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Von Quellenverlusten: Der Jakobinerklub und die Krise der Revolutionierung

Von zwei Büchern wissen wir nur durch eine detaillierte Beschreibung in der Mainzer Nationalzeitung. Dort erschien am 7. November 1792 die Meldung, dass „im Saale der Konstitutionsfreunde“ (dem Akademiesaal im ehemals kurfürstlichen Schloss) ein rotes und ein schwarzes Buch ausgelegt seien: Das rote, in Saffianleder gebundene, mit einer Jakobinermütze verzierte Buch sei, so stand dort geschrieben, dazu bestimmt, die Unterschriften derer aufzunehmen, die sich zu den Idealen der französischen Revolution und der französischen Verfassung bekennen. Wer in dem in schwarzes Papier gebundenen, mit Ketten und mit der Überschrift „Sklaverei“ versehenen Buch unterschreibe, erkläre sich für die Beibehaltung des alten feudalen Systems. Wer gar nicht erscheine, der solle für einen „Freund der alten Sklaverei“ gehalten werden. Alle Männer über 21 Jahren wurden zur Unterschrift aufgefordert (Abb. 11a u. b).26 Hinter den Konstitutionsfreunden verbarg sich die „Gesellschaft der Freunde der Freiheit und Gleichheit“. Nach Straßburger und Pariser Vorbild hatte sie der Sekretär Custines, der Wormser Gymnasiallehrer Georg Wilhelm Böhmer, schon zwei Tage nach der Kapitulation (am 23. Oktober 1792) ins Leben gerufen. Denn auf die Verwaltung allein wollte man bei der Revolutionierung nicht vertrauen. Der Jakobinerklub sollte daher alle Demokraten vereinigen: Zu seinen Hochzeiten zählte der Klub fast 500 Mitglieder, darunter nicht wenige Handwerker. Tonangebend waren jedoch Intellektuelle wie der vormalige kurfürstliche Leibarzt und Medizinprofessor Georg Christian Wedekind, der oben bereits genannte Mathematikprofessor Mathias Metternich oder der Philosophieprofessor Andreas Joseph Hofmann, am Anfang auch Böhmer. Sie sahen nun den Anbruch einer neuen Zeit gekommen und waren wie Georg Forster von dem Wunsch beseelt, die „bedrückten, gemißhandelten, stillschweigenden Knechte[n] eines Priesters“ (nämlich des Erzbischofs und Kurfürsten Erthal) „in aufgerichtete, lautredende, freie Bürger“ zu verwandeln, „in kühne Freunde der Freiheit und Gleichheit, bereit, frei zu leben oder zu sterben“ (so lautete die Devise des Klubs).27 Seine Hauptaufgabe sah der Klub darin, in öffentlich zugänglichen Sitzungen im Akademiesaal des Schlosses für die Idee der Freiheit zu werben, das alte Regime unter dem Kurfürsten Erthal als Despotismus zu entlarven und die Grundsätze und Vorzüge der Demokratie zu erklären. Hinzu kamen symbolische Aktionen wie das Setzen eines Freiheitsbaumes am 3. November 1792, mit dem der Klub an die volkstümliche Festkultur, das Maibaumsetzen, anknüpfte, oder wie eben auch die Idee mit dem roten und dem schwarzen Buch. Böhmer hatte sie dem Klub vorgeschlagen: Custine habe die Mainzer ja aufgefordert, sich zu erklären, „ob sie lieber freie Menschen oder Sklaven sein“ wollten. Mit der Unterschriftenaktion wollte Böhmer die Entscheidung der Mainzer befördern, damit „der Bürger Custine weiß, wie er daran ist“.28

Abb. 11a u. b: Ausschnitte aus der Ankündigung des Jakobinerklubs in der Mainzer Nationalzeitung Nr. 176 vom 7. November 1792, ein rotes und ein schwarzes Buch zur Unterschrift auszulegen.

