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WOLFGANG DOBRAS
Die Mainzer Republik – Ausgewählte Ereignisse und ihre archivalische Überlieferung

Huber 2016; ders. 2017.

Die neun Monate der Mainzer Republik vom Oktober 1792 bis Juli 1793 zählen zu den am besten dokumentierten Epochen der Mainzer Geschichte. Die wichtigsten Quellen hat Heinrich Scheel in zwei Bänden 1975 und 1981 auf über 1.400 Seiten ediert.1 Gleichwohl handelt es sich dabei nur um einen kleineren Teil dessen, was sich an Schriftgut zur Mainzer Republik erhalten hat.

An erster Stelle ist die Publizistik zu nennen. Die Mainzer Republik löste mit über 400 pro- und antirevolutionären Flugschriften und einem Dutzend periodisch erscheinender Zeitschriften2 eine wahre publizistische Flut aus und schuf damit eine vorher nicht gekannte Dimension gesellschaftlicher Politisierung und politischer Öffentlichkeit (Abb. 1). Zur Publizistik kommen umfangreiche Darstellungen der Ereignisse hinzu, die unmittelbar nach dem Ende der Mainzer Republik gedruckt wurden. Sie sind überwiegend aus der Siegerperspektive geschrieben: So erschien schon 1794 mit kurfürstlichem Imprimatur die Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen des Mainzer Professors der Kameralwissenschaft Bernhard Sebastian Nau, der in seinem vierten Band ausführlich auf Mainz eingeht und auch Teile der Protokolle des Mainzer Jakobinerklubs ediert hat.3 Die in 12 Heften 1793/94 veröffentlichte „Darstellung der Mainzer Revolution“ des Mainzer Hofgerichtsadvokaten Anton Hoffmann ist sogar bis heute eine zentrale Quelle für die Geschichtsschreibung über die Mainzer Republik geblieben:4 Hoffmann erlebte als Augenzeuge bis zu seiner Deportation im April 1793 die revolutionären Vorgänge und dokumentierte sie akribisch. Obwohl in einem polemisierenden Stil aus einer dezidiert antirevolutionären und prokurfürstlichen Perspektive geschrieben, bietet seine Darstellung auf über 1.000 Oktavseiten eine derart intime, andernorts nicht überlieferte Detailkenntnis der Personen und Ereignisse, dass sein Werk nicht übergangen werden kann, aber entsprechend kritisch zu nutzen ist.5


Abb. 1: Rede des Pariser Konventskommissars Antoine-Christophe Merlin de Thionville vom 12. Januar [richtig: 13. Januar] 1793 zur Errichtung eines weiteren Freiheitsbaumes in Mainz, Mainz: Druckerei des St. Rochus-Hospitals 1793. Die Buchstaben „FG“ für „Freiheit“ und „Gleichheit“ auf dem Titelblatt sind der Abklatsch einer von den Mainzer Jakobinern geprägten, ansonsten nicht mehr erhaltenen Metallplakette, die an die symbolträchtige Zerstörung des kurfürstlichen Gerichtssteins auf dem Höfchen durch die Revolutionäre am 3. November des Vorjahres erinnern sollte.

Nicht weniger beeindruckend ist die archivalische Überlieferung: An erster Stelle zu nennen ist der in den Farben der Trikolore gebundene, sich über die Zeit vom 17. bis 31. März 1793 erstreckende Protokollband des Rheinischdeutschen Nationalkonvents, des ersten nach allgemeinem Männer-Wahlrecht gewählten Parlaments auf deutschem Boden (Abb. 2). In einer noch zu schreibenden Geschichte der Demokratie in Deutschland in 100 Objekten dürfte dieser Band nicht fehlen. Von ähnlich großer Bedeutung sind die Protokolle des kurz nach der Übergabe von Mainz an den französischen General Custine am 23. Oktober 1792 gegründeten Mainzer Jakobinerklubs, der „Gesellschaft der Freunde der Freiheit und Gleichheit“: Die insgesamt drei ebenfalls blauweiß-rot gebundenen Bände spiegeln die z. T. heftig und kontrovers, fast immer mit enthusiastischem Engagement geführten Diskussionen und Debatten dieser Demokraten wider.6


Abb. 2: Band mit den Protokollen der Sitzungen des Mainzer Nationalkonvents, 17. bis 31. März 1793.

