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55 Vgl. z. B. M. Schuller / K. Reiche / G. Schmidt (Hg.), BildKörper, Hamburg 1998; B. Heintz / J. Huber (Hg.), Mit dem Auge denken, Zürich, Wien, New York 2001; B. Orland (Hg.), Artifizielle Körper – Lebendige Technik, Zürich 2005.

56 Vgl. z. B. U. Bergermann / C. Breger / T. Nusser (Hg.), Techniken der Reproduktion, Königstein 2002 sowie den Beitrag von B. Mathes in diesem Band.

57 S. M. Squier, Liminal Lives, Durham, London 2004; C. Waldby / R. Mitchell, Tissue Economics, Durham, London 2006; T. Nusser, „Wie sonst das Zeugen Mode war“, Freiburg 2011; I. M. Krüger-Fürhoff, Verpflanzungsgebiete, München 2012.

Zeugung
Bettina Bock von Wülfingen
Einleitung (vom Zeugen und Schaffen)

Ähnlich wie der Begriff Geschlecht ist der deutsche Begriff der Zeugung umfassender und hat in anderen westlichen Sprachen wenig direkte Entsprechung. Er leitet sich vom althochdeutschen „giziogon“ für „fertigen“ bzw. im Mittelhochdeutschen „ziugunge“ ab, was sowohl einerseits auf „Beziehung“ und andererseits auf das „Geschaffene“ im Sinne von „Zeug“ verweist.1 Der Nominativ Zeug meint in seiner mittelalterlichen Bedeutung metallene Gegenstände wie vor allem Rüstzeug und später Schrifttypen in der Druckerei. Besonders die Verbindung des Begriffs mit der mittelalterlichen Zeugdruckerei,2 wobei von Modeln aus Holz oder Metall als ‚Zeug‘ Muster auf Stoffe gebracht wurden, verweist auf die Möglichkeit, dass bereits der damalige Begriff der Zeugung Vorstellungen von Abbilden und Ähnlichkeit implizierte. Eine solche begriffliche Belegung fand nach Jordanova im Englischen mit dem aus der Möbelindustrie stammenden Begriff der reproduction erst im 19. Jahrhundert statt, als dieser Begriff begann, den Begriff der generation zu ersetzen.3

Im Lateinischen wie Englischen wird die Zeugung, wenn nicht mit Reproduktion bzw. Befruchtung (mit dem Wortteil „fertil-“), dann mit „generation“ („to generate: 1. to bring into existence; originate; produce: to generate ideas […]; 4. […] ­procreate“)4 übersetzt. In beiden Fällen geht es um die Hervorbringung eines Lebewesens durch Befruchtung. Allerdings meint der lateinische Begriff „generation“, eine Übersetzung der aristotelischen Kategorie „genesis“,5 die Überführung vom Nicht-Sein zum Sein – [<< 97] „eine höchst und exklusiv männlich verstandene Zeugung, […][M]it ‚generatio‘ ist davon die Rede, dass einer etwas macht – vor allem etwas Lebendiges.“ 6 Vor allem, aber nicht nur, denn diese Fassung von Zeugung als Schöpfung im kreativen Akt der Befruchtung (wobei die Frucht, die eingesetzt wird, nicht organischer Art sein muss) bezieht sich sowohl auf die göttliche Schöpfung, wie auch die künstlerisch-kreative.7 Beides könnte kaum deutlicher in eins fallen als in dem quasi homosexuellen Zeugungsakt von Michelangelo, dem Fresko „Die Schöpfung Adams“ in der Sixtinischen Kapelle. So wird die Metapher der Zeugung auch im Umgang mit der Schriftkultur immer wieder, etwa in Literatur und Germanistik, bemüht, wenn es darum geht, die Erschaffung von Werken als ehrenhaft aus der eigenen Kraft heraus darzustellen.8