Die Erwartungen an die Aktionen waren hoch: Wenn das rote Buch mit Unterschriften voll sein würde, dann, so erhoffte man sich, könne man noch für 1792 vom ersten Jahre der Mainzer Republik reden.29 Immerhin trugen sich, glaubt man einem Briefzeugnis, 1.50030, nach einer anderen Quelle, einem für den Kurfürsten bestimmten Spitzelbericht,31 1.200 Bürger in das rote Buch ein: Das war ungefähr ein Viertel der stimmberechtigten Bürgerschaft.32 Darunter waren viele Zunftbürger, weil die Präambel des roten Buches bis auf Weiteres die Beibehaltung der Zunftverfassung garantierte. Mit diesem taktischen Zugeständnis hatten die Jakobiner die Bürger geködert. Das schwarze Buch blieb, wie zu erwarten, anscheinend leer33 bzw. fast leer: Nach der bereits erwähnten kurfürstlichen Quelle sollen sich zumindest vier, allerdings nicht mit Namen genannte Bürger getraut haben zu unterschreiben.34 Der moralische Druck war enorm: Insbesondere von den Mitgliedern der Verwaltung wurde das Bekenntnis zur französischen Verfassung erwartet, galt dieses doch gleichzeitig als Loyalitätsbeweis. Wer sich weigerte, wie das Mitglied der Allgemeinen Administration, der bereits erwähnte ehemalige kurfürstliche Hofrat Johann Georg Reuter, musste sich gefallen lassen, öffentlich als „Despotenknecht“ bloßgestellt zu werden.35 Reuter verteidigte jedoch seine Entscheidung in einer Druckschrift und stellte prinzipiell die Frage nach der verfassungsrechtlichen Stellung des Klubs: Das rote Buch sei nur „das Werk einer Privatgesellschaft“ und entbehre daher jeglicher offiziellen Sanktionierung.36

In der Tat stellt sich die Frage, inwieweit es sich bei dem roten und schwarzen Buch um eine obrigkeitliche Veranstaltung handelte. Die Grenzen waren schon allein dadurch unscharf, dass einige führende Klubmitglieder von Custine in die neuen Zivilverwaltungen berufen worden waren und von daher auch amtliche Befugnisse besaßen. In seinen Statuten hatte der Club aber eigens festgeschrieben, dass er keine öffentliche Gewalt sein und nur eine beratschlagende Funktion haben sollte: Gänzlich vermeiden wollte man, so wörtlich, „das Ansehen eines Staats im Staate“.37 Bis zu welchem Maß der Klub auf das Handeln und Denken der Bürger Einfluss nehmen dürfe, war Mitte November ausdiskutiert worden: Dabei ging es um den Vorschlag der beiden „Hardliner“ Metternich und Wedekind, Spitzel einzusetzen, um mögliche, im Stillen geschmiedete Komplotte gegen die „guten Absichten“ des Klubs rechtzeitig zu entdecken. Doch die Klubmehrheit hatte diese Überwachungsmaßnahme als „Einführung einer Staatsinquisition“ abgelehnt; die Maßnahme würde den Klub den Bürgern nur „gehässig“ machen.38 Gegen Reuters Argument von der Privatgesellschaft konnte man daher nichts einwenden. Deswegen bat der Klub Anfang Dezember Custine um eine amtliche Autorisierung der mittlerweile ins Stocken geratenen Unterschriftenaktion: Custine verweigerte diese jedoch. Ohne seinen Segen war die Fortführung der Aktion sinnlos geworden, sodass das rote und das schwarze Buch im Lauf des Dezembers stillschweigend vom Klub eingezogen wurden. Dass beide Bücher verlorengegangen bzw. vernichtet worden sind, verwundert nicht: Denn weder der Klub noch diejenigen, die unterschrieben hatten, konnten an einer Überlieferung Interesse haben.

Der misslungene Versuch, mit dem roten Buch eine Art Volksabstimmung durchzuführen, markierte den Beginn einer Krise des Klubs, die Anfang Januar 1793 ihren Höhepunkt erreichen sollte. Davon zeugen noch herausgeschnittene Seiten in den beiden Klubprotokollen (Abb. 12). Die Beseitigung der Aufzeichnungen über die Sitzungen vom 10. und 11. Januar 1793 hat jedoch nicht zu dem gewünschten Ergebnis geführt: Briefe von zwei Jakobinern und einem interessierten Gast, die als Augenzeugen an den Sitzungen teilnahmen,39 liefern ausführliche Berichte zu dem, was uns durch den bewussten Tilgungsakt verlorengegangen ist.


Abb. 12: Die Reste von vier herausgeschnittenen Seiten aus einem der zwei Protokollbücher des Mainzer Jakobinerklubs mit den Einträgen zum 10./11. Januar 1793. Die Seitenzählung wurde dadurch nicht unterbrochen.