Die große Masse der Überlieferung machen jedoch Verwaltungsakten mit unzähligen Sitzungsprotokollen, Berichten, Verhören, Reskripten, Weisungen, Rechnungen, Eingaben, Verordnungen und Proklamationen aus. Sie ermöglichen nicht nur Einblicke in Hintergründe und Umstände der Revolutionierung, sondern auch in den Verwaltungsalltag, der z.B. im Winter 1793 nicht nur von den Vorbereitungen zur Parlamentswahl bestimmt war, sondern auch von dem verzweifelten Bemühen um ausreichende Brennholzzufuhr nach Mainz, damit die Bürger die kalte Jahreszeit überstehen konnten. Verwahrt werden diese Akten zum einen in dem Archiv der während der neun Monate amtierenden Mainzer Stadtverwaltung, der Munizipalität. Dieses befindet sich im Mainzer Stadtarchiv und zählt über 100 Einheiten, vor allem Protokolle der Sitzungen der Munizipalen sowie die Beilagen zu den verhandelten Themen. Zum anderen handelt es sich um Akten, die von den kurfürstlichen Regierungsbehörden im Zuge ihrer strafrechtlichen Untersuchungen gegen die Mitglieder des Mainzer Jakobinerklubs nach der Wiedereroberung von Mainz seit dem Sommer 1793 produziert worden sind. Diese insgesamt 872, sog. Klubistenakten liegen heute im Staatsarchiv Würzburg und stellen den größten Quellenfundus dar, aus dem die Forschungen zur Mainzer Republik geschöpft haben. Verloren sind dagegen die Protokolle und Akten der obersten zivilen Verwaltung der Mainzer Republik, der für den gesamten Landstrich zwischen Landau und Bingen zuständigen Allgemeinen Administration. Sie fielen einschließlich der Mitgliederliste des Mainzer Jakobinerklubs der Bombardierung des Staatsarchivs Darmstadts im Zweiten Weltkrieg zum Opfer. Der Verlust relativiert sich aber insofern, als sich die Korrespondenzen der Allgemeinen Administration zumindest in den Akten der Mainzer Munizipalität, also in der Gegenüberlieferung, sowie teilweise in den Papieren des Vizepräsidenten der Administration und gleichzeitig eines der führenden Köpfe der Mainzer Republik, nämlich Georg Forsters,7 greifen lassen. Weitere relevante Bestände befinden sich im Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien mit Akten zu den Militäraktionen und zur Wiedereroberung von Mainz durch die Reichsarmee im Sommer 1793, und natürlich in den Archives Nationales in Paris; hier vor allem die Akten des Pariser Nationalkonvents, der die revolutionäre Entwicklung in Mainz ja maßgeblich bestimmte.8

Last but not least wäre noch auf die zahlreichen Ego-Dokumente zu verweisen, vor allem Korrespondenzen wie den mustergültig edierten Briefwechsel Georg Forsters.9 Hinzu kommen Tagebücher, bei denen im Gegensatz zu den gut erforschten Korrespondenzen noch mancher Schatz zu heben ist. So ist vor kurzem das Tagebuch des Weimarer Hofbediensteten Johann Conrad Wagner von der Germanistin Edith Zehm ediert worden.10 Wagner hat von 1792 bis 1794 an dem Feldzug der alliierten Streitkräfte gegen Frankreich als Verwalter der Feldkasse teilgenommen und auch die Belagerung von Mainz im Sommer 1793 erlebt. Sein Tagebuch diente Goethe als Erinnerungsstütze bei der Abfassung seines autobiografischen Werkes „Campagne in Frankreich 1792“.11

Aus diesen unzähligen Quellen habe ich für meinen Überblick drei Beispiele ausgewählt, von denen jedes ein charakteristisches Licht auf die Mainzer Republik wirft. Ich werde mich zunächst mit der Verwaltung der Mainzer Republik beschäftigen, danach auf den Jakobinerclub als politische Bewegung eingehen, um mich schließlich im letzten Teil den ersten allgemeinen, auf dem Prinzip der Volkssouveränität beruhenden Gemeinde- und Parlamentswahlen in Deutschland zuzuwenden. Die Forschungs- und politische Diskussion um die Mainzer Republik bleibt bei diesem quellenorientierten Überblick ausgespart.12

