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Ansgar Sadeghi: Ohne Volldampf in die Zukunft

Anna stand an Bord der Steampunk Queen und blickte auf die demonstrierenden Faschisten im Hafen in Genua. Einer von ihnen schaute ihr direkt ins Gesicht und machte eine obszöne Geste. Anna kannte so etwas. Wie fast alle Frauen. Und wie für fast alle Frauen mit dunkelbrauner Haut gehörte der Hass von Faschisten und Rassisten für sie zum Alltag.

»Was für ein Pack«, sagte Anna.

»Widerlich«, pflichtete Odilius ihr bei. Der Androide begleitete sie auf der Reise. Lady Summer hatte sich gefreut, beide an Bord zu begrüßen. Odilius reiste als zahlender Gast. Anna verdiente sich Kabine und Honorar als Sängerin in den Abendshows. Der plötzliche Tod von Lady Summer hatte beide schockiert.

»Darf ich einen Augenblick um Ihre Aufmerksamkeit bitten?« Die Stimme gehörte Robert Camford, dem Sicherheitschef des Schiffs. Gut sah er aus, fand Anna, ein adretter Mann in Uniform, mit markantem Kinn und wachen Augen, denen – so schien es zumindest – nichts entging.

»Wie sie sehen, herrscht in Genua aktuell eine angespannte Situation. Wir haben uns deshalb entschlossen, den heutigen Ausflug ausfallen zu lassen. Ich möchte mich hiermit im Namen der gesamten Mannschaft dafür entschuldigen und hoffe, dass Sie uns die Planänderung vergeben.«

»Wie könnte man einer so charmant vorgetragenen Bitte um Vergebung widerstehen«, antwortete Anna. Einige schmunzelten. Niemand widersprach.

»Vielen Dank für das Verständnis«, erwiderte Camford und nickte Anna freundlich zu.

»Ich hoffe sehr, diese Faschistenbrut breitet sich nicht noch weiter aus«, sagte jemand neben Anna und gewann ihre Aufmerksamkeit. Noch ein schöner Mann, dachte sie. Einer mit wilder Mähne und sympathischem Lächeln.

»Gestatten, Heinrich Kaltbach, Archäologe auf Erholungsreise«, stellte sich der Mann Anna vor. Ihm gefiel die kleine Frau mit der großen Persönlichkeit.

»Es freut mich, Sie kennenzulernen, Heinrich Kaltbach, Archäologe auf Erholungsreise«, erwiderte Anna lächelnd. Odilius kannte dieses Lächeln. Anna mochte den Mann. Der Androide spürte einen Stich im künstlichen Herzen.

Den weiteren Tag verbrachten Anna und er in seiner Kabine über den Plänen ihres Projekts. Abends absolvierte Anna ihren zweiten Auftritt auf der Reise. Ihre Stimme klang mal verführerisch, mal traurig, mal fröhlich. Sie eröffnete Anna Chancen, hatte sie aus den USA nach Frankreich und in die Schweiz gebracht, bevor Berlin ihre Heimat wurde. Ihr Gesang führte sie aus der Armut ihrer Kindheit in eine Welt voll Macht und Reichtum. Sie blieb hier Teil des Personals, aber sie genoss Privilegien. Mit sechsunddreißig träumte sie nicht mehr von weltweitem Ruhm als Gesangsstar. Aber diverse Shows buchten sie regelmäßig und sie genoss die Gunst treuer Fans.

Nach dem letzten Lied und Applaus nahm Anna am Tisch bei Odilius Platz. Heinrich Kaltbach setzte sich später auf den Stuhl neben ihr. Anschließend prüften Anna und er mit Worten, Gesten und Neckereien ihre Wirkung aufeinander. Sie war groß. Und beide hatten ihren Spaß. Noch später gesellte sich ein weiterer Mann an den Tisch, ein kantiger Mensch mit buschigen Augenbrauen. Anna empfand sie als das faszinierendste Merkmal eines ansonsten uninteressanten Äußeren.

»Sind sie doch dieser Erfinder, der die Kohleindustrie vernichten will«, provozierte er mit Blick auf Odilius.

»Sie irren sich«, erwiderte der Androide, »ich vernichte nicht. Ich baue Maschinen.«

»Ja«, schnaubte der Mann verächtlich, »Sie wollen Maschinen bauen, die fast keine Kohle mehr benötigen. Viele werden ihre Arbeit verlieren. Die Welt ist gut, wie sie ist. Sie braucht keine Verrückten wie Sie.«

Odilius setzte zu einer Antwort an, aber Anna kam ihm zuvor. »Doch, genau die braucht sie. Nicht Menschen wie Sie, die Stillstand bevorzugen.«

»Was versteht jemand wie Sie davon?«, erwiderte der Mann erbost und versuchte, seinen Ärger mit Scotch herunterzuspülen.