Was aber war so brisant an diesen Seiten gewesen? Dazu ist nochmals auf das vom Pariser Nationalkonvent beschlossene Gesetz vom 15. Dezember zurückzukommen, von dem schon weiter oben die Rede war und das in Mainz einen Politikwechsel eingeleitet hatte. Denn dieses Gesetz hatte nicht nur die Durchführung von Gemeinde- und Parlamentswahlen angeordnet, sondern auch das Militär vor dem Hintergrund der sich verschlechternden Kriegslage ermächtigt, die Güter aller „Despoten“ zu konfiszieren und alle zur Verteidigung nötigen Gelder durch Steuern einzutreiben. Die zunehmende Ausbeutung durch das Militär brachte jedoch Verwaltung und Jakobiner in eine immer schwierigere Lage gegenüber den Bürgern, verstanden sie sich doch als Sachwalter des „allgemeinen Wohls“40, die die Bürger vor ungerechtfertigten Forderungen des Militärs zu schützen hatten. Außerdem musste sich der Klub angesichts des anhaltenden Widerstands der Mehrheit der Mainzer Bürger grundsätzlich fragen, warum die Prinzipien von Freiheit und Gleichheit „so wenig Beifall“ fanden.41 Heftige Meinungsverschiedenheiten über den richtigen Weg der Revolutionierung brachen nun auf. In der besagten Sitzung am 10. Januar holte Andreas Joseph Hofmann in einer Rede zu einem Rundumschlag gegen die Klubführung, die Besatzungsmacht und die Allgemeine Administration aus. Den Klub beschuldigte er, durch übelbeleumundete Mitglieder, aber auch durch seine übertriebene Polemik gegen Gegner für viele Mainzer untragbar geworden zu sein. Zur besonderen Zielscheibe wurde der Präsident der Administration, Dorsch, dem Hofmann fachliche Inkompetenz und Bereicherung im Amt vorwarf. Vor allem aber prangerte Hofmann die Kriegskommissare an: Die von ihnen erhobenen Kontributionen ließen den Verdacht aufkommen, es gehe den Franzosen nur darum, Mainz auszubeuten und dann zu verlassen.42

Die aufgestaute Unzufriedenheit gegen das Militär artikulierte auch Georg Forster in einem Rechenschaftsbericht, den er über die Amtsführung der Administration in diesen Tagen zu Papier brachte: Er verwahrte sich darin, „bloß Vollstrecker militairischer Befehle“ zu sein und „zum blinden Werkzeuge einer feindlichen Macht“ herabgewürdigt zu werden. Seine bittere Anklage gipfelte in dem Gesuch um Entlassung.43 Doch soweit kam es nicht. Offensichtlich hielt Forster seinen im Entwurf erhaltenen Rechenschaftsbericht zurück. Forster, Anfang des Jahres zum Präsidenten des Klubs gewählt, war es auch, der verhinderte, dass der Konflikt mit Hofmann auf die Spitze getrieben wurde. Am Ende der, sich auch auf den darauffolgenden Tag erstreckenden, erhitzt geführten Debatten schlug Forster als friedenstiftende Maßnahme vor, die entsprechenden Seiten aus dem Klubprotokoll herauszuschneiden und damit „alle unangenehme Erinnerung“ daran aus der Welt zu schaffen.44 Dieser Vorschlag wurde so von den Klubmitgliedern angenommen, mit dem Ergebnis, wie es sich uns heute präsentiert. Zumindest äußerlich wurde die wiederhergestellte Eintracht im Klub nur wenige Tage später, am 13. Januar, durch die neuerliche Errichtung eines Freiheitsbaumes in einem großen Fest demonstriert.