Von Behördentiteln und Behördensiegeln: Revolutionierung und Verwaltung

Am 12. Dezember 1792 „im ersten Jahr der Frankenrepublik“ stellte die Mainzer Munizipalität der Mannheimer Schiffersfrau Spatz einen Schein aus (Abb. 3a). Mit diesem wurde die Seuchenfreiheit von Mainz bestätigt, das als „ganz gesund“ und als jeglicher „Infektion oder ansteckenden Krankheit“ unverdächtig deklariert wurde. Dieser Pass empfahl allen Obrigkeiten, die Schifferin mit ihren Spezereiwaren auf ihren zwei Schiffen ungehindert nach Speyer und zurück fahren zu lassen. Das Dokument war vom Mainzer Maire Richard Joseph Ratzen unterzeichnet. Die Datierung nach den Regierungsjahren der „Frankenrepublik“, die französische Bezeichnung des Bürgermeisters und insbesondere die eigenhändige Gegenzeichnung durch den französischen Bürger General Adam-Philippe Custine machten deutlich, dass Mainz nicht mehr unter der Herrschaft des Kurfürsten, sondern des revolutionären Frankreichs stand. Umso auffälliger ist, dass das zur Beglaubigung verwendete Siegel keine revolutionäre Freiheitssymbolik zeigt: Der Abdruck stammt von dem mit dem Mainzer Rad verzierten Stempel der alten kurfürstlichen Gesundheitsbehörde, des Consilium politicum et sanitatis. (Abb. 3b) Offensichtlich hat das weder Ratzen noch Custine gestört. Man mag dies mit der Besonderheit des seuchenpolizeilichen Verwaltungsakts erklären, für den sich eine Siegelneuanfertigung nicht lohnte, doch handelt es sich keineswegs um einen Einzelfall. So hat die Mainzer Munizipalität auch von ihr ausgestellte Schuldscheine bis Anfang Februar 1793 mit einem Siegel beglaubigt, das das städtische Doppelrad zierte und als Ratssiegel der kurfürstlichen Residenzstadt Mainz firmierte.13 Schon Kurt Strecker14 hat darauf hingewiesen, dass dieses kurfürstliche Stadtratssiegel sich nur während der Mainzer Republik nachweisen lässt. Ob das Siegel auch schon vor Oktober 1792, noch unter kurfürstlicher Herrschaft, zum Einsatz kam oder womöglich sogar erst unmittelbar nach der Einnahme der Stadt durch die Franzosen angefertigt wurde, muss offen bleiben. Seit der Eroberung von Mainz durch Kurfürst Adolf von Nassau 1462 bis Mitte des 18. Jahrhunderts verfügte der Mainzer Stadtrat jedenfalls über kein eigenes Siegel mehr. Erstmals angekündigt wird ein „gewöhnliche[s] StadtSignet“ in einer von Vizedom, Gewaltboten und Stadtrat 1772 ausgestellten Urkunde,15 an der das Siegel jedoch fehlt. Hinsichtlich der Schuldverschreibungen muss man wissen, dass diese unter kurfürstlicher Herrschaft – vor der französischen Okkupation 1792 – mit dem Siegel der für die Stadt Mainz zuständigen kurfürstlichen Verwaltungsbehörde, dem Vizedomamt, beglaubigt wurden, das unter dem Kurhut einen Wappenschild mit dem erzstiftischen Einzelrad präsentierte. Strecker hat deswegen zu recht gefragt, ob „die Republikaner kein Abzeichen der Tyrannei gebrauchen“ wollten, als sie auf ein Petschaft mit den kommunalen Insignien zurückgriffen. Nach der Wiedereroberung der Stadt im Sommer 1793 „verschwand“ dieses städtische Siegel jedenfalls und wurde von einem neuen Siegel des Vizedomamts abgelöst: Dieses zeigte im Gegensatz zu vorher unter dem Kurhut nicht mehr nur das Rad des Landesherren, sondern auch das städtische Doppelrad und firmierte nun als Gemeinschaftssiegel von Vizedomamt und Stadtrat. Offensichtlich war die kurfürstliche Herrschaft unter dem Eindruck der zurückliegenden Ereignisse zumindest auf der symbolischen Ebene zu diesem Zugeständnis einer größeren Partizipation der Kommune bereit (Abb. 4a u. b).