Anna wartete ruhig das Ende der theatralischen Geste ab. »Wen meinen Sie mit ›jemand wie Sie‹?«, fragte sie. »Mich als Person? Alle Menschen mit schwarzer Hautfarbe? Sängerinnen? Haben Sie etwas gegen Frauen oder gegen Frauen mit dunkler Haut?«

Einen Augenblick lang sah es so aus, als wollte er sie schlagen.»Geben Sie gut auf sich acht«, giftete er. »Irgendwann fliegen Ihnen solche Worte um die Ohren.«

»Das glaube ich nicht«, erwiderte Anna gelassen.

»Sie sollten sich schämen, eine Lady derart zu bedrohen«, entrüstete sich Odilius.

»Lady? Wohl kaum!«

Ein Hieb, den Anna äußerlich unbeeindruckt mit Ignoranz parierte. Aber er verletzte sie. Nicht sehr, doch spürbar.

»Jetzt reicht es aber!«, rief Heinrich Kaltbach, sprang wütend von seinem Stuhl auf und näherte sich dem Gesicht des Mannes bis auf wenige Zentimeter. »Sie gehen jetzt besser!«

Einen Moment lang drohte ein gewaltsamer Ausbruch. Dann entfernte sich der Mann. Schweigend.

»Danke, ihr zwei.« Anna sah Odilius und Heinrich nacheinander an, aber nur beim Archäologen glänzten ihre Augen. Odilius wusste das zu deuten.

Odilius Terstedt galt als kleiner Erfinder, der möglicherweise an einer interessanten Sache arbeitete. In Berlin kannten ihn einige, im übrigen Deutschland wenige, außerhalb Deutschlands noch weniger Menschen. Odilius war ein von Professor Egidius Daniel konstruierter Android. Egidius Daniel, zeit seines Lebens ein reicher Exzentriker, Genie, ein geehrter Gelehrter und Humanist, liebte es, künstliche Wesen zu bauen: mechanische Vögel, Katzen, Hunde mit eigener Persönlichkeit.

Odilius war sein Meisterwerk. Ein künstlicher Mensch mit Bernsteinaugen und einem Gesicht, dem man das Künstliche nicht sofort anmerkte. Sein Androide konnte nichts, was Geschäftemacher an solchen Geschöpfen schätzen. Er kämpfte nicht wie ein Kriegsroboter, arbeitete nicht schnell wie ein Fabrikandroid oder erfüllte Wünsche wie ein serviler Maschinenbutler. Odilius konstruierte gerne, allzu oft jedoch ohne Interesse an der Entwicklung verwertbarer Maschinen. Egidius Daniel hatte ihm einen Sinn für Schönheit verliehen, Freude an Musik, Poesie und Philosophie, an der Vielfalt der Farben und Formen. Und so beherrschte Odilius nicht nur Logik, Mathematik und Mechanik. Er las Novellen, bestaunte die Gemälde alter Meister und die Kunst junger Dadaisten in Museen und Galerien, liebte die Natur, Vögel, Bäume und Blumen, hörte Jazz und Blues ebenso wie klassische Musik. Professor Daniel liebte seinen Androiden. Und Odilius Terstedt liebte Professor Daniel. Dieser Mensch war wie ein Vater für ihn.

Nach dem Tod des Professors trauerte Odilius lange. Er besaß ein ausgeprägtes Gefühlsleben mit Trauer, purer Freude, Melancholie. Er fühlte sich als Mensch, obwohl ihm einiges fehlte, etwa ein Geruchssinn oder Sexualorgane. Ihn faszinierte die Menschheit. Zugleich fürchtete er sie. Menschen waren oft respektlos und verletzend. Die meisten betrachteten Androiden als Spielzeug, minderwertige Arbeitssklaven oder kalte Rechenmaschinen auf künstlichen Beinen. Zugleich fürchteten einige, dass die Kunstmenschen sich erheben könnten, um zu herrschen. Menschen waren oft widersprüchlich, fand Odilius. Nicht zuletzt aus diesem Grund hielt er manches vor ihnen geheim.