Von Stimmzetteln und Strichlisten: Wahlen und Eidzwang

In einer Klubistenakte im Staatsarchiv Würzburg45 haben sich von den ersten Wahlen im Heiligen Römischen Reich, die am Prinzip der Volkssouveränität orientiert und bei der alle Männer über 21 Jahre ohne Unterschied des Standes und der Religion stimmberechtigt waren, noch Stimmzettel und Strichlisten erhalten (Abb. 13a-d). Bei diesen Wahlen, die zwischen dem 24. und 26. Februar 1793 in Mainz und den anderen von den Franzosen besetzten linksrheinischen Orten durchgeführt wurden, war besonders auffallend, dass es keine Kandidatenlisten gab. Im Gegensatz zu heute waren auf den Stimmzetteln nicht die Namen der zu Wählenden gedruckt, sondern das Amt, für das die Kandidaten gewählt werden sollten: im Fall des abgebildeten Stimmzettels die Ämter des Maires und des Gemeindeprokurators (Abb. 13a). Vor dem Wahlakt hatte der Wahlvorsteher die stimmfähigen Einwohner, die in den als Wahllokal dienenden Mainzer Kirchen zusammengekommen waren, informiert, „auf ein und dasselbe Stückchen Papier die Namen der zwei Einwohner aufzuzeichnen, die sie wegen ihrer Redlichkeit, ihrer Einsicht und Vaterlandsliebe“ dieser beider Stellen „am würdigsten hielten“.46 Gab es keine absolute Mehrheit, so erfolgte ein zweiter Wahldurchgang, bei dem über die beiden Kandidaten, die die meisten Stimmen auf sich vereinigt hatten, entschieden wurde. Die abgebildeten Wahlzettel (Abb. 13b) mit Voten für Franz Konrad Macké und Richard Joseph Ratzen für das Amt des Maires und für Joseph Wasmann und Adam Umpfenbach für das Amt des Gemeindeprokurators stammen aus einer solchen Stichwahl.47


Abb. 13a: (Ungültiger?) Stimmzettel für die Maire- und Gemeindeprokurator-Wahlen. Als Maire ist (Franz Konrad) „Macke“ eingetragen, der Name des für das Amt des Gemeindeprokurators vorgeschlagenen „Prof. (Andreas Joseph) Hoffmann“ ist dagegen durchgestrichen.


Abb. 13b: Stimmzettel für die Stichwahlen zum Maire und Gemeindeprokurator. Bei der Wahl zum Gemeindeprokurator wurde der obere, mit „Maire“ bedruckte Teil des Stimmzettels abgeschnitten.


Abb. 13c: Strichliste aus dem Stimmbezirk D mit den Namen der Kandidaten für die Wahl zum Stellvertreter des Mainzer Gemeindeprokurators und für die insgesamt 12 Munizipalen des Stadtrats.


Abb. 13d: Strichliste mit der im Stadthaus vorgenommenen Auszählung der Stimmen in allen Stimmbezirken (A-F) für die Wahl zum Munizipalbeamten, alphabetisch nach Kandidaten sortiert, hier: die Buchstaben G und H. Mit 140 Stimmen gelang Georg Höffling der Einzug in die neu geschaffene Behörde.

Wie die Stimmen ausgezählt wurden, zeigen erhaltene Strichlisten wie die hier abgebildete aus dem Stimmbezirk D (Abb. 13c)48 mit den Namen der Kandidaten für die Wahl zum Stellvertreter des Mainzer Gemeindeprokurators und für die insgesamt zwölf Munizipalen des Stadtrats. Man kann plastisch nachvollziehen, wie die Kandidaten in der Reihenfolge der ausgezählten Stimmzettel notiert wurden. Links unten zeichneten für die Richtigkeit des Ergebnisses der Präsident des betreffenden Wahlvorstands, in diesem Fall der Maire Ratzen, sowie der Schriftführer des Wahlvorstands Johann Anton Scheuer gegen. Die einzelnen Sektionen hatten danach ihre Abstimmungsergebnisse mit den Stimmzetteln verschlossen in das Stadthaus zu bringen, wo sie von der noch amtierenden provisorischen Munizipalität in Gegenwart sämtlicher Wahlvorsteher geöffnet und zusammengezählt wurden.

Während alle sechs Mainzer Stimmbezirke, die identisch mit den in kurfürstlicher Zeit nach Buchstaben unterschiedenen Mainzer Stadtvierteln waren, gemeinsam die Munizipalität wählten, sah das Wahlverfahren für die Abgeordneten zum Rheinisch-deutschen Nationalkonvent etwas anders aus. Hier wählte jeder Stimmbezirk seinen Abgeordneten. Die Kandidaten waren frei wählbar und nicht auf einen Bezirk festgelegt, sodass es passieren konnte, dass in mehr als einem Stimmbezirk derselbe Kandidat gewählt wurde. Dieser Fall war in der von Forster und anderen nach dem französischen Wahlrecht ausgearbeiteten Wahlordnung in Paragraf 46 geregelt. Danach musste „diejenige Urversammlung, welche mit ihrer Deputiertenwahl zuerst fertig“ war, die andern sogleich über das Ergebnis informieren, damit der Deputierte nicht nochmals gewählt wurde. Sollten zwei Stimmbezirke sich für denselben Deputierten entschieden haben, sollte derjenige Stimmbezirk, der später fertig geworden war, erneut zu einer Wahl schreiten.49 So war der amtierende Maire und Wahlvorsteher des Stimmbezirks D, Richard Joseph Ratzen, am 25. Februar sowohl im Stimmbezirk A als auch in seinem eigenen „zu gleicher Zeit“ zum Deputierten gewählt worden. Da Ratzen die Stichwahl im Stimmbezirk A für sich entschieden hatte, kam es tags darauf im Stimmbezirk D zu einer Stichwahl zwischen den beiden Kandidaten, die im ersten Durchgang nach Ratzen die meisten Stimmen auf sich vereinigt hatten.50 Auch Forster selbst sollte von diesem Fall betroffen sein, denn er wurde sowohl in dem Dorf Wöllstein (bei Bad Kreuznach) als auch im Mainzer Wahlbezirk B zum Abgeordneten gewählt (Abb. 14).51 Das Beispiel des § 46 zeigt eindrücklich, wie hinsichtlich der Lösungen für verschiedene Wahleventualitäten noch experimentiert wurde.