Abb. 3a und b: Bescheinigung der Munizipalität Mainz über die Seuchenfreiheit der Stadt, 12. Dezember 1792, mit Detailaufnahme vom Siegelabdruck. Die Siegelumschrift lautet: „SIGILLVM CONS(ilii) POLIT(ici) ET SANIT(atis) MOG(vntini)“.



Abb. 4a: Von der Munizipalität ausgestellter und mit dem Doppelrad-Siegel der kurfürstlichen Stadtverwaltung beglaubigter Schuldschein, 28. Januar 1793.


Abb. 4b: Das von der Munizipalität bis Mitte Februar 1793 verwendete Siegel mit der Umschrift: „RATHS INSIGILL DER CHURFURSTL RESIDENTZSTADT MAINTZ“.

Die mit dem Doppelrad-Siegel beglaubigten Scheine wurden an Bürger ausgegeben, die wegen der schwierigen Versorgungslage Geld für die Errichtung eines Getreidemagazins zur Verfügung gestellt hatten. Die Freiheitsallegorie der Revolution, die in die Siegel der umliegenden Gemeinden, wie z. B. in das der Gemeinde Weisenau (Abb. 5), Einzug hielt, hat also zunächst nicht das Doppelrad der kurfürstlichen Mainzer Stadtverwaltung verdrängt.16 Erst seit Mitte Februar 1793 verwendete die Munizipalität ein neues, den Herrschaftsumbruch bezeugendes Siegel mit der Freiheitsgöttin und der Umschrift „Freiheit – Gleichheit“ (Abb. 6).


Abb. 5: Abdruck vom Siegelstempel der revolutionären „GEMEINDE WEISENAU“ mit der Inschrift im Abschnitt: „REPUBLIQUE FRANCOISE“.


Abb. 6: Siegel der Mainzer Munizipalität. Der Wachsabdruck hat sich auf einer von der Munizipalität im Mai 1793 ausgestellten Heiratsurkunde erhalten, die dem unter erneuter französischer Herrschaft 1798 angelegten Heiratsregister beigebunden ist.

In gewisser Weise spiegelt dieser Befund die Art und Weise wider, wie der französische Oberbefehlshaber General Adam Philippe Custine sich gegenüber dem besetzten Mainz und speziell gegenüber den alten Behörden verhielt. Mit seiner Revolutionsarmee hatte er am 21. Oktober 1792 die Hauptstadt des Mainzer Kurfürsten kampflos und nach einer zuvor mit den kurfürstlichen Militärs ausgehandelten Kapitulation eingenommen. Kurfürst Friedrich Karl Joseph von Erthal war mit den meisten Domherren und Adligen längst aus Mainz geflohen. Ein Großteil der Verwaltung war jedoch geblieben und harrte mit der Bürgerschaft aus, im Ungewissen darüber, was die dritte französische Besetzung von Mainz seit 1644 bringen würde. Dass sie nicht eine übliche Besatzungsherrschaft zu erwarten hatten, machte Custine den Mainzern wenige Tage nach der Übergabe der Stadt deutlich: Er präsentierte sich als Vertreter eines neuen Systems, das – jedenfalls nach seinem eigenen Anspruch – auf den Ideen der Freiheit beruhte und Zwang ablehnte. In einer Proklamation erklärte Custine, dass die Mainzer selbst über ihr Schicksal, d. h. über ihre künftige Verfassung bestimmen könnten: „Selbst dann, wenn Ihr die Sklaverei den Wohltaten vorziehen würdet, mit welchen die Freiheit Euch winkt, bleibt es Euch überlassen, zu bestimmen, welcher Despot Euch Eure Fesseln zurückgeben soll“. Damit verband er das Versprechen, „alle konstituierten Gewalten“ – also die alten vom Mainzer Kurfürsten und den anderen Landesherren eingesetzten Behörden – so lange zu „beschützen“, bis „ein freier Wunsch den Willen der Bürger, Beisassen und Bauern in den Städten und Ortschaften des Erzbistums Mainz, der Bistümer Worms und Speyer […] wird bekannt gemacht haben“.17 Bis zu einer Neuwahl sollten die alten Behörden also weiter amtieren. Custine hoffte, diese dadurch zur Mitarbeit bei der Revolutionierung der Gesellschaft gewinnen zu können.