Außer Anna wusste niemand, dass Odilius Gedanken lesen konnte. Zumindest manchmal. Er verfügte nicht bewusst über diese Gabe. Sie überfiel ihn bisweilen. Dann öffneten sich Gedanken einzelner Menschen für ihn wie die Seiten eines Buchs, während andere Köpfe ihm verschlossen blieben. Darüber hinaus beherrschte Odilius bisweilen die Kommunikation mit einfachen Maschinen, die keine Ähnlichkeit mit einer humanen Lebensform aufwiesen. Er entdeckte verborgene Defekte in Automobilen schneller als jeder Mensch. Er empfing Informationen von großen Dampfmaschinen und kleinen Grammofonen. Und in einigen Maschinen erspürte er gar eine Art von Leben, wo Menschen nur totes Metall sahen. Gern hätte Odilius diese Gaben weiterentwickelt. Der Wunsch war fast so groß wie der, ein echter Mensch zu sein, einer aus Fleisch und Blut, mit Sehnen und Adern.

Von Professor Daniels Geschöpfen blieben nach seinem Tod nur Odilius und Piep übrig, ein kleiner mechanischer Vogel. Odilius gehörte zu den Erben des Professors und erhielt einen Anteil, der ihm eine sorgenfreie, weitgehend selbstbestimmte Existenz sicherte. Die einzige Auflage war, sich um Piep zu kümmern, was Odilius gerne tat. Er mochte Piep. Der Metallvogel saß oft auf seiner Schulter, flog manchmal vor ihm her und blieb meistens in seiner Nähe. Er konnte einfache Melodien singen, aber nicht viel mehr.

Odilius wohnte in Berlin. Er besaß eine Wohnung in einem nicht vornehmen, aber auch nicht heruntergekommenen Teil der Stadt. Gern trug er aktuelle Mode, etwa die beliebten dreiknöpfigen Sakkoanzüge. In Berlins Kulturszene fühlte er sich zu Hause, spielte bisweilen Kontrabass in Clubs, aber nicht sehr gut. Im Gegensatz zu anderen Androiden trug Odilius eine kleine Herkzwergmaschine in sich: klein wie ein winziger Zwerg, der kaum etwas isst, und stark wie Herkules. Egidius Daniel hatte ihr den Namen verliehen: »Herk« für Herkules und »Zwerg« für Zwerg. Herkzwerg: Odilius gefiel das. Es klang wie ein einfacher, aber guter Rhythmus, wenn man es richtig sprach. Die Herkzwergmaschine benötigte täglich nur ein einziges Stück glühende Kohle. Der Androide erhitzte es jeden Morgen in einem Spezialgerät und setzte es mit einer Zange über eine Klappe in die Brust ein. Dampf stieß er durch die Nase aus. In Gesellschaft sammelte er ihn und entdampfte sich nur stündlich. Das reichte. Die Maschine besaß Potenzial. In vergrößerter, weiterentwickelter Form könnte sie vielleicht irgendwann Flugzeuge, Schiffe, riesige Turbinen betreiben und dabei kaum Brennstoff benötigen.

Odilius besaß unvollständige Pläne für die Maschine in seinem Korpus. Egidius Daniel hatte sie ihm gegeben. Das verheimlichte Odilius den meisten. Er misstraute denen, die nach den Dokumenten fragten. Es waren keine Freunde, fand er, nicht einmal gute Menschen. Sie waren gierig. Einige hätten den Androiden gern zerlegt, um seine Anatomie zu entschlüsseln und die Maschine zu bergen. Andere fürchteten, dass eine weiterentwickelte Herkzwergmaschine irgendwann das Ende guter Geschäfte mit Kohle einläuten würde. Sie wollten weitere Forschungen verhindern.

Odilius hatte immer vor, weiter am Herkzwergantrieb zu arbeiten. Aber erst mit Anna, die er in einem Schweizer Varieté kennengelernt hatte, setzte er dieses Vorhaben um. Anna. Eine schöne Frau, klug, impulsiv, gesegnet mit einer faszinierenden Doppelbegabung. Sie überzeugte ebenso mit ihrem Gesang wie mit dem kühlen Verstand einer Ingenieurin. Gefördert wurde aber nur eines der beiden Talente. Die Hobbyingenieurin kümmerte sich mühsam selbst um Bildung. Sie las Bücher über Physik, Ingenieurskunst, Mechanik. Sie konstruierte kleinere Maschinen und entwarf Skizzen für größere. Anna und Odilius hatten mit der gemeinsamen Arbeit am Antrieb bereits in der Schweiz begonnen. Ab 1920 führten sie sie in Berlin fort.

