertekategorien und die Sinnverwirklichung

Viktor E. Frankl nennt drei Wertekategorien, die es dem Menschen ermöglichen, Sinn zu verwirklichen. Diese sind: 1. Schöpferische Werte; 2. Erlebniswerte; 3. Einstellungswerte.

Sowohl das menschliche Schaffen als auch das Erleben verwirklichen sich – wie bereits darauf hingewiesen wurde –, indem der Mensch sich von sich selbst distanziert und sich einer Sache (beim Schaffen) oder einer Person (beim Lieben) hingibt. Die Entdeckung eines Sinns im Leiden setzt ebenfalls die Selbsttranszendenz des Menschen voraus und wird von Frankl als eine geistige Leistung des Menschen verstanden. Das Leiden an sich hat keinen Sinn, erst dann, wenn es im „Erleiden“ die Einstellungswerte im Menschen mobilisiert. Erst dort, wo unabänderliches Leiden, also „etwas Schicksalhaftes, als solches hingenommen werden muss. In der Weise, wie einer diese Dinge auf sich nimmt, ergibt sich eine unabsehbare Fülle von Wertmöglichkeiten“18. Frankl lehrt daher, dass das menschliche Leben sich nicht nur im Schaffen oder im Freuen, sondern auch noch im Leiden erfüllen kann. Ihm geht es „nicht um eine Art Glorifizierung des Leidens. Er hebt vielmehr nur darauf ab, dass jeder Mensch den Sinn seines Lebens in jeder Situation – die leidvollen Situationen inbegriffen – als konkret einmalig und einzigartig entdecken und erfüllen muss, wenn er seelisch gesund bleiben will, oder wenn er die seelische Heilung wieder finden will.“19

1.9 Seelenheil vs. Heilung der Seele bei Frankl

Ziel der Logotherapie als angewandte Psychotherapie ist die seelische Heilung. Diesbezüglich klärt Frankl den Unterschied zur Religion: Deren Ziel ist das Seelenheil. Allerdings schließt er nicht aus, dass bei einer religiös seelsorglichen Begleitung per effectum eine seelische Heilung erreicht werden kann. In diesem Sinne kann es umgekehrt auch durchaus möglich sein, dass eine logotherapeutische „Behandlung“ des Menschen per effectum zu seinem Seelenheil beitragen kann. Offenkundig ist, dass Frankl die Religiosität des Menschen nicht missachtet, aber auch nicht als eine notwendige Voraussetzung für die Sinnsuche betrachtet.20 So bedeutet der religiöse Glaube für die Logotherapie und Existenzanalyse „ein Glauben an den Übersinn – ein Vertrauen auf den Übersinn“21, mit dem – wenn vorhanden – therapeutisch gut gearbeitet werden kann. Glauben ist damit für Frankl eine existenzielle Entscheidung und kann als Ausdruck der allermenschlichsten Phänomene verstanden werden, der sich in der Sinnmotivation des Menschen Ausdruck verschaffen kann. Darin eingeschlossen ist „das Erleben der eigenen Fragmentarität und der eigenen Relativität auf einem absoluten Hintergrund“22.

Der Mensch als geistige Person steht also im Mittelpunkt der Logotherapie und Existenzanalyse nach Viktor E. Frankl. Er, der Mensch ist es, dem das Leben Fragen stellt, die er nicht zu beantworten, sondern zu verantworten hat. Gesund zu sein, wohlauf zu sein, heißt damit, die Sinnmöglichkeiten im Leben, das Gesollte immer wieder zu erkennen und dementsprechend das Leben zu gestalten. Hilfe bei der Sinn-Suche erfährt der Mensch von seinem Gewissen als „Sinnorgan“23. Abweichend allerdings vom herkömmlichen psychoanalytischen Verständnis von Gewissen meint Frankl, dass es den Zugang zum Werthorizont der geistigen Person eröffnet und dessen Sinnmöglichkeiten erschließt. Es nimmt somit nicht einen subjektiven Sinn wahr (im Dienst einer Bedürfnisbefriedigung), sondern arbeitet transsubjektiv, das heißt, es peilt „Werte in der Welt, ihre Erhaltung und Vermehrung“ an.24