Entsprechend beschrieb die differenz- und symboltheoretische Analyse die kontinuierliche Aneignung weiblicher Produktivität 9 für die verschiedensten Wissensfelder. Eva Mayers psychoanalytisch angelegte Diskussion der „Selbstgeburt“ sieht in solchen Konzepten des unendlichen „Spiegelns“ vor allem das Bannen des Materiellen,10 eine Überwindung (von Sterblichkeit) durch Aneignung von Generativität, die sich, so auch die Biologin Elvira Scheich, ebenfalls in den naturwissenschaftlichen Traditionen der Theoriebildung fände.11

Mit zumindest als solchen diskutierten neuen technischen Möglichkeiten stellt sich zunehmend die Frage, wo denn das Lebendige beginne. Wurden Mary Wollstonecrafts [<< 98] Frankenstein und spätere Monster im 19. Jahrhundert von der industriellen Revolution, immer drängenderen Fragen nach der eigenen Identität und schließlich dem bewegten Bild angeregt, so geschieht dies neuerlich mit den aktuellen Technologieentwicklungen. Oder eher werden im Wechselverhältnis zwischen dem Willen zur „Verlebendigung der Technik“ 12 und den entstehenden Möglichkeiten, die Maschine mit dem Digitalen und teils auch dem Biotischen zu vermengen, lebendige Artefakte geschaffen, ohne auf das sterbliche Weibliche der Mutter rekurrieren zu müssen.13

Gleichzeitig erzeugen genetische Technologien und neuere Entwicklungen wie die Synthetische Biologie, die sich in der Lage sieht, biologische Zellen aus chemischen Einzelteilen herzustellen (und beschleunigt durch den Versuch des Genetikers Craig Venter, ein synthetisches Chromosom in ein Bakterium einzuführen und ‚zum Leben zu erwecken‘), eine analytische Entsprechung. Diese besteht in der sprachlichen Wendung, hier nun endgültig ginge es (zumindest den NaturtechnikerInnen und dem Kapital) um „life itself“, das Leben selbst.14

In der Geschlechterforschung wird die Zeugung einerseits, beginnend in den 1970er-Jahren, vorwiegend in ihren Dimensionen als Problem der künstlichen Befruchtung diskutiert. Andererseits richtet sich das Interesse auf einander historisch ablösende frühe bis aktuelle wissenschaftliche Zeugungstheorien als kulturtheoretisches Phänomen, die auf wechselnde Geschlechter- und Gesellschaftsordnungen verweisen (wie etwa von der Urzeugung bis zum Ein- und Zweigeschlechtermodell oder heutiger Merkantilisierung von Gameten und Embryonen). Wie die Geschlechterforschung seit über drei Jahrzehnten zeigt, sind Konzepte der Naturforschung und jeweilige kulturelle Hintergründe untrennbar über die Jahrhunderte mit Zeugungstheorien verknüpft. Auf diesen Aspekten, der Rolle von Geschlecht in verschiedenen Zeugungstheorien in der Naturforschung bis zur extrakorporalen Befruchtung, soll daher im Folgenden der Fokus liegen. [<< 99]

Zeugung in der Naturforschung von der Antike bis zur Moderne:
Flüsse und Ökonomie

Die bereits mit der antiken Mythologie einsetzende symbolische Zuschreibung der Geschlechter zu Logos / Geist einerseits und Materie / Körper andererseits findet in den Vorstellungen der frühen Naturforschung zur Zeugung ihre Entsprechung in der Differenz von Form versus Materie sowie von Hitze und Kälte nach der Temperamentenlehre der Humoraltheorie. Platons Interesse galt noch vor allem der Auflösung des Konfliktes zwischen Einheit und Differenz,15 wie in dem Urmythos von Zeugung und Eros deutlich wird, den er den griechischen Komödiendichter Aristophanes erzählen lässt.16 So habe es ursprünglich drei Geschlechter gegeben, indem immer zwei miteinander einen Kugelmenschen bildeten, zwei weibliche oder zwei männliche oder eine männlich-weibliche Kugel. Ihre Gesichter waren zueinander gewandt, die Geschlechtsteile nach hinten bzw. außen gerichtet. Da sie sich mit Zeus überwarfen, teilte er sie alle in zwei. Nun aber sehnten sie sich nacheinander und suchten und umarmen sich ständig, und kamen dadurch weder zum Arbeiten noch pflanzten sie sich fort. Zeus zeigte Einsicht und setzte ihre Geschlechter nach vorn. Hier liegt der Ursprung des Eros, bei Platon das Begehren nach Vereinigung gänzlich unabhängig von Zeugungsphantasien. Anders als für Platon stellt sich für Aristoteles hingegen mit der Frage nach der Zeugung auch stärker die Frage nach Differenz. Diese ist graduell und drückt sich nach der Philosophin Ingvild Birkhan in der männlichen Dominanz und Autorschaft aus.17