Anna war voller Ideen. Ein Glücksfall. Bereits im ersten Jahr der Zusammenarbeit hatte Odilius kleine kommerzielle Erfolge mit funktionierenden Erfindungen verbucht. Viele basierten auf leistungsschwachen Versionen der Herkzwergmaschine: etwa ein dampfbetriebener Lockenstab und eine ebenso dampfgetriebene Trommelmaschine für Jazzmusiker. Aber solche Kleinigkeiten befriedigten Anna und Odilius nicht lang. Und so arbeiteten beide wie besessen, um leistungsstärkere Varianten für große Apparaturen und Fahrzeuge zu bauen. Vielleicht irgendwann mit Erfolg.

»Ich ziehe mich jetzt zurück«, sagte Odilius nach dem Streit am Abend zu Anna, Heinrich und den anderen am Tisch.

»Jetzt schon?«, fragte Anna erstaunt.

»Ja. Ich möchte alleine sein«, erwiderte Odilius.

Als er aufstand, lief Anna hinter ihm her. Auf dem Flur holte sie ihn ein. »Was ist los mit dir?«, fragte sie.

»Du bist verliebt. Nicht wahr?«

»Was?«

»In den Archäologen. Diesen Kaltbach.«

»Unsinn.«

»Anna. Ich sehe es, wenn eine Frau verliebt ist. Besonders, wenn ich sie so gut kenne wie dich.«

»Entschuldige bitte«, antwortete Anna giftig. »Aber mir ist gerade nicht danach, mit dir zu diskutieren, in wen ich verliebt bin.«

»Ich möchte, dass es dir gut geht.«

»Mir geht es gut«, sagte Anna kühl.

Odilius nickte. »Dann ist alles in Ordnung«, erwiderte er mit beleidigtem Unterton und ging, während sich Piep auf seiner Schulter mit dem Schnabel putzte, obwohl es nichts zu putzen gab.

Odilius begab sich mit Piep an Deck. Dort erwartete ihn eine Nacht mit einem Himmel voller Sterne. Reizvoll für Glückliche. Odilius empfand ihn als kalt. Irgendwann glaubte er, jemand beobachtete ihn. Vor einigen Monaten hatte er erstmals eine Drohung erhalten. Anonym. Er solle seine Forschungen aufgeben. Ansonsten werde man ihm die Gliedmaßen brechen, seinen Brustkorb öffnen, mit Benzin füllen und anzünden. Damals prallten die grässlichen Worte am Androiden ab. Mit Anna fühlte er sich fast unverwundbar. Aber jetzt gab es zu viele Schatten auf dem Schiff. Odilius war froh, als er die Türe seiner Kabine hinter sich schloss.

Natürlich schlief Anna in jener Nacht mit Heinrich Kaltbach. Sie liebte ihre Freiheit, die sexuelle eingeschlossen. Und sie hatte bereits vor der Reise viele Gelegenheiten genutzt, sie auszuleben. Berlins Kunstszene war dafür ein gutes Umfeld. Die Stadt befand sich nach Jahren des Krieges und der Unruhen in Aufbruchsstimmung. Anna genoss die Abkehr von bürgerlichen Zwängen, aber sie spürte zugleich wachsenden Hass auf vieles, was sie liebte. Ihre Welt, ihre Ansichten und Freiheiten waren den Faschisten so zuwider wie die Faschisten ihr.

In Annas aktueller Stimmung mischten sich Lebenslust, Sorge und Trauer. Lady Summers Tod setzte ihr zu. Sie hatte eine gute Bekannte verloren, eine bewundernswerte Frau. Zudem erschütterte der plötzliche Tod der Lady Annas Glauben, dass die Steampunk Queen ein Stück heiler Welt in stürmischen Zeiten sei. Dennoch trübte das Annas Freude auf die Reise nicht völlig. Sie begeisterte sich für die Auftriebstechnik des Schiffes. Sie sehnte sich nach Meer, Stränden, fremden Speisen und Kulturen. Viele Menschen an Bord empfand sie als spannend.

Zwar gab es reiche Langweiler, aber auch ebenso reiche, gebildete Mäzene, diverse Erfinder und Freigeister beiderlei Geschlechts, witzige Kellner sowie nette Arbeiter in der Crew: voll Herzlichkeit und rauer Geschichten. Geschichten gab es sehr viele an Bord. Lady Summers Tod heizte die Gerüchteküche an. Als sehr abstrus empfand Anna die Theorie einer Frau, die mit lauter Stimme davon sprach, dass die Steampunk Queen vom Teufel besessen sei. »Auf dem Schiff befinden sich sechundsechzig Passagiere«, erläuterte sie. »Die Besatzung besteht aus vierundzwanzig Menschen. Quersumme: sechs. Das ergibt drei Mal die Sechs, die Zahl Satans«, schloss sie messerscharf.