2 Fünf Thesen zur Person und ihre Relevanz für die kirchliche Praxis25

Der Weg der Kirche ist der Mensch (RH 1). Damit bestimmte Papst Johannes Paul II. den neuen (konziliaren) Weg von Kirche-Sein. Nicht selten begegnet man dem Wunsch, in den Ortskirchen eine Kirche nahe bei den Menschen sein zu wollen. Eine Kirche bei den Menschen ist für Papst Franziskus eine Kirche, deren Leben und Ausrichtung die Logik der Inkarnation bestimmt, anstatt ihre Selbstbezogenheit. Wer aber ist dieser Mensch, dem die Kirche nahe sein will, und vor allem, wozu wollen wir dem Menschen als Kirche nahe sein? Es ist offensichtlich, dass diese Frage in den letzten Jahrzehnten wenig Aufmerksamkeit in der Kirche und in der Gestaltung der kirchlichen Praxis erfahren hat. Stattdessen wird stets an eine Kirche erinnert, die es jahrhundertelang zu wenig beachtet hat, den Menschen ihr Leben frei und verantwortungsvoll gestalten zu lassen. So ist auch in der Seelsorge eine gewisse Unsicherheit festzustellen, wenn es um die Begegnung mit dem Menschen geht, und um die Frage, wonach sich die Seelsorge ausrichten soll, wenn sie in allen Facetten der kirchlichen Praxis ganz nach der Logik der Inkarnation bei den Menschen sein will. Viktor E. Frankl eilt der kirchlichen Praxis hier mit seiner Logotherapie und Existenzanalyse zu Hilfe und bietet anthropologisch und medizinisch gut fundierte Thesen zur Person an, von denen sich die Kirche provozieren lassen kann.

(1) Die Person ist ein Individuum: sie ist etwas Unteilbares – sie lässt sich nicht weiter unterteilen, nicht aufspalten, und zwar deshalb nicht, weil sie Einheit ist.

Hierbei geht es um die Bedeutung einer Balance im Leben. Die Person als Einheit von Körper, Geist und Seele manifestiert sich in der Leistungs-, Liebes- und Leidensfähigkeit. Finden diese Fähigkeiten nicht entsprechend Beachtung, gerät der Mensch aus dem Gleichgewicht. Ungleichgewicht erschwert es dem Menschen, sich als Individuum zu entfalten. Freilich wird Leistung in unseren hochmodernen Gesellschaften anderen Fähigkeiten gegenüber stark betont. Damit drohen Ganzheitlichkeit und Unteilbarkeit – als das spezifisch Menschliche – verloren zu gehen. Der Mensch kann seine Balance leicht verlieren und in Instabilität geraten. Er kippt aus seiner Stimmigkeit und verliert den Halt im Leben.26

Daraus folgt für die kirchliche Praxis: Alle drei Fähigkeiten im Menschen sind zu stärken, um eine gesunde Balance zu ermöglichen. Diese Stärkung kann im seelsorglichen Gespräch, in der Katechese, in der Predigt, durch Veranstaltungen erfolgen, die vor allem die Erlebniswerte und Einstellungswerte des Menschen im Blick haben. Dadurch werden die Liebesfähigkeit und die Leidensfähigkeit des Menschen gefordert, auch als Gegenpol zum Alltagsstress der Leistungsgesellschaft. Ein Mensch, der die Werthaftigkeit der Welt und ihrer Angebote wahrnimmt, erlebt sich als liebevoll, weltoffen, sozial sensibel, konstruktiv und friedfertig. Sein Leben kann gelingen, trotz schwieriger Umstände, ein Heilungsprozess im Menschen kann beschleunigt werden.

(2) Die Person ist nicht nur in-dividuum, sondern auch in-summabile; d. h. sie ist nicht nur unteilbar, sondern auch nicht verschmelzbar, und dies deswegen, weil sie nicht nur Einheit, sondern auch Ganzheit ist.