Nach der Übernahme der Stadt durch Custine machten die alte kurfürstliche Landesregierung, aber auch der Mainzer Stadtrat, das Mainzer Stadtgericht und selbst die oberste Finanzbehörde, die Hofkammer, den Regimewechsel dadurch kenntlich, dass sie ihren Behördennamen durch das Attribut „provisorisch beibehalten“ ergänzten (Abb. 7).

Dass Custine die alten Behörden vorläufig im Dienst beließ, hatte natürlich auch ganz pragmatische Gründe. Man wollte nicht ein gewisses Maß an Ordnung aufgeben. Nur eine äußerliche Anpassung bedeutete es, dass schon nach wenigen Tagen die für die besetzten Gebiete zuständige kurfürstliche Regierung im Namen der „Fränkischen Nation“ zeichnen musste (Abb. 8); der personell unverändert gebliebene Stadtrat nannte sich nun Munizipalität18 (Abb. 9). Rasch musste Custine jedoch die Erfahrung machen, dass die Behörden mit ihm wie mit einem Eroberer zusammenarbeiteten und nicht wie mit einem „Befreier“. Sie verhielten sich zwar loyal, sorgten für Ruhe und Ordnung und organisierten bereitwillig den Besatzungsalltag für ihn, übernahmen aber nicht das politische Programm der Eroberer. Dass die Behörden von sich aus den Bruch mit dem alten Regime vollzogen, war nicht zu erwarten. Deshalb zog Custine nach einem Monat die Konsequenzen. Am 19. November löste er die für das gesamte eroberte Gebiet zwischen Landau und Bingen zuständige Landesregierung durch die sog. Allgemeine Administration ab (Abb. 10). An die Spitze setzte er mit Anton Joseph Dorsch – einem ehemaligen Mainzer Priester und Theologieprofessor, der 1791 ins revolutionäre Straßburg emigriert war – einen überzeugten Jakobiner; immerhin verfügte Dorsch aufgrund seiner Mitarbeit in der Verwaltung des Departements Bas Rhin über einige administrative Erfahrungen. Solche konnte der Vizepräsident, Georg Forster, nicht vorweisen; der Weltumsegler und kurfürstliche Universitätsbibliothekar verdankte seine Stelle vielmehr seiner weit über Mainz ausstrahlenden literarischen Prominenz; vor allem mit seiner Person als „Aushängeschild“ sollte für die Mainzer Republik geworben werden.19 Ebenfalls von Custine umgewandelt wurde der alte Stadtrat. Nach französischem Vorbild gliederte er sich nun in zwei Räte auf, denen ein Maire und, als dessen Stellvertreter, ein Gemeindeprokurator vorstanden. Damit besaß die Bürgerschaft im Übrigen erstmals seit 1462 wieder einen – wenn auch nicht von ihr gewählten – Bürgermeister. Beide Ämter übertrug Custine Personen, die früh dem Mainzer Jakobinerklub beigetreten waren: Maire wurde der bereits oben genannte Richard Joseph Ratzen, ein kurfürstlicher Jurist; Gemeindeprokurator wurde der bei den Zünften beliebte kurfürstliche Polizeikommissar Franz Konrad Macke, der sich nun Macké nannte. Alle übrigen Behörden ließ Custine jedoch unangetastet: Die Finanzkammer arbeitete noch bis Anfang Januar 179320, das Stadtgericht wurde sogar erst durch ein Dekret des Nationalkonvents am 23. März 1793 aufgehoben.21 Dazu passt auch, dass die alten Siegel teilweise weiter in Gebrauch blieben, wie die gezeigten Beispiele demonstrieren.


Abb. 7: Schreiben der „provisorisch beibehaltenen Regierung“ an das Mainzer Vizedomamt vom 17. November 1792 (Detail unten).


Abb. 8: Protokollextrakt des „provisorisch beibehaltenen Stadtgerichts“ vom 21. März 1793 (Detail unten).


Abb. 9: Unterschrift und Siegel des „provisorisch beibehaltenen Mainzer Stadtrats“. Ausschnitt aus einem in Französisch abgefassten Schreiben vom 11. November 1792.


Abb. 10: Siegel der von Custine eingesetzten Allgemeinen Administration.