Einige übernahmen die verrückte Erzählung, aber es waren nicht viele. Und so vollführte niemand einen Exorzismus an Bord. Andere Theorien entfalteten eine gefährlichere Dynamik. Sie verurteilten bei dünner Faktenlage ganze Menschengruppen. Die Türken seien schuld am Tod der Lady, hieß es. Andere verdächtigten Chinesen, Illuminaten, kommunistische Weltverbesserer, Flapper, politisch agierende Feministinnen sowie … die Juden. Immer wieder. Besonders hasserfüllte Urteile galten den Juden. Und Anna fragte sich, was diese Hassenden wohl tun würden, wenn sie es nur könnten.

Heinrich Kaltbach gab ihr in diesen Momenten Halt. Sie war froh, den Mann an ihrer Seite zu haben. Odilius empfand sie als Freund. Ein Android ohne Sexualität. Anna wusste, dass er sie liebte. Allerdings war sie davon ausgegangen, dass die Dinge geklärt seien. Ein Irrtum. Heinrich Kaltbach könnte viel mehr als ein Freund sein: Geliebter, Liebhaber, Seelenverwandter wie Odilius, aber auf andere Art. Und so bedeutete die Nacht mit ihm für Anna mehr als erfüllte Sexualität.

Gemeinsam verließen Heinrich und sie ihre Kabine am nächsten Morgen als Paar. Odilius gratulierte, aber Anna bemerkte seinen Schmerz, als sie Arm in Arm mit Heinrich zum Frühstück erschien. Der Androide verabschiedete sich schnell.

»Wir sollten mehr Abstand voneinander halten«, sagte er später zu ihr.

Sie verstand. Und nickte. »Aber wir sind Freunde und arbeiten weiter zusammen?«

»Natürlich«, erwiderte Odilius. »Wir bleiben Freunde. Wir arbeiten an der Maschine.«

Anna lächelte. Odilius versuchte es ebenfalls. Es misslang.

Neapel wirkte auf Anna wie ein schöner Traum. Den auch hier Fuß fassenden Faschismus bemerkte sie nicht. Ein Ausflug brachte Heinrich und sie zum Vesuv und nach Pompeji. Sie scherzten. Sie lachten miteinander. Sie berührten sich. Wie schön. Anna vergaß für eine Weile alles, was ihr Leben erschwerte. Odilius hätte es zerrissen, wenn er sie und Heinrich gesehen hätte. Wie gut, dass er mit Piep in der Stadt geblieben war.

Odilius schaute sich Neapel an: das mächtige Castel Nuovo am Hafen, die Kathedrale der Stadt und den prachtvollen Palazzo Reale. Zu anderer Zeit hätte er all das genossen: die herausragende Architektur, Zeugnisse großer Geschichte, das pulsierende städtische Leben. Jetzt ließ es ihn nahezu kalt. Auch die Probleme mit der Forschung am Antrieb: uninteressant. Morddrohungen? Egal! Fast jedenfalls. Die Eifersucht quälte ihn. Das Schlimmste dabei: Er hätte Heinrich Kaltbach gern gehasst, aber er konnte es nicht. Wäre der Archäologe ein Angeber oder arroganter Snob gewesen, hätte Odilius Anna vor ihm gewarnt.

Aber Heinrich Kaltbach wirkte sympathisch, ein gut aussehender Mann. Odilius hätte ihn selbst unter anderen Umständen gerne als Freund gehabt. Er interessierte sich für Annas Musik und ihre Liebe zur Technik. Er bewunderte ihre Doppelbegabung. Sie lachte häufig in seiner Nähe. Odilius spürte ihre Freude und Zuversicht. Anna war glücklich. Odilius nicht. Mehr denn je fühlte er sich als unvollkommener Kunstmensch. Er liebte, ohne geliebt zu werden. Aber was wäre Liebe, wenn man geliebten Menschen nicht Glück gönnte, selbst wenn es einen traurig stimmte?

In Tunis kamen neue Reisende an Bord. Kurz streifte der Blick eines Mannes Odilius. Auf den Androiden wirkte es, als würde der Mensch ihn erkennen. Der Mann brachte diverse Geräte an Bord. Odilius sah eine Kamera, aber ansonsten nichts, was er einordnen konnte. Auf das offizielle Ausflugsprogramm verzichtete der Androide. Stattdessen erkundete er alleine die Reiseziele. An Bord lag er in der Sonne, pflegte Unterhaltungen und hatte eigentümliche Begegnungen. Insbesondere eine.