Mit „in-summabile“ meint Frankl, dass der Mensch in seiner Ganzheit sich nicht von eigenen oder fremden Erwartungen abhängig machen muss, sondern es steht ihm jederzeit offen, seinem persönlichen Sinnaufruf zu folgen. Er ist als Individuum unverschmelzbar mit der Masse und bleibt auch in der Gesellschaft eine Person, die einzigartig und einmalig ist. Die Sinnorientierung schützt den Menschen vor einer heute sehr verbreiteten Zweckorientierung. Durch direkt intendierten Zweck macht sich die Person vom Erfolg abhängig und verfehlt den Sinn. Zweckorientierung statt Sinnorientierung führt zu einer „Schräglage“ des Menschen, die wider sein eigenes Wesen ist. Streben nach Macht, Prestige, Lust, Geld oder Gewinn verführen den Menschen zu sinnwidrigen Aktionen, generieren die Angst des Scheiterns und führen zum Hetzen, Erzwingen, zu Neid. Die Verfestigung dieser Schräglage macht langfristig krank.27

Daraus folgt für die kirchliche Praxis: Raum schaffen, damit der Mensch mit all seinen Schwächen und Ängsten geradestehen kann, ohne verurteilt zu werden. Eine Lenkung seiner Aufmerksamkeit weg von seinen Ängsten und seinem möglichen Versagen hin auf die Sinnfindung – wofür er leben will – kann seine Selbsttranszendenz aktivieren. Der Mensch kann sich selbst überschreiten, er gibt sich in die Welt hinein und erkennt in der Welt einen Sinnaufruf, der auf ihn wartet, erfüllt zu werden. Sinnentdeckung bedeutet in diesem Kontext – wie so oft bei Frankl – das Gesollte, die Antwort des Lebens auf eine Frage, die einem gestellt wird und nur von dieser Person ver-antwortet werden kann. Verwirklicht man das Gesollte, dann können sich als Ertrag Anerkennung, Erfolg, Freude oder Glück als Nebeneffekt von Sinnerfüllung einstellen. Beachtet werden soll diese These von Frankl vor allem in Seelsorgsgesprächen, in Krisensituationen, bei Trauernden und in der kirchlichen Praxis rund um Advent und Fastenzeit, aber auch in der Persönlichkeitsbildung. Die Fähigkeit, zwischen Zweck und Sinnaufruf differenzieren zu können, trägt dazu bei, sich aus einer zweckorientierten Schräglage zu befreien und es sich zu erlauben, dass der Sinn einen über sich selbst hinauszieht.

(3) Jede einzelne Person ist ein absolutes Novum. Mit jedem Menschen, der zur Welt kommt, wird ein absolutes Novum ins Sein gesetzt, zur Wirklichkeit gebracht.

Frankls dritte These zur Person hat die Wertschätzung des Menschen im Blick. Durch ständige Beanstandung kann im Menschen zerstört werden, was als Novum angelegt ist und sich nicht im „Leisten“ manifestieren kann. Wertschätzung führt zur Aufwertung der Person in ihrer Einzigartigkeit und trägt zur Selbstachtung und Integrität bei. Oft zitiert Frankl an dieser Stelle Johann Wolfgang Goethe: „Wenn wir den Menschen so nehmen, wie er ist, dann machen wir ihn schlechter. Wenn wir ihn aber so nehmen, wie er sein soll, dann machen wir ihn zu dem, der er werden kann.“28 Die autonome Entscheidung eines jeden Menschen, in einer schicksalhaften Situation konstruktiv und nicht destruktiv am Werk zu bleiben, ist hier gefragt. Die Herausforderung besteht darin, die Ermächtigung des Menschen, seine geistige Dimension als ein absolutes Novum seines Seins zu aktivieren. Diese Dimension, die nie verschwindet oder krank wird, hat die Fähigkeit, in allen Kränkungen von der Trotzmacht des Geistes zu künden und alle gegebenen Freiräume zu nutzen, autonom Werte zu verwirklichen, Probleme zu lösen, Positives zu suchen und zu finden und seine intakten Bereiche zu weiten und sich als vom Leben Gefragten zu erleben.29

Daraus folgt für die kirchliche Praxis, wertschätzend und mit großem Vertrauen dem Menschen zu begegnen. Die kirchliche Praxis ist hier gut beraten, auf die Entscheidungskraft des Menschen zu setzen, ihn neugierig zu machen und damit seine Kreativität, sein Interesse, sein Vertrauen oder seinen Humor zu aktivieren. All diese Dispositionen im Menschen sind auch Selbstheilungskräfte, in denen sich die geistige Dimension aktiviert und die Einmaligkeit und Einzigartigkeit des Seins ad situationem und ad personam erfahrbar werden. Geeignet für diesen Blick in der Seelsorge sind die Katechese, die Predigt, die Krankenbesuche sowie das tägliche Miteinander.