Doch obwohl die Bürger erstmals selbst bestimmen konnten, wer sie regieren sollte, machten sie von diesem Recht keinen Gebrauch. Das Gros der Mainzer Bürgerschaft boykottierte die Wahlen von Munizipalen und Konventsabgeordneten: Nur 372 von 4.626 Mainzern, das waren acht Prozent der stimmberechtigten, über 21 Jahre alten Männer, gaben ihre Stimme ab.52

Der Grund für die Zurückhaltung war eine Klausel in der Wahlordnung, die auf eine Bestimmung in dem Dekret des Pariser Nationalkonvents vom 15. Dezember zurückging: An den Wahlen teilnehmen durfte nur, wer zuvor einen Eid auf „Freiheit und Gleichheit“ abgelegt hatte. Allen Eidverweigerern hatte Custine die Konfiskation ihres Vermögens und die Ausweisung aus der Stadt angedroht. Trotz dieser massiven Drohung wollte sich die Mehrheit der Bürger auf einen solchen Schwur nicht einlassen. Dabei dachten viele Eidverweigerer ganz in den Kategorien traditioneller Besatzungspolitik. So hatten sie den Franzosen einen „Sicherheitseid“ angeboten, um nicht als Feinde Frankreichs zu gelten und unter das Kriegsrecht zu fallen:53 Dieser Eid hätte die Versicherung von Treue und Freundschaft enthalten sowie das Versprechen, nichts Feindseliges gegen die Franken unternehmen zu wollen; er hätte aber keine eidliche Verpflichtung bedeutet, sich von dem alten Regime bzw. dem Kurfürsten loszusagen. Einer revolutionären Obrigkeit gegenüber loyal zu sein, auch wenn man gegenrevolutionär gesinnt war, war für viele Verweigerer kein Widerspruch.54 Die unsichere Kriegslage tat ihr Übriges: Seit Mitte Februar befand sich die Stadt im Belagerungszustand. Angesichts des ungewissen Kriegsausgangs wollten die Bürger kein Risiko weder für ihr Leben noch für ihren Besitz eingehen; vor einem Friedensschluss wollten sie sich auf gar keinen Fall festlegen.55 Die Ablehnung resultierte aber auch aus der Enttäuschung, ja dem Zorn der Bürger, dass die Befreier mit der erzwungenen Eidleistung gegen die wichtigsten Grundsätze der Französischen Revolution und gegen Custines Proklamation verstießen. Einige Zunftbürger sowie in Mainz verbliebene kurfürstliche Beamte brachten es im Februar 1793 auf den Punkt, als sie fragten, ob die Befreier dem Volk nicht „seinen freien Willen“ lassen müssten, und als sie für sich reklamierten, beschließen zu dürfen, „was das Resultat unsers freien Willens, nicht Erpressung höherer Gewalt seyn sollte“.56


Abb. 14: Protokoll über die Wahl Georg Forsters zum Deputierten des Nationalkonvents in der Mainzer Sektion B (mit der Liebfrauenkirche als Wahllokal). Forster setzte sich hier in einer Stichwahl mit 14 von insgesamt 17 abgegebenen Stimmen gegenüber seinem Gegenkandidaten Michel Martin Matthäi durch.