Irgendetwas zog ihn zu einem Hilfsmaschinisten namens Paul. Er war etwas Besonderes, das spürte Odilius, ein Mensch mit einem Splitter im Hirn, mit Schmerz in der Seele und dem Potenzial, Großes zu vollbringen. Jemand wie Anna. Fast.

Odilius las viel. Aus der Glasvitrine mit Leihbüchern lieh er ein Buch mit dem Titel »Ein Pfau am Nil« aus. Tedine Sanss hieß die Autorin. »Die Geschichte ist spannend«, erzählte ihm die Frau vom Schiffspersonal. »Mir kommt es vor, als sei das Buch eins aus der Zukunft.« Odilius las es und liebte es.

Vor der Ankunft der Steampunk Queen in Valletta traf der Androide abends auf Anna.

»Heinrich möchte uns beim Antrieb unterstützen», sagte sie erfreut. »Er kennt wichtige Leute an der Berliner Universität. Vielleicht bekommen wir Ausrüstung. Weitere Hilfe.«

»Du hast ihm von unseren Forschungen erzählt?«, fragte Odilius entrüstet.

»Ja. Habe ich. Und ihm zwei Blätter gezeigt, an denen ich gerade arbeite. Ich vertraue ihm.«

»Einfach so, ja? Du kennst ihn erst kurze Zeit.«

»Na und?«

»Wir müssen aufpassen! Wir haben Feinde.«

»Ja. Aber nicht Heinrich. Er ist auf unserer Seite.«

»Anna. Es sind UNSERE Forschungen. Und du erzählst einem Fremden davon.«

»Er ist kein Fremder für mich, Odilius. Und das weißt du. Übrigens möchte er, dass ich nach der Reise noch mit ihm in Alexandria bleibe.«

»Ach!«, erwiderte Odilius ironisch, »wie schön. Und was ist mit unseren Forschungen? Wie soll das weitergehen?«

»Wir machen weiter, sobald ich zurückkomme. Ich vernachlässige das nicht. Auch unsere Freundschaft nicht. Aber du hast mir nicht zu sagen, was ich zu tun habe!«

Ein Nadelstich. Noch einer.

»Ich werde euch Professor Daniels Aufzeichnungen nicht zur Verfügung stellen«, sagte Odilius.

»Dann muss es ohne gehen», erwiderte Anna. »Es ist eine große Chance. Die Arbeit wird schwieriger ohne die Unterlagen, aber ich habe vieles im Kopf.«

Wieder ein Nadelstich.

»Natürlich«, erwiderte Odilius und schluckte die erneute Demütigung wie eine Portion Schneckenschleim. »Schließlich sind es ja deine Forschungen.«

»Du redest schon wieder Unsinn.«

»Tue ich das?«, fragte Odilius. »Du bist nicht meine Assistentin, Anna. Das wissen wir beide. Ich bin der Assistent. Und wir geben vor, dass die Erfindungen meine sind, weil du dich bisher nicht aus der Deckung getraut hast.«

»Oh. Ich war also feige?«

»Ja, warst du!«, giftete Odilius.

»Das muss ich mir von dir nicht sagen lassen. – Du bist ein männlicher weißer Androide«, fuhr Anna wütend fort, »Was weißt du davon, wie man als Frau mit dunkler Haut durchs Leben geht? Was weißt du vom Mut, sich Menschen zu stellen, die immer noch denken, dass Frauen an den Herd und ins Bett gehören und Schwarze in die Wildnis?«

»Immerhin bin ich es, dem mit Mord gedroht wird, Anna. Nicht du.«

»Trotzdem hast du es einfacher, als ich es jemals haben werde.«

»Ach ja? Ich bin Androide und fühle wie ein Mensch, Anna. Und ich liebe wie ein Mann, ohne das ausleben zu können«, erwiderte Odilius. »Sag mir nicht, dass ich es einfach habe.«

»Einfacher habe ich gesagt, nicht einfach!«

»Vielleicht«, sagte Odilius, »aber trotzdem, An-na … du … egal …« Dann fiel ihm nichts mehr ein.

»Piep«, ergänzte Piep auf Odilius Schulter, bevor beide fortgingen.

Am Samstagmorgen fühlte Odilius sich erneut beobachtet: während des Frühstücks, an Deck des Schiffs, im Hafen von Valletta. Es waren stets Momente mit wechselnden Verdächtigen. Odilius misstraute dem Mann, der mit seinen Geräten an Bord gekommen war. Er misstraute einer Frau mit komischem Hut, einem älteren Adligen mit Gehstock, einem Mann mit einem auffälligen Arbeitermantel sowie diversen weiteren Gestalten. Alles Verdächtige aus Odilius Sicht. Manch einer hätte dem Androiden zumindest temporäre Paranoia unterstellt. Auch Anna.