(4) Die Person ist geistig. Damit steht sie im Gegensatz zum psychophysischen Organismus.

Viktor Frankl formuliert hier eine Definition der Person, in welcher die geistige Dimension des Menschen eine zentrale Rolle einnimmt. Auch wenn der Organismus unheilbar krank ist, bleibt der Mensch eine Person, die in ihrer Geistigkeit unzerstörbar ist. Somit kommt nicht zuletzt die Würde dieser Person in den Blick, und zwar unabhängig von ihrer vitalen, gesundheitlichen oder sonst welcher Verfassung. Das Wissen um die unbedingte Würde der Person zeigt sich ebenso in der unbedingten Ehrfurcht vor der menschlichen Person – auch vor einem kranken Menschen. Die Geistlosigkeit einer Zeit manifestiert sich in ihrer Blindheit für die Würde der Person. Das Wissen um die unzerstörbare Geistigkeit der Person setzt der Überheblichkeit und dem Missbrauch Grenzen und kann zu einem kleinen subjektiven Abschnitt der objektiven und unbegreiflichen Wahrheit werden.30

Daraus folgt für die kirchliche Praxis, sich in all ihren Bereichen für die unantastbare Würde eines jeden Menschen einzusetzen. Vor allen im Umgang mit Kranken, mit Menschen, die mit Behinderungen leben, ist diese Einstellung gefragt. Darüber hinaus ist die Kirche gefordert, ebenso in den gesellschaftlichen Diskursen etwa zu Altern in Würde, Euthanasie, Schutz für geflüchtete Menschen … einen Beitrag zu leisten.

(5) Die Person ist existenziell und nicht faktisch. Der Mensch als Person ist kein faktisches, sondern ein fakultatives Wesen; er existiert je als seine eigene Möglichkeit, für oder gegen die er sich entscheiden kann.

Mensch-Sein heißt, sich immer entscheiden zu können, was im nächsten Augenblick geschieht. An diesem Punkt zeigt sich der Unterschied zu Freud. In seiner Psychoanalyse heißt es nämlich, der Mensch entscheide sich nicht, vielmehr werde er getrieben von seinen Instinkten, von seiner Vergangenheit oder von seinen seelischen, oft unbewussten Vorerfahrungen. Mensch zu sein im Sinne von Entschieden-Sein, heißt immer auch verantwortlich zu sein. In dieser Verantwortlichkeit macht Frankl das Wozu der menschlichen Freiheit aus. Die Existenzanalyse arbeitet also nicht triebdeterminiert, sondern sinnorientiert.31

Daraus folgt für die kirchliche Praxis, den Menschen adäquat mit seiner Freiheit und der daraus resultierenden Verantwortlichkeit zu konfrontieren, ihn zu fordern, sich für diese Freiheit einzusetzen. Darüber hinaus kann dies heißen, für eine verantwortbare Lebensgestaltung zu plädieren, anstatt für eine provisorische Daseinshaltung oder für eine fatalistische Lebenseinstellung. Ebenso ist die Kirche gefragt, gegen ein kollektivistisches Denken, sowohl gesellschaftlich, aber auch kirchlich aufzutreten, das sich heutzutage vor allem in rassistischen oder ausgrenzenden Haltungen zeigt. Schöpfungsverantwortung, Solidarität, Subsidiarität und Personalität werden in dieser Hinsicht aktueller denn je. Predigten, Erwachsenbildung, Katechese, Seelsorgegespräche oder Jugendarbeit zeigen sich als geeignet, den Spannungsbogen zwischen Freiheit und Verantwortlichkeit aufrechtzuerhalten.

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