Custines Plan, durch die personellen Änderungen in der Verwaltung auch politisch zuverlässige Beamte gewinnen zu können, ging jedoch nur zum Teil auf. Während einzelne ehemals kurfürstliche Beamte wie Ratzen und Macké sich in ihrem Amt im Sinne der Revolution betätigten, ließen sich andere nicht überzeugen. Wie der kurfürstliche Hofrat Johann Georg Reuter später gegenüber dem Kurfürsten erklärte, hatte er die Stelle in der Allgemeinen Administration nur übernommen, um die Geschäfte „unter Genehmigung des Überwinders“, also mit Erlaubnis Custines, „zum Besten der unglücklichen Stadt und Gegend, jedoch ohne Leistung neuer Pflichten fortzusetzen“, d. h. unbeschadet seiner Loyalität gegenüber dem Kurfürsten.22 Dass Custine den bewährten und integren Reuter in die Administration berufen hatte, um eine gewisse Kontinuität in der Verwaltung zu wahren, war von einigen Klubmitgliedern massiv kritisiert, von anderen aber mit dem Selbstbestimmungsrecht verteidigt worden. So hieß es im prorevolutionären „Bürgerfreund“, einer vom Mathematikprofessor Mathias Metternich herausgegebenen neuen Mainzer Zeitung, dazu apologetisch: „die Bestellung der obrigkeitlichen Stellen“ müsse „noch nach dem alten Systeme geschehen“, denn Mainz habe „sich noch nicht frei erklärt“.23 Doch das von Custine propagierte Selbstbestimmungsrecht entwickelte sich zunehmend zu einer Belastung für die Revolutionäre, denn alle ihre Maßnahmen wurden daran gemessen. So rechtfertigte der Munizipale (und ehemalige kurfürstliche Gewaltbote) Heinrich Nikolas Wolff seine Weigerung, sich zu den Grundsätzen von Freiheit und Gleichheit zu bekennen, mit dem Argument, er habe sein Amt nur unter der „Voraussetzung“ übernommen, dass „die Bürgerschaft die fränkische Konstitution annehmen“ werde.24 Anfang Januar 1793 wurde der Druck auf diese antirevolutionären Beamten jedoch so groß, dass die meisten zurücktraten. Dabei spielte eine wichtige Rolle, dass die rechtsrheinisch neugebildete kurfürstliche Landesregierung kurz zuvor in einem Rundschreiben alle im Dienst des Feindes stehenden Beamten zur Kündigung aufgefordert hatte. Eine unpolitische Amtsführung im Dienst der neuen Machthaber war seit Januar 1793 aber auch deswegen nicht mehr möglich, weil in der französischen Politik eine Änderung eingetreten war. Unter dem Eindruck der sich verschärfenden Kriegslage – das von den Franzosen besetzte Frankfurt war Anfang Dezember von den Reichstruppen zurückerobert worden – und angesichts des Widerstands in den besetzten Gebieten hatte der Pariser Nationalkonvent sich radikalisiert: Ein am 15. Dezember 1792 beschlossenes Gesetz bestimmte, in den besetzten Gebieten umgehend alle Institutionen des alten Regimes abzuschaffen. Unverzüglich waren neue Gemeinde- und Stadtvorstände sowie ein Parlament zu wählen. Wer sich dem entgegen stellte, sollte als Feind Frankreichs gelten. Das Gesetz bedeutete, um Franz Dumont zu zitieren, eine „radikale Wende“:25 Hatten Custine und die Mainzer Jakobiner sich bis dahin vom Prinzip leiten lassen, den Befreiten die Freiheit nicht aufzuoktroyieren, so galt ab sofort, die Revolutionierung auch gegen den Willen der Befreiten durchzuführen. Vom französischen Nationalkonvent und dessen Exekutivrat entsandte Kommissare sollten für die Umsetzung sorgen. Sie avancierten in der Folge zu den maßgeblichen Entscheidungsträgern der Mainzer Republik und entmachteten Custine weitgehend. Der Herrschaftswechsel, der unter Custine noch von einer größeren Rücksichtnahme geprägt war, wurde nun forciert, beseitigte allerdings auch jetzt nicht alle alten Institutionen.

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22 декабря 2023
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473 стр. 122 иллюстрации
ISBN:
9783961760978
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