Männlichkeit und Weiblichkeit standen in der Antike nicht in binärer Opposition und waren auch nicht mit Genitalität verbunden,18 sondern mit den sich mischenden Temperamenten, wobei dem Männlichen das feurige und aktive zukommt.19 So wird nach Aristoteles „Über die Zeugung der Geschöpfe“ der allein nährende, die Materie [<< 100] darbietende weibliche Körper vom männlichen ‚Samen‘ befruchtet. Dabei sind diese Begriffe in ihrer heutigen Belegung irreführend, denn der dort so bezeichnete Samen ist reiner Impuls- und Formgeber.20 Begleitet wird die in diesem Konzept enthaltene Aktiv-passiv-Symbolik zugleich von der Gegenüberstellung männlicher Hitze zu weiblicher Kälte, es sei also die Hitze, die der weiblichen Samenmaterie (für Aristoteles das Menstruationsblut) bei der Zeugung zur Entwicklung verhelfe.21

Auch für die erfolgreiche Zeugung im Geschlechtsakt müsse ausreichend koitale Hitze herrschen, indem beide Geschlechter in Wallung sein müssten, heißt es noch in der Spätantike bei Soranus im 2. Jahrhundert in Rom 22 und bleibt Thema noch im 20. Jahrhundert. Bereits in der Antike gab es zwar mit Anaxagoras, Empedocles, ­Hippocrates und Parmenides Naturphilosophen, die die materielle Entstehung des Fetus sowohl dem männlichen wie auch weiblichen Samen zuschrieben.23 Dennoch wird das Aristoteles folgende Ein-Geschlechter- und Zeugungsmodell der Humoraltheorie von den griechischen Ärzten Galen und Soranus fortgeführt 24 und trägt sich über Paracelsus hinaus bis in die Aufklärung und damit bis zu den Ansätzen der heutigen Biomedizin.25 Und auch christliche wie jüdische Theoretiker behielten ­Aristoteles’ Verständnis des Männlichen als aktivierendes und formgebendes Prinzip über die Jahrhunderte bei.26

Mit der bürgerlichen Revolution gilt ab etwa dem 18. Jahrhundert das wissenschaft­liche Interesse ganz der nicht nur graduellen, sondern qualitativen Geschlechter­differenz und dies bezieht sich mit der Entwicklung der „Weiblichen Sonderanthropologie“ auch, allerdings leicht verspätet, auf den Prozess der Zeugung.27 In dem Maße, wie nachr [<< 102] evolutionär oder im deutschsprachigen eher biedermeierlich Generativität bzw. später Reproduktivität zunehmend dem ‚Weib‘ und dem Raum des Privaten zugeschrieben wurde,28 schwand das Interesse an der Suche männlicher Anteile an der Zeugung.29