Wenige Tage vor der auf den 24. Februar festgesetzten Wahl hatte sich die Lage in der Stadt sogar dramatisch zugespitzt. Der Unmut der Bürger entlud sich in einer aufstandsähnlichen, von den Jakobinern als „Zusammenrottierung“ beschriebenen Protestaktion.57 Bei dieser wurden die Zünfte auch von der Geistlichkeit und von Behörden wie dem Stadtgericht unterstützt; sogar die von Custine eingesetzte Munizipalität solidarisierte sich mit der Bürgerschaft. Die Forderungen lauteten, Eidleistung und Wahlen erst einmal aufzuschieben und unter Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker an den Nationalkonvent zu appellieren. Damit hätten die Bürger sogar beinahe bei der Besatzungsmacht reüssiert, denn die beiden Kommissare des Exekutivrats, Jean-Frédéric Simon und Gabriel Grégoire, gingen auf die Forderungen der Bürger ein. Die Tragik wollte es, dass die drei radikalen Konventskommissare Antoine-Christophe Merlin, Jean-François Reubell und Nicolas Hausmann von einer Reise vorzeitig nach Mainz zurückkehrten und alle Zugeständnisse sofort annullierten. Zur Sicherheit ordneten sie die Abgabe aller Waffen an.

So verhinderte der Zwang eine größere Akzeptanz der den Bewohnern erstmals eröffneten Möglichkeit, ihre Regierung selbst zu wählen. Die Nichtwähler dokumentierten durch ihr Fernbleiben ihre Opposition. Doch das war nicht entscheidend. Ein Quorum gab es nicht (wie übrigens auch heute nicht). Als ob die Konventskommissare das Ergebnis geahnt hätten, hatten sie wenige Tage vor der Wahl erklärt, dass „diejenigen, die nicht wählen […] ihre Rechte auf diejenigen übertragen, die bei den Wahlen erscheinen. Die Zahl der Wählenden mag also noch so klein sein, so ist sie immer gültig, wenn sie in der vorgeschriebenen Form vorgenommen werden“.58 Trotz der nur schwachen demokratischen Basis wurde das Ergebnis der Wahlen in den folgenden Wochen konsequent umgesetzt. Am 3. März übernahm die neue, erstmals gewählte Munizipalität die Amtsgeschäfte. Am 17. März traten dann die in Mainz und in den anderen 147 linksrheinischen Gemeinden gewählten Abgeordneten im Deutschhaus zum Rheinischdeutschen Nationalkonvent zusammen. Zu seinen ersten Handlungen gehörte ein Tag später das Dekret, dass von nun an „der ganze Strich Landes von Landau bis Bingen […] einen freyen, unabhängigen, unzertrennlichen Staat ausmachen“ sollte und dass der „einzige rechtmäßige Souverain dieses Staats, nämlich das freie Volk […] allen Zusammenhang mit dem deutschen Kaiser und Reiche“ aufkündigte.59

Die Zwangsmaßnahmen, die die Wahlen begleiteten und ein Hauptgrund für die Gewaltexzesse Mainzer Bürger waren, die sich nach der Wiedereroberung der Stadt an den Jakobinern entluden,60 verdunkelten, dass hier erstmals etwas ganz Neues stattgefunden hatte. Den Enthusiasmus der Wenigen, die von ihren staatsbürgerlichen Rechten Gebrauch machten, kann man noch in dem Protokoll über die Wahl des Zinngießers und ehemaligen kurfürstlichen Stadthauptmanns Johann Martin Eckel zum Abgeordneten des Mainzer Nationalkonvents spüren. Eckel, der dem Wahlvorstand in der Sektion C präsidierte, war selbst als Kandidat vorgeschlagen worden und hatte dort zusammen mit dem Jakobiner Felix Anton Blau die meisten Stimmen auf sich vereinigt, jedoch keine absolute Mehrheit erlangt. Erst in der Stichwahl fiel die Entscheidung zu seinen Gunsten,61 und zwar „zur allgemeinen Freude“, die sich „durch Händeklatschen und Leuten der Glocken“ ausdrückte. Das Protokoll vermerkte weiter: „dem alten biederen 81järigen Greisen stunden die Tränen in den Augen, gerürt von dem Zutrauen, das seine Mitbürger in ihn setzten. Man wünschte ihm Glück, und er versprach den Rest seiner Kräfte zum allgemeinen Wohl anzuwenden. Und so schieden die Bürger, die zum ersten Mal ihre Volkssouvrenitaet ausgeübt, von einander“.62

Возрастное ограничение:
0+
Дата выхода на Литрес:
22 декабря 2023
Объем:
473 стр. 122 иллюстрации
ISBN:
9783961760978
Правообладатель:
Автор
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