»Jemand hat meine Kabine durchsucht. Die Skizzen vom Antrieb lagen anders im Schrank als zuvor«, erzählte er ihr.

»Bist du sicher?«

»Nicht völlig.«

»Mach dich nicht verrückt, Odilius«, sagte Anna. »Mach dir nicht immer so viele Sorgen.« Sie legte ihm die Hand auf die Schulter. Es sollte beruhigend wirken. Dann ließ sie ihn stehen und Odilius traf eine Entscheidung.

Am 30. Mai geschah etwas Merkwürdiges. Zwei Passagiere verschwanden aus ihren Kabinen und erneut kochte die Gerüchteküche. Einige berichteten von einem eigenartigen Leuchten, andere von einer Hitzewelle und irgendwer redete von Tentakeln. Niemand glaubte ihm.

Verlässlichere Auskünfte hätten diejenigen geben können, die die Kabine betreten hatten. Heinrich Kaltbach hatte sie als Erster erreicht. Da war ein Raum voll mit unbekannten Geräten, verbunden mit einem Artefakt. Schwärze bedeckte einen Teil der Kabinenwand und auf dem Tisch lag eine Zeichnung, die Heinrich sofort einsteckte. Schnell kamen weitere Menschen hinzu. Einer berührte das Artefakt und es zerfiel zu Staub.

Später zeigte Heinrich Anna die Zeichnung. Es war die Kopie einer technischen Skizze mit einem wichtigen Detail jenes Antriebs, an dem Anna mit Odilius arbeitete. Scheinbar hatte jemand mithilfe der Zeichnung etwas gebaut. Aber wer? Und was? Und warum?

»Ich muss mit Odilius sprechen«, rief Anna. Heinrich nickte.

Odilius erschrak ebenso wie sie. »Ich habe es dir gesagt«, rief er. »Jemand war in meiner Kabine.«

»Wir müssen jetzt zusammenhalten«, appellierte Anna, »du, Heinrich und ich.«

»Du verlangst viel, Anna«, entgegnete Odilius. Piep auf seiner Schulter sagte erneut »Piep« und trällerte eine kurze, traurige Melodie.

»Es muss sein«, fuhr Anna fort, »wir schaffen es nur gemeinsam.«

Odilius nickte. »Gut«, sagte er nur, »gut.«

Der erste Juni: Auf Kreta nahm Odilius am Ausflug zum Palast von Knossos teil, während Anna und Heinrich an Bord blieben. Sir Arthur John Evans führte die Reisegruppe durch die Ausgrabungsstätte. Odilius spielte den glücklichen Androiden, was ihm erstaunlich gut gelang. Er scherzte und unterhielt sich angeregt, unterdrückte dabei seinen Schmerz. Beim Ausflug sah er den Mann im Arbeitermantel wieder. Irgendwer hatte ihm erzählt, dieser Mensch suche jemanden namens Peter. Aber auch das war vielleicht nur ein Gerücht. Der Blick des Mannes verriet Widerwillen. Hasste er Androiden? Wieder etwas Rätselhaftes. Es gab so viel davon auf dieser Reise. Rätselhaftes, Schreckliches, Dramatisches: ein Überfall, eine knappe Rettung des Hilfsmaschinisten namens Paul, in die Odilius involviert war, ein toter Heizer und die seltsame Geschichte über die Verschwundenen … Die Reise der Steampunk Queen stand aus Sicht von Odilius unter keinem guten Stern.

An der Küste vor Zypern ließen sich Heinrich und Anna zum Aphroditefelsen fahren. Odilius und Piep gingen ebenfalls von Bord: als Teil einer Gruppe, die sich Paphos ansehen wollte. Später kehrten alle zurück zum Schiff: bis auf den Androiden und den Vogel. Ein junger Mann in gestreiftem Hemd, mit festen Schuhen und einem Knickerbocker übergab Anna den Brief. Er stammte von Odilius. Anna las ihn in den nächsten Tagen mehrfach. Den Inhalt hielt sie geheim, selbst vor Heinrich. Der erwies sich als einfühlsam genug, sie nicht weiter zu fragen.