Während in der Antike Spermien und Eizellen nicht bekannt waren, wurde auch nach der Entdeckung der Beteiligung von Gameten beider Geschlechter unter dem Mikroskop bis über die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts die Idee des ‚Samens‘ als Energie- und Bewegungsträgers aufrechterhalten, indem der männliche Beitrag nicht als materiell gesehen wurde. Dieser Haltung nach, die heute als epigenetisch bezeichnet wird, betrachtete die Naturforschung seit Aristoteles und bis zu den Arbeiten des Physiologen William Harvey im 17. Jahrhundert den Embryo als in einer graduellen Entwicklung aus unorganisierter Materie aus dem Blut im Uterus oder durch eine Vermengung der Samenflüssigkeit beider entstanden 30 und durch Gott in allen Lebewesen in der Anlage erzeugt.31 Harvey schließlich vertrat eine ganz unzeitgemäße epigenetische These der Befruchtung durch eine (damals noch rein hypothetische) Samenzelle. Eine solche heterosexuelle Befruchtung wurde im 18. und 19. Jahrhundert eher zur Ausnahme: Entdeckungen der Naturforscher Japetus Steenstrup, Richard Owen, Theodor von Siebold und Wilhelm Hofmeister zeigten in der Tier- und Pflanzenwelt eine ungeahnte Vielfalt: Generationswechsel von sexueller und asexueller Fortpflanzung, Parthenogenese (s. w. u.) und Hermaphroditismus wurden zu anerkannten Reproduktionsmodi,32 bis hin dazu, dass für Darwin sexuelle Fortpflanzung in keiner Spezies relevant schien.33

Weiterhin hielt sich auch nach Oskar Hertwigs Entdeckung von 1876, dass das Spermium im Befruchtungsprozess in die Eizelle gelangt, ein Nachhall galenscher Säfte­theorie in den nun durch die Physiologie geprägten Theorien bis in die 1870er-Jahre, in der Annahme,34 für die Zeugung sei die Auflösung eines oder mehrerer Spermien [<< 102] in der Eizelle essentiell.35 In diesem Kontext verbreitete sich um die 1850er-Jahre die Vorstellung, der gezeugte Nachwuchs stelle den berechenbaren 36 materiellen Überschuss dar, der im Laufe des Lebens mit der Nahrungsaufnahme angesammelt würde. So finden sich in den Texten zur Fortpflanzung zwischen 1850 und 1880 etwa bei dem physiologisch ausgebildeten Zoologen Rudolf Leuckart wie auch bei Charles Darwin 37 vielfältige und metaphernreiche Bezüge zur Ökonomie wie die Begriffe Einnahmen, Ausgaben, Konsumption und Kapital. Diese Bezüge hingen offenbar von der physiologischen Theorie der Flüssigkeiten ab, denn sie wurden mit dem Übergang zu einer späteren morphologischen bzw. mechanischen Theorie der Weitergabe materieller Einheiten obsolet.38 Leuckart vertrat dabei die im Rahmen der Epigenese plausible und zeitgemäße Theorie,39 die Geschlechtsentwicklung geschehe graduell entsprechend äußerer Bedingungen. Die zwei Geschlechter seien lediglich ein Ausdruck der Entwicklung gemäß den Gesetzen der Arbeitsteilung.40

Mit zunehmender Hinwendung zur mechanistischen Theorie wurde dieses physiologische Konzept herausgefordert durch die bereits genannte und schon im 17. Jahrhundert manifest werdende Idee, die Entwicklung des Embryos von der Zeugung ab stelle eine Entfaltung bereits zuvor angelegter Strukturen dar, die durch einen mechanischen Impuls ‚in Gang gesetzt‘ würde. Dieser Theorie folgte auch die Annahme, notwendigerweise müsse diese Anlage entweder in der nun mit dem Mikroskop beobachteten weiblichen Eizelle oder im männlichen Samen zu finden sein. Hier nun entfaltet sich neben den weiterhin existierenden Epigenesistheorien der Streit zwischen Ovisten und Animaculisten, je nachdem, ob man die vollständigen (also auch geschlechtlichen) Anlagen des Menschen im weiblichen oder männlichen Samen sah.41 [<< 103]

Naturforschung im 19. und 20. Jahrhundert: Das gezeugte Geschlecht

In einer Fortführung des mechanistischen Konzepts vertraten seit den 1870er-Jahren die Embryologen bzw. Entwicklungsmechaniker Wilhelm His, Wilhelm Roux und Eduard Driesch die „Kontakt-Theorie“ 42, die auch als „physico-chemische“ Theorie firmiert.43 Der Beginn allen Wachstums läge im Ei begründet, das von einem Stimulus durch das Spermium profitierte: „Nicht die Form ist es, die sich überträgt, […] sondern die Erregung zum formerzeugenden Wachstum, nicht die Eigenschaften, sondern der Beginn eines gleichartigen Entwicklungsprozesses.“ 44 Der Präformationstheorie setzte Oskar Hertwig nach seiner Beobachtung der Fusion von Eizelle und Spermium unter dem Mikroskop 1876 eine „morphologische“ 45 Theorie entgegen. Die materielle Vereinigung der Kerne sowohl der Eizelle wie des Spermiums sei zur Zeugung und Weiterentwicklung nötig und er folgerte (entgegen der Präformationstheorie), alle Körperzellen und Embryonen enthielten die Fähigkeit, sich männlich oder weiblich zu entwickeln.46 Der Zoologe Edouard van Beneden verband diesen zellulären Hermaphroditismus mit der Idee des Energiemoments im Spermium: Er sah in der Befruchtung der Eizelle den Startpunkt eines notwendigen Verjüngungsprozesses der sich dann weiterentwickelnden Eizelle 47 und schloss ebenfalls aus seiner Beobachtung der gleichmäßigen Verteilung von Chromosomen bei der Zellteilung, dass alle Zellen und somit auch der Embryo sowohl männlich als auch weiblich seien.48 [<< 104]

Grundsätzlich bewirkten die Beobachtung der Chromosomen und die spätere Theorie der Vererbung durch sie, dass der Streit zwischen den verschiedenen Schulen des Präformismus um 1900 in der herkömmlichen Form beigelegt war, denn der materielle Beitrag beider Geschlechter in der Zeugung war nun schwer abzuweisen. Dies geschah schließlich auch auf Kosten der Theorie mehrgeschlechtlicher Entwicklungsfähigkeit von Embryonen: In der physiologischen wie ökonomischen Betrachtungsweise der Zeugung konnte der Embryo die verschiedensten Eigenschaften aus einer Anlage entwickeln, die alle Möglichkeiten barg, je nachdem ob ein bestimmtes Phänomen überwog (dies war je nach Theorie das graduelle Überwiegen eines Stoffes oder einer chemischen oder physikalischen Bedingung innerhalb oder außerhalb der Zellen). Nach der Theorie der materiegebundenen Eigenschaften dagegen entschieden konkrete Partikel über eine qualitative Differenz. Dass diese damit dann nicht mehr auf epigenetische Einflüsse der Umgebung, sondern einzig auf Abstammung zurückführbar war, scheint vor dem Hintergrund zunehmender, Kontinente überschreitender Mobilität und rassisierter Klassenkämpfe im die Naturforschung anführenden Vereinten Königreich und Preußen umso relevanter. Die Theorie der Vererbung von Eigenschaften über Chromosomen war nach ihrer Veröffentlichung 1906 relativ schnell akzeptiert. Allerdings war es gerade die Frage, ob und wie Chromosomen Geschlecht vererben, die die Durchsetzung der Theorie der chromosomalen Vererbung erschwerte, da selbst die Vertreter der Theorie Mendels daran festhielten, nicht der Moment der Zeugung entscheide über das Geschlecht, sondern später wirkende Konditionen. 49 [<< 105]

Zeugung des Lebens aus sich selbst heraus als Akt des Widerstands:
Urzeugung, Autopoiese und Parthenogenese in der Moderne