Im Brief stand:

Meine liebe Anna,

wenn du diesen Brief liest, weißt du, dass ich auf Zypern geblieben bin. Suche mich bitte nicht! In den letzten Tagen habe ich viel nachgedacht, über uns, meine Rolle als Erfinder, der ich nie war, über Heinrich und dich. Natürlich erhaltet ihr ausnahmslos alle Aufzeichnungen von mir. Alle Originale befinden sich im Safe in meiner Berliner Wohnung. Einen Wohnungsschlüssel hast du ja. Der Safeschlüssel verbirgt sich hinter meinem Heiligtum. Ich denke, du weißt Bescheid. Lass dir nicht zu viel Zeit. Jemand hat versucht, bei mir einzubrechen, schrieben Freunde. Unsere Gegner schlafen nicht.

Manche hassen Frauen, die ihre Rechte einfordern. Oder dunkle Haut. Oder beides. Wieder andere missgönnen dir deine Talente oder möchten verhindern, dass eine neue Maschine vertraute Welten sterben lässt, in der Heizer Tonnen von Kohle in feurige Schlünde schaufeln. Du brauchst mich nicht, Anna. Du bist stark genug, auf dich aufzupassen. Und du hast mit Heinrich jemanden, der dich besser unterstützt, als ich es jemals gekonnt habe.

Ganz los wirst du Piep und mich aber nicht. Ich habe Freunde in Berlin, die euch helfen. Du wirst sie nicht sehen. Aber sie arbeiten für euch. Betrachte sie als deine Schutzengel. Vielleicht finden sie heraus, wer den Antrieb verhindern möchte und vor Morddrohungen nicht zurückschreckt. Ich glaube, ich habe diese Drohungen lange unterschätzt. Piep und ich werden regelmäßig informiert. Wir selbst würden aber nur eingreifen, wenn die Umstände es erfordern. Wir bleiben eine Weile fort. Vielleicht sehr lange. Ich muss schauen, welcher Platz mir auf dieser Welt bleibt. Ich bin kein Erfinder, bin kein Mensch, aber etwas Ähnliches, gebaut aus Kunststoff und Metall. Möglicherweise finde ich ja heraus, ob Blumen wachsen, wenn Metall und Kunststoff träumen. Vielleicht sehen wir uns eines Tages wieder. Du bist eine faszinierende Frau und warst einer der Hauptgründe, warum ich mit meiner Existenz als Android gehadert habe.

Beweise der Welt, was du kannst, Anna. Nutze deine neuen Möglichkeiten. Du bist eine gute Sängerin. Jetzt zeige allen, wie gut du als Konstrukteurin und Forscherin bist. Dir gebührt der kleine Ruhm, den ich bisher für uns erhalten habe. Dir wird der große gebühren, wenn der weiterentwickelte Antrieb eines Tages funktioniert. Ich glaube fest daran, dass dieser Tag kommen wird. Und es wird dein Tag sein. Viel Gutes wünschen dir (und Heinrich)

Odilius und Piep

PS: Sollte dich künftig irgendwer wegen deiner Hautfarbe, deiner Weiblichkeit oder aus einem anderen Grund beleidigen, tritt ihm dorthin, wo es besonders schmerzt. Betrachte dies bitte nicht als Aufruf zur Gewalt. Ich habe diesen Satz nie geschrieben.

Anna weinte, als sie den Brief erstmals las. Ein wenig hasste sie sich dafür, aber wirklich nur ein wenig. Was Odilius mit Heiligtum meinte, wusste sie sofort: das eingerahmte Foto, das ihn mit Egidius Daniel zeigte. Auf ihm saßen beide in einem Garten, vertieft in ein anregendes Gespräch. Die Szene gehörte zu den intensivsten Erinnerungen von Odilius an seinen Vater.

»Ich kann nicht mit dir in Alexandria bleiben«, sagte Anna zu Heinrich, als die Steampunk Queen auf die Stadt zusteuerte. »Ich muss zurück nach Berlin. Es ist wichtig. Leider«, fügte sie traurig hinzu.

Heinrich schaute sie eine Weile lang wortlos an. »Nein«, erwiderte er schließlich. »DU gehst nicht zurück nach Berlin.«

Anna hob die Augenbrauen, öffnete leicht den Mund, streckte die Hände ein wenig von sich, als wollte sie etwas wegschieben.

»WIR gehen nach Berlin. Falls du mich an deiner Seite duldest!«, fuhr er fort.

Anna entspannte sich. Lächelte. »Du fragst nicht ernsthaft, ob ich deine Begleitung akzeptiere?«

»Doch. Man weiß bei dir nie genau, was du möchtest«, erwiderte Heinrich und Annas Lächeln mündete in ein kurzes, aber erleichtertes Lachen.

»Herr Kaltbach«, sagte sie auf spaßige Art betont förmlich, »es wäre mir eine große Freude, wenn Sie mich nach Berlin begleiten würden.«

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