Jenseits der Fragen der Vererbung erlebte die Epigenese-Theorie immer wieder Renaissancen,50 nicht zuletzt als theoretischer Bestandteil von Konzepten der nicht-geschlechtlichen Zeugung, in den Konzepten der Urzeugung oder später Autopoiese. Theorien der Epigenese, die also die Entwicklung zu Formen, die nicht bereits in einer Anlage vorgegeben wird, voraussetzt, finden sich besonders in Reaktion auf den Mechanizismus des 18. Jahrhunderts im Wechselfeld zwischen Naturforschung und Philosophie. Sie beziehen sich auf Phänomene der Selbstorganisation und meinen die kreative und unvorhersagbar lebendige Hervorbringung von komplexen Strukturen in der Natur ebenso wie durch den Menschen. So wandte Kant beispielsweise das Prinzip der „Selbstgebärung“ 51 unseres Verstehens gegen Humes Idee der empirischen Vorprägung unserer Ideen und sprach vom natürlichen Körper als sich selbst organisierendes Wesen,52 während zur gleichen Zeit naturforschende Präformisten und Anhänger der Epigenese-Theorie um die Erklärung der Zeugungsphänomene rangen. Auch Schelling,53 Fichte und Goethe schreiben der Epigenese das Wort,54 bei Herder und Humboldt 55 ist sie das Prinzip der Hervorbringung der Sprache selbst und bei Beaumarchais findet sie sich in der Kritik aristokratischen Präformationismus.56 Neuerlich prägte im 20. Jahrhundert der Neurobiologe Humberto Maturana den Begriff der Autopoiese (altgriech. für Selbsterschaffung)57 für das Phänomen, dass Lebewesen sich selbst hervorbringen und erhalten könnten,58 indem „das Pr [<< 106] odukt ihrer Organisation sie selbst sind, das heißt, es gibt keine Trennung zwischen Erzeuger und Erzeugnis. Das Sein und das Tun einer autopoietischen Einheit sind untrennbar, und dies bildet ihre spezifische Art von Organisation.“ 59 Das Konzept fand schnell Verbreitung auch in anderen wissenschaftlichen Bereichen, so fand etwa Niklas Luhman es rasch anwendbar auch für die Beschreibung gesellschaftlicher Prozesse.60 Interessant schien dieses Konzept von Selbstzeugung oder Autopoiesis für die feministische Theorie durch einen darin enthaltenen veränderten Lebensbegriff,61 mit dem eine Veränderung der Vergesellschaftung von Natur reflektiert wird: Produktion und Reproduktion fallen so in eins, Reproduktion wird also aus Produktion nicht mehr ausgeklammert.62

Dasselbe gilt auch für die Entstehung des Lebens an sich: Die Theorie der Urzeugung oder Spontanzeugung von Leben aus unbelebter Materie wurde zunächst mit der Sichtung von Maden in faulendem Fleisch, später mit den im Mikroskop entdeckten Bakterien bewiesen.63 Mit Sterilisierungstechniken wurde sie zwar in dieser Form widerlegt, jedoch wurde gezeigt, dass die chemische Evolution die Genese von biotischen Zellen aus der sogenannten Ursuppe möglich machte.64 Von hier aus führt der Weg in die Selbstorganisationstheorie, Chaosforschung und Systemtheorie,65 an die die Hoffnung geknüpft wird, sowohl das Biotische als auch das Technische weniger mechanistisch und deterministisch fassen zu können.66 Die binäre Grenzziehung zwischen ‚toter Materie‘ einerseits und ‚lebendigen Organismen‘ wurde dabei zunehmend [<< 107] in Frage gestellt.67 Die Selbstgenerationsfähigkeit und ‚Unbändigkeit‘ der Natur (teils im Sinne von Organizismus oder Vitalismus) im Kontrast zu Determinismus und Mechanizismus sowie etwa zunehmende Naturausbeutung adäquat beschreiben zu können, war ein grundsätzliches Anliegen feministischer Theorie zu Lebenskonzepten in den 1970er- und 80er-Jahren.68 Später dagegen überwogen Ansätze, die versuchten, Technik und Natur als miteinander vereinbar zu denken, sie begrüßten daher z. T. die Idee der Selbstorganisation.69 Elvira Scheichs Untersuchung der historischen Debatten um Selbstorganisation kommt allerdings zu dem Schluss, dass, indem eine übergeordnete, abstrakte Reproduktionseinheit gewählt wird, Geschlechtlichkeit und damit auch die weibliche Rolle in der Generativität ausgeklammert würde, während das Prinzip des Wandels ein Männliches bleibe.70

Gegenüber der (scheinbar) nicht-geschlechtlichen Zeugung von Lebendigem aus toter Materie, als Autopoiese oder Urzeugung, wurde die Selbstzeugung aus (dann weiblich definierten) Lebewesen heraus zumindest seit Mitte des 19. Jahrhunderts ein problematisches Politikum. Diese Art der Fortpflanzung, die nach heutigem biologischen Verständnis in allen Tiergruppen vereinzelt oder verbreitet vorkommt und ledigliche für Säuge- und Beuteltiere ausgeschlossen wird, war bereits Aristoteles vertraut 71 und Erzählungen von rein weiblicher Fortpflanzung in Mittelmeerraum und Orient sowie in frühen christlichen Schriften weit verbreitet.72 Seit den ersten mikros­kopischen Beobachtungen der Entwicklung unbefruchteter Eizellen durch Marcello Malpighi 1675 mehrten [<< 108] sich die Berichte von Jungfernzeugungen im Tierreich über die Jahrhunderte.73 In der Debatte zwischen Ovisten und Animakulisten stärkte die Parthenogenese die Position der Ovisten.74 Nachdem nicht einmal der Geschlechtsakt als Impuls der Eientwicklung beobachtet wurde, wurde die Parthenogenese einerseits als willkommenes Argument für die Position verwendet, Zellen und Lebewesen seien grundsätzlich hermaphroditisch und eine dichotome Zweigeschlechtlichkeit als These abzulehnen,75 andererseits wurde sie aus demselben Grund als eine Bedrohung der Rolle der beiden Geschlechter beschrieben.76 Die Lösung dieser Bedrohung wurde über die aristotelische Vorstellung der größeren (energetischen) Bedeutung des männlichen Beitrags herbeigeführt: Diese trug zur sexuellen Ordnung der Moderne bei, indem schließlich, in einem nach der Ansicht des Historikers Frederick Churchill grundlegenden Schritt, die sexuelle Fortpflanzung als höherwertig gegenüber der asexuellen gesehen wurde.77 So beschrieb etwa Johan Japetus Steenstrup 1845 erstmals den Wechsel von sexueller zu asexueller (parthenogenetischer) Generation 78 und begründete die Höherwertigkeit Ersterer mit ökonomischen Begriffen des Verbrauchs der sperma­tischen Kräfte im Lauf der asexuellen Generationen.79

Auch Ende des 20. Jahrhunderts reflektieren Theorien zur Parthenogenese sowie die Geschichtsschreibung zu früheren Theorien über sie, wie die Biologin Smilla Ebeling feststellt, die gesellschaftlich aktuellen „diskursiven Aushandlungen um die ‚Fortpflanzungsmacht‘“.80 Evolutionsbiologische Texte problematisierten die eingeschlechtliche Fortpflanzung etwa als evolutionäre „Sackgasse“,81 während der ­zweigeschlechtlichen Zeugung höhere genetische Flexibilität zugeschrieben würde.82 Wie Ebeling feststellt, diskutierten populärwissenschaftliche Texte zur Parthenogenese die „,Freiheitsbestr [<< 109] ebungen der Frauen‘“, die „die Männchen abschaffen“.83 Ein ähnliches Motiv, Frauen könnten mittels künstlicher Befruchtung gänzlich ohne Männer leben, wird zur gleichen Zeit, Ende des 20. Jahrhunderts, von manchen wissenschaftlichen Befürwortern der breiten Anwendung von Gen- und Reproduktionstechnologien als emanzipato­risches Argument ebenfalls in die Öffentlichkeit gebracht